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Der Einkommensteuerbescheid 2022 vom 07.07.2023 in Gestalt der Ein-spruchsentscheidung vom 24.06.2024 wird dahin geändert, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit die Werbungskosten um 194 Tage x 7 km x 0,30 EUR erhöht werden. Die Berechnung der Steuer wird auf den Beklagten übertragen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
G r ü n d e :
2Die Beteiligten streiten darüber, ob die Aufwendungen des Klägers für Fahrten zu seiner Arbeitsstätte als Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes –EStG- oder als Aufwendungen für beruflich veranlasste Fahrten nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a EStG einzuordnen sind.
3Der Kläger war vom 16.08.2021 an als Mitarbeiter der X. tätig. § 2 Ziffer 4 des Vertrages bestimmte, dass der Kläger in der Niederlassung der X. in A. eingestellt werde; der jeweilige Sitz dieser Niederlassung gelte als erste Tätigkeitsstätte, sodass ein Fahrtkostenersatz nach § 6a nur in Betracht komme, als die Aufwendungen über die Fahrt zwischen Wohnort und Niederlassung hinausgingen. Nach § 2 Ziffer 4 des Mitarbeitervertrages setzt X. als Personaldienstleistungsunternehmen seine Mitarbeiter an wechselnden Einsatzstellen bei Kundenbetrieben ein; der Mitarbeiter erklärt sich damit einverstanden. Lt. § 3 Ziffer 1 des Mitarbeitervertrages wurde der Arbeitsvertrag „unbefristet abgeschlossen“. Die Einsatzeinweisung der X. vom 10.08.2021 (Nr. N01) bestimmte den Einsatzort des Klägers als Testkoordinator ab 16.08.2021 im Betrieb T. in H., Bayern; als geplante Dauer des Einsatzes war festgelegt „Ende offen“. Mit weiterer Einsatzeinweisung vom 02.05.2022 (Nr. N02) wurde die unmittelbare Fortsetzung des Einsatzes in dem Betrieb in H., Bayern, wieder mit „Ende offen“ bestimmt. Ausweislich einer Bescheinigung der X. vom 11.09.2023 stand der Kläger bis zum 03.02.2023 bei dem Kunden in H. im Einsatz; vom 04.02.2023 bis 29.05.2023 sei er projektlos gewesen, und seit dem 30.05.2023 sei er wieder in H. eingesetzt.
4Mit Bescheid vom 07.07.2023 zur Einkommensteuer 2022 berücksichtigte der Beklagte als Fahrtkosten des Klägers die Entfernungspauschale von 0,30 EUR an 194 Tagen für 7 km, d. h. der Entfernung zwischen der Zweitwohnung des Klägers und dem Sitz des Entleihers in H.. Zusätzlich erkannte er die erklärten Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung an.
5Den hiergegen gerichteten Einspruch mit dem Begehren, die Fahrtkosten als Reisekosten und somit mit einer Pauschale von 0,30 EUR nicht nur für die Entfernungskilometer, sondern für die gefahrenen Kilometer anzusetzen, wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 24.06.2024 als unbegründet zurück. Der Sitz des Entleihers in H. sei die sog. erste Tätigkeitsstätte des Klägers, weil er dort dauerhaft und somit unbefristet zugeordnet gewesen sei. Das ergebe sich aus der Formulierung in der Einsatzanweisung mit „Ende offen“.
6Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Klage. Entgegen der Klageschrift hält er zwischenzeitlich an seiner Rechtsauffassung, dass er am Ort der Niederlassung seines Arbeitsgebers X. in A. seine erste Tätigkeitsstätte gehabt habe, nicht mehr fest. Dennoch stelle nicht etwa die betriebliche Einrichtung des Entleihers in H. die erste Tätigkeitsstätte des Klägers dar; ungeachtet seiner Zuordnung dorthin fehle es an deren Dauerhaftigkeit i. S. von § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG. Denn die Überlassungsdauer sei nach § 1 Abs. 1b Satz 2 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) in der ab 01.04.2017 geltenden Fassung auf höchstens 18 Monate begrenzt; vorherige Überlassungen an denselben Entleiher seien nur dann einzubeziehen, wenn nicht zwischen den Einsätzen mehr als 3 Monate lägen. Zwar könne ein Tarifvertrag der Überlassungsbranche gemäß § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG eine abweichende Überlassungshöchstdauer regeln; das sei bei den hier einschlägigen Tarifverträgen jedoch nicht der Fall. Möglicherweise gebe das anhängige Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof –BFH- VI R 22/23 Aufschluss.
7Der Kläger beantragt sinngemäß,
8den Einkommensteuerbescheid 2022 vom 07.07.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 24.06.2024 dahin zu ändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit die Werbungskosten um 194 Tage x 7 km x 0,30 EUR erhöht werden.
9Der Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Der Beklagte wendet im Wesentlichen Folgendes ein: Es sei von der Rechtsprechung nicht eindeutig geklärt, ob die Neuregelung des § 1 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 1 Abs. 1b Satz 2 AÜG auch für das Steuerrecht insofern bindend sei, dass eine unbefristete Zuordnung zu einer ersten Tätigkeitsstätte nicht möglich sei. Das Revisionsverfahren VI R 22/23 könne ggf. Aufschluss gegeben; allerdings unterscheide sich der Sachverhalt insofern, als dort die Zuordnungsentscheidung bereits vor der Neuregelung des § 1 AÜG getroffen worden sei. Er selbst halte jedoch an der Auffassung fest, dass die Regelungen des § 1 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Abs. 1b AÜG für das Steuerrecht keine Wirkung entfalteten (vgl. BMF-Schreiben vom 25.11.2020, Bundessteuerblatt –BStBl- I 2020, 1228, Rz. 21).
12Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Steuerakten Bezug genommen.
13Die Klage ist begründet.
14Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO-; dem Kläger steht die geltend gemachte Fahrtkostenpauschale für die gefahrenen Kilometer (arbeitstäglich 2 x 7 km) zu.
15Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist zur Abgeltung der Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte für jeden Arbeitstag eine Entfernungspauschale von 0,30 EUR anzusetzen. Nach § 9 Abs. 4 EStG ist erste Tätigkeitsstätte die ortsfeste betriebliche Einrichtung eines Arbeitgebers oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist. Die Zuordnung wird durch die arbeits- oder dienstrechtlichen Festlegungen bestimmt. Von einer dauerhaften Zuordnung ist insbesondere auszugehen, wenn der Arbeitnehmer unbefristet, für die Dauer des Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus an einer solchen Tätigkeitsstätte tätig werden soll.
16Ein höherer Fahrtkostenersatz (Pauschale für gefahrene Kilometer statt lediglich die Entfernungskilometer) wird nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a EStG für beruflich veranlasste Fahrten angesetzt, die nicht Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte im Sinne des Absatzes 4 sind. Hat ein Arbeitnehmer keine erste Tätigkeitsstätte (§ 9 Absatz 4) und hat er nach den dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie den diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen zur Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit dauerhaft denselben Ort typischerweise arbeitstäglich aufzusuchen, gilt Absatz 1 Satz 3 Nummer 4 und Absatz 2 für die Fahrten von der Wohnung zu diesem Ort oder dem zur Wohnung nächstgelegenen Zugang zum Tätigkeitsgebiet entsprechend.
17Ein derartiger (höherer) Ansatz von Reisekosten steht dem Kläger vorliegend zu; die vom Beklagten angenommene Beschränkung auf die Entfernungspauschale ist nicht zutreffend.
18Für das Auffinden einer ersten Tätigkeitsstätte kommt es auf die arbeitsrechtliche Zuordnungsentscheidung des lohnsteuerrechtlichen Arbeitgebers und in Fällen der Arbeitnehmerüberlassung somit grundsätzlich nicht auf die Vereinbarungen zwischen dem Verleiher und dem Entleiher an. Es sind ausschließlich die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die Absprachen und Weisungen zwischen dem Verleiher und dem Arbeitnehmer maßgebend (BFH-Urteil vom 12.05.2022 – VI R 32/20, BStBl II 2023, 35).
19Für die Beurteilung, ob eine dauerhafte Zuordnung vorliegt, ist eine auf die Zukunft gerichtete Prognose (ex ante-Betrachtung) maßgebend. Denn die unterschiedliche steuerliche Berücksichtigung beruflich veranlasster Mobilitätskosten durch die Abzugsfähigkeit im Rahmen der Entfernungspauschale oder nach Reisekostengrundsätzen orientiert sich daran, ob ein Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, seine Wegekosten gering zu halten. Bei der Prognoseentscheidung der ex-ante Betrachtung bleibt es, bis sich deren Grundlagen oder Voraussetzungen ändern (Urteil des Finanzgerichts –FG- München vom 21.01.2023 – 6 K 1233/20, juris; Revision BFH VI R 22/23 – nur – zu der Frage einer Neubewertung der ex-ante-Beurteilung mit Einführung des AÜG n. F.).
20Vorliegend gilt seit dem 01.04.2017 die Regelung des § 1 Abs. 1b Satz 1 bis 3 AÜG n. F.. Während nach vorheriger Fassung die Überlassungsdauer zeitlich unbegrenzt war, darf nunmehr der Verleiher denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. In einem Tarifvertrag von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche kann eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden.
21Diese bereits bei Vertragsabschluss zwischen dem Kläger und seinem Arbeitgeber, dem Verleiher, geltende gesetzliche Bestimmung des AÜG führt hier zu einer zeitlichen Befristung der Zuordnung des Klägers zum Betrieb des Entleihers in H. (vom FG München a.a.O. offengelassen; dort Abschluss des Arbeitsvertrages vor der Änderung des AÜG). Bei der für die Beurteilung einer dauerhaften Zuordnung entscheidenden Sicht ex ante, bei Abschluss des Arbeitsvertrages, konnte sich der Kläger nicht darauf einstellen, unbefristet beim Entleiher in H. tätig zu sein, und war nicht in der Lage, hinsichtlich seiner Mobilitätskosten hinreichend zu planen.
22Die Begrenzung auf 18 aufeinander folgende Monate gemäß der Regelung des § 1 Abs. 1b AÜG führt hier zu einer befristeten Zuordnung, zumal die Zuordnung zur Tätigkeitsstätte beim Entleiher von dem Verleiher überwacht und die Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten auch vollzogen wird – wie die zeitlich nachfolgende nur vorübergehende Unterbrechung des Einsatzes nach Maßgabe der Bestimmungen des AÜG (Beginn eines neuen Überlassungszeitraums nach einer Unterbrechung von mehr als drei Monaten) bestätigt.
23Die zeitliche Begrenzung lt. AÜG auf 18 Monate verhindert trotz der Formulierung in der Einsatzanweisung mit „Ende offen“, dass sich der Kläger ex ante verlässlich auf seine Wegekosten einrichten und diese auf Dauer geringhalten kann. Das vom Gesetzgeber in § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG genannte Regelbeispiel, das eine bezifferte zeitliche Komponente enthält, benennt einen Zeitraum von 48 Monaten – somit eine ungleich längere Dauer als 18 Monate lt. AÜG. Zwar soll die Regelung des AÜG lt. o. a. BMF-Schreiben für das Steuerrecht keine Wirkung entfalten. Dieser Ansicht der Finanzverwaltung vermag sich das Gericht indes nicht anzuschließen. Wenn – zu Recht - maßgebend auf die Frage abgestellt wird, ob sich der Arbeitnehmer ex ante auf eine bestimmte Tätigkeitsstätte einstellen und seine Wegekosten geringhalten kann, können die gesetzlichen – also zwingenden – Vorschriften, die die Zuordnungsdauer begrenzen (hier das AÜG), nicht außer Acht gelassen werden; maßgebend für die steuerliche Beurteilung ist der gesamte Lebenssachverhalt. Ebenso stellt der BFH VI R 32/20 a.a.O. auf die arbeitsrechtlichen Regelungen des zu beurteilenden Arbeitsverhältnisses ab, zu denen auch das AÜG gehört.
24Eine Dauerhaftigkeit der Zuordnung zur Tätigkeitsstätte kann auch nicht hilfsweise auf die Regelung des § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG gestützt werden. Diese quantitativen Zuordnungskriterien bestimmen, dass bei fehlender oder nicht eindeutiger Festlegung die erste Tätigkeitsstätte diejenige Einrichtung ist, an der der Arbeitnehmer dauerhaft typischerweise arbeitstäglich tätig werden soll oder je Arbeitswoche zwei volle Arbeitstage oder mindestens ein Drittel seiner vereinbarten Arbeitszeit tätig werden soll. Auch insoweit fehlt es hier, bei einer in die Zukunft gerichteten Prognose, an der ebenfalls erforderlichen Dauerhaftigkeit des Einsatzes des Klägers.
25Dass im Ergebnis –wie vom Beklagten eingewandt – seit der Geltung des AÜG n. F. eine unbefristete Zuordnung nach § 9 Abs. 4 Satz 3, 1. Alt. EStG praktisch generell ausscheiden dürfte, mag auf fehlender Abstimmung der beiden Gesetze beruhen, lässt aber keine abweichende Beurteilung zu.
26Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
27Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen; auch im Hinblick auf das BMF-Schreiben vom 25.11.2020 ist die Rechtsfrage klärungsbedürftig.