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Der Ablehnungsbescheid vom 24. Oktober 2023 und die Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2024 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, Kindergeld für C. für Oktober 2023 bis Januar 2024 festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Strittig ist, ob die Klägerin ab Oktober 2023 einen Anspruch auf Kindergeld für ihre am 00. Februar 2023 geborene Tochter C. hat.
3Die Klägerin, die rumänische Staatsangehörige ist, war im Inland ab dem 22. Mai 2019 unter der Anschrift W.-straße in B. und ab dem 13. April 2021 unter der Anschrift F.-straße in B. gemeldet (Kindergeldakte – KG-Akte – Bl. 24). Über die Dauer ihrer Aufenthalte unter diesen Anschriften ist nichts bekannt.
4Am 26. September 2022 schloss die Klägerin einen bis zum 25. Juni 2023 befristeten Arbeitsvertrag als Lagerhelferin mit der N. GmbH, einem Dienstleister im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, ab (KG-Akte Bl. 17 ff.). Ausweislich der Gehaltsabrechnungen für September 2022 bis Februar 2023 (KG-Akte Bl. 21, 6, 14, 7, 8 und 16) bezog sie für ihre Tätigkeit ab dem 26. September 2022 bis zum Ende Februar 2023 ein Entgelt, ab Dezember 2022 in Gestalt von Mutterschutzlohn. Den Bezug von Mutterschaftsgeld bescheinigte die J., bei der die Klägerin krankenversichert ist (KG-Akte Bl. 101 f.), ihr zwecks Vorlage der Bescheinigungen bei der Elterngeldstelle und beim Arbeitgeber (KG-Akte Bl. 38, 51). Die Geburt ihrer Tochter am 00. Februar 2023 bescheinigte die Stadt R. ihr nur eingeschränkt, weil die Klägerin lediglich eine Übersetzung der Heiratsurkunde in Kopie vorgelegt hatte, nicht aber die erforderliche Heiratsurkunde mit Übersetzung im Original (KG-Akte Bl. 12, 34 f.). Die Klägerin ist seit dem 20. Dezember 2022, ihre Tochter seit dem 17. Juli 2023 unter der Anschrift K.-straße in B. gemeldet (KG-Akte Bl. 37, 52; vgl. auch KG-Akte Bl. 74). Nach Wohnungsgeberbestätigungen vom 15. Oktober 2022 und 5. Juli 2023 sind die Klägerin am 10. Oktober 2022 und ihre Tochter nach der Geburt unter dieser Anschrift in eine Wohnung eingezogen (KG-Akte Bl. 31 f.), deren Mieter nach einem Mietvertrag vom 21. Februar 2022 seit dem 15. April 2022 U. G. ist (KG-Akte Bl. 46 ff.). G. erklärte gegenüber dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 17. Februar 2023, dass die Klägerin derzeit bei ihm wohne, weil sie noch keine eigene Wohnung habe. Es sei beabsichtigt, dass sie nach der Geburt ihrer Tochter und der Heirat mit seinem Sohn eine eigene Wohnung beziehe. Die Klägerin, so Herr G., beteilige sich an den Wohnungskosten mit einem Betrag von monatlich 300 Euro. Sein Sohn habe gegenwärtig keine eigenen Einnahmen (KG-Akte Bl. 67).
5Die Klägerin beantragte im Mai 2023 Kindergeld für C. (KG-Akte Bl. 1 ff.). Darin gab sie an, ledig zu sein. Als anderen leiblichen Elternteil bezeichnete sie I. G., der ebenfalls über die rumänische Staatsangehörigkeit verfügt. In der Anlage Kind wurde zu C.s steuerlicher Identifikationsnummer angegeben: „noch nicht vergeben“ (KG-Akte Bl. 9).
6Die Beklagte forderte die Klägerin mit Schreiben vom 14. September 2023 auf, den vollständigen Elterngeldbescheid vorzulegen und nachzuweisen, mit welchen Mitteln sie ihren Lebensunterhalt bestreite (KG-Akte Bl. 75). Da die Klägerin dieser Aufforderung nicht nachkam, lehnte sie durch Bescheid vom 24. Oktober 2023 den Kindergeldantrag vom 8. Mai 2023 ab August 2023 ab (KG-Akte Bl. 77 ff.).
7Die Klägerin legte dagegen am 9. November 2023 Einspruch ein, mit dem sie den Elterngeldbescheid vom 8. September 2023 vorlegte (KG-Akte Bl. 85). Danach wurde ihr für die Zeit vom 24. Mai 2023 bis zum 23. Januar 2025 Elterngeld in Höhe von monatlich 150 Euro bewilligt (KG-Akte Bl. 86-94). Zum Vorhandensein ausreichender Mittel für ihren Lebensunterhalt machte die Klägerin geltend, zusammen mit ihrem Partner im Haushalt der Eltern ihres Partners zu leben und nicht über weitere Einnahmen zu verfügen.
8Die Beklagte forderte die Klägerin daraufhin auf, eine Arbeitgeberbescheinigung über den Zeitraum des Ruhens des Arbeitsverhältnisses aufgrund der Elternzeit vorzulegen, alternativ ausreichende Mittel zur Sicherung ihrer Existenz und eines Krankenversicherungsschutzes ab August 2023 nachzuweisen (KG-Akte Bl. 96). Die Klägerin legte daraufhin mit Schreiben vom 8. Januar 2024 eine Kopie ihrer Krankenversicherungskarte vor. Im Übrigen führte sie aus, dass ihr Arbeitsvertrag bis zum 25. Juni 2023 befristet gewesen sei. Sie lebe mit ihrer Tochter ohne eigenen Beitrag zu den Wohnungskosten im Haushalt der Eltern des Kindesvaters. Außer dem Elterngeld verfüge sie über keine eigenen Einnahmen (KG-Akte Bl. 99). Wegen des weiteren Schriftwechsels im Einspruchsverfahren wird auf das Schreiben der Beklagten vom 9. Januar 2024 und die Stellungnahme der Klägerin dazu vom 16. Januar 2024 verwiesen (KG-Akte Bl. 115, 123).
9Die Beklagte wies den Einspruch aus den Gründen der Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2024, auf die Bezug genommen wird, ab Oktober 2023 als unbegründet zurück (KG-Akte Bl. 127 ff.).
10Nach Abschluss des Einspruchsverfahrens hat die Klägerin der Beklagten einen bis zum 9. Dezember 2024 befristeten Arbeitsvertrag mit der P. GmbH vom 29. Januar 2024 über eine Tätigkeit als Lagerhelferin bei der T. GmbH vorgelegt (KG-Akte Bl. 143, 145 ff.). Die Tätigkeit sollte nach der Einsatzanweisung vom selben Tag am 11. März 2024 beginnen (Arbeitsbeginn: Montag, 12. März 2024).
11Mit ihrer am 16. Februar 2024 erhobenen Klage begehrt die Klägerin Kindergeld für C. ab Oktober 2023. Sie macht geltend, dass ihr Lebensunterhalt entgegen der Ansicht der Beklagten sichergestellt sei und sie deshalb Freizügigkeit genieße. Zwar verfüge sie tatsächlich nur über geringe Einnahmen, werde jedoch von der Familie ihres Verlobten unterstützt, indem sie dort mietkostenfrei wohne und mit Lebensmitteln versorgt werde.
12Die Klägerin beantragt,
13unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 24. Oktober 2023 und der Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2024 die Beklagte zu verpflichten, Kindergeld für C. für Oktober 2023 bis Januar 2024 festzusetzen.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Wegen ihres Vorbringens im Klageverfahren wird auf ihren Schriftsatz vom 25. März 2024 verwiesen.
17Das Gericht hat die Klägerin mit Schreiben vom 23. Mai 2024 gemäß § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aufgefordert, bis zum 21. Juni 2024
181. die steuerliche Identifikationsnummer des Kindes C. mitzuteilen und zu belegen,
192. ihren Familienstand mitzuteilen und zu belegen; falls die Klägerin verheiratet sei, sei die Heiratsurkunde mit Übersetzung im Original vorzulegen,
203. mitzuteilen, ob der Vater von C. die Vaterschaft anerkannt hat oder seine Vaterschaft rechtskräftig anerkannt ist; bejahendenfalls die zum Nachweis erforderlichen Unterlagen vorzulegen,
214. Gehaltsabrechnungen für das von ihr durch Arbeitsvertrag vom 29. Januar 2024 eingegangene Arbeitsverhältnis ab dessen Beginn bis heute vorzulegen.
22Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der gesetzten Frist eingehen, gemäß § 79b Abs. 3 FGO zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden könne, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldigt.
23Wegen der Stellungnahme der Klägerin zu dieser Aufforderung wird auf ihre Schriftsätze vom 6. Juni 2024 nebst Anlagen Bezug genommen. Daraus ergibt sich u. a., dass die Klägerin aufgrund eines Arbeitsvertrags mit der Y. GmbH vom 25. Februar 2024 bis zu dessen Aufhebung durch Aufhebungsvertrag vom 11. März 2024 in dieser Zeit bei diesem Unternehmen als Arbeitnehmerin beschäftigt war (Gerichtsakte Bl. 35 ff.). Eintrittsdatum bei der P. GmbH war nach der Lohnabrechnung für April 2024 der 8. April 2024 (Gerichtsakte Bl. 51).
24Die den Rechtsstreit betreffende Kindergeldakte hat vorgelegen.
25Entscheidungsgründe
26I. Die Klage ist begründet. Die Beklagte war gemäß § 101 Satz 1 FGO zu verpflichten, Kindergeld für die Tochter C. der Klägerin für den Zeitraum von Oktober 2023 bis Januar 2024 festzusetzen, weil der Ablehnungsbescheid vom 24. Oktober 2023 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2024 rechtswidrig ist und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt. Die Sache ist auch spruchreif i. S. von § 101 Satz 1 FGO, weil alle für einen Kindergeldanspruch für diesen Zeitraum erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind.
271. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat für Kinder i. S. von § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Einen Wohnsitz hat jemand gemäß § 8 der Abgabenordnung (AO) dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.
28Die Klägerin hatte ihren Wohnsitz im Streitzeitraum (Oktober 2023 bis Januar 2024) in der K.-straße in B.. Zwar ist Mieter der Wohnung, in der die Klägerin mit ihrer Tochter lebt, nach dem Mietvertrag vom 21. Februar 2022 (KG-Akte Bl. 46 ff.), U. G., der Vater des Kindesvaters. Er hat die Klägerin und ihre Tochter, soweit feststellbar, in seine Wohnung aufgenommen. Dafür sprechen die Meldebestätigungen vom 20. Juni und 17. Juli 2023 (KG-Akte Bl. 37, 52), die Wohnungsgeberbestätigungen vom 15. Oktober 2022 und 5. Juli 2023 (KG-Akte Bl. 32, 31) und – jedenfalls bezüglich der Klägerin – die Angabe dieser Anschrift im Kindergeldantrag, im Arbeitsvertrag mit der N. GmbH, den Gehaltsabrechnungen, der Lohnsteuerbescheinigung für 2022 sowie der vorläufigen Bescheinigung wegen Zurückstellung der Beurkundung (KG-Akte Bl. 12, 68), ferner im Schriftwechsel mit der Beklagten bis zur Einspruchsentscheidung, im Elterngeldbescheid (KG-Akte Bl. 86) und im Arbeitsvertrag mit der P. GmbH vom 29. Januar 2024 (KG-Akte Bl. 143). Die Beklagte hat einen inländischen Wohnsitz der Klägerin auch zu keinem Zeitpunkt bezweifelt.
29Bei C. handelt es sich auch um ein Kind i. S. von § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG, für das angesichts seines Alters keine besonderen Anspruchsvoraussetzungen i. S. von § 32 Abs. 4 i. V. m. § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG erfüllt sein müssen.
30Die Klägerin hat zudem nach Aufforderung durch das Gericht die für die Berücksichtigung ihrer Tochter erforderliche Identifikationsnummer i. S. von § 139b AO i. V. m. § 63 Abs. 1 Satz 3 und 5 EStG vorgelegt (Gerichtsakte Bl. 52 ff.).
31C. lebt schließlich im Haushalt der Klägerin und des von ihr als solchen bezeichneten Vaters des Kindes, I. G., in der K.-straße in B.. Dieser hat sich nach dem Kindergeldantrag vom 8. Mai 2023 mit der Bewilligung des Kindergeldes für C. zugunsten der Klägerin einverstanden erklärt (vgl. § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG).
322. Der Kindergeldanspruch der Klägerin wird nicht durch § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) nach Ablauf der ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war.
33Nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt:
341. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
351a. Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden,
362. Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige),
373. Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen i. S. des Art. 57 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind,
384. Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen,
395. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU,
406. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU,
417. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben.
42Das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bleibt gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei
431. vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall,
442. unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit,
453. Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht; der Zusammenhang ist nicht erforderlich, wenn der Unionsbürger seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat.
46Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU während der Dauer von sechs Monaten unberührt (§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU).
47a) Die Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin ergibt sich nicht schon aus den Nummern 5, 6 oder 7 des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU.
48aa) Nach § 4 Satz 1 i. V. m. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt nicht erwerbstätige Unionsbürger, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen.
49Die Klägerin verfügt zwar über ausreichenden Krankenversicherungsschutz, weil sie nach der Krankenversicherungskarte der J. (KG-Akte Bl. 101 f.) dort krankenversichert ist und davon angesichts der Abführung von Krankenversicherungsbeiträgen ab September 2022 bereits ab Beginn des Streitzeitraums auszugehen ist. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass sie im Streitzeitraum über ausreichende Existenzmittel verfügte.
50Familienrechtliche Unterhaltsansprüche kommen insoweit nicht in Betracht, weil die Klägerin weder mit dem von ihr als solchem bezeichneten Vater des Kindes verheiratet oder verpartnert ist und ein Unterhaltsanspruch gegen den Vater des Kindes aus Anlass der Geburt gemäß § 1615l Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 und 4 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) die vorherige Anerkennung der Vaterschaft oder ihre rechtskräftige Feststellung voraussetzt (ebenso Oberlandesgericht Oldenburg, Beschluss vom 27. Juni 2018 11 WF 110/18, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2018, 1511). Dafür ist nichts ersichtlich, weil die Klägerin keine Vaterschaftsanerkennung vorgelegt hat. Das Gericht folgt deshalb der Beurteilung der Beklagten im Schriftsatz vom 25. März 2024, wonach das Elterngeld von monatlich 150 Euro ab dem 24. Mai 2023 keine ausreichenden Existenzmittel darstellt, weil es den Regelbedarf von 451 Euro im Monat im Jahr 2023 bzw. 506 Euro im Monat im Jahr 2024 nicht erreicht. Über weitere Einnahmen verfügte die Klägerin im Streitzeitraum nicht (vgl. Schreiben vom 8. Januar 2024, KG-Akte Bl. 99). Ihre „Mitversorgung“ im Haushalt der Eltern des Vaters des Kindes (KG-Akte Bl. 123; Klageschrift vom 16. Februar 2024), die weder nachgewiesen noch betraglich beziffert ist, reicht dafür nicht aus (vgl. auch § 5a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 FreizügG/EU und Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie – RL – 2004/38/EG).
51bb) Die Klägerin kann ihre Freizügigkeitsberechtigung auch nicht auf § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. § 3 Abs. 1 FreizügG/EU stützen, weil es sich bei dem Vater des Kindes allenfalls um einen Lebensgefährten der Klägerin handelt, von dem nicht erkennbar ist, dass er selbst einen Tatbestand erfüllt, aus dem sich unionsrechtliche Freizügigkeit ableiten lässt.
52cc) Eine Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin ergibt sich schließlich nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 7 i. V. m. § 4a FreizügG/EU, weil sich die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht der Klägerin nach letztgenannter Vorschrift nicht feststellen lassen.
53Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Die Klägerin hat sich nach der Meldeabfrage der Beklagten vom 20. Juni 2023 zwar wiederholt, aber nicht zusammenhängend über einen Zeitraum von fünf Jahren im Bundesgebiet ständig aufgehalten. Ein erster Aufenthalt im Bundesgebiet ist nach dieser Meldeabfrage ab dem 22. Mai 2019 feststellbar. Ein Daueraufenthaltsrecht hätte sie daher – selbst bei einem zusammenhängenden Aufenthalt von fünf Jahren – frühestens am 22. Mai 2024 und damit nach Ablauf des Streitzeitraums erwerben können.
54dd) Eine Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin folgt auch nicht aus § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU, wonach bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt bleibt. Die Klägerin war zwar bei der N. GmbH weniger als ein Jahr beschäftigt. Sie hat jedoch keine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit vorgelegt, nach der sie im Anschluss an diese Beschäftigung unfreiwillig arbeitslos war.
55b) Die Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin ergibt sich jedoch aus ihrem aufgrund der Beschäftigung bei der N. GmbH nachwirkenden Status als Arbeitnehmerin gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i. V. m. Art. 7 Abs. 1 Buchst. a RL 2004/38/EG und Art. 45 AEUV.
56aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat mit Urteil vom 19. Juni 2014 C-507/12 (Saint-Prix), Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2014, 765, entschieden, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastung im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die „Arbeitnehmereigenschaft“ i. S. dieser Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wiederaufnimmt oder eine andere Stelle findet. In diesem Zusammenhang, so der EuGH, ergebe sich weder aus Art. 7 RL 2004/38/EG als Ganzes noch aus weiteren ihrer Bestimmungen, dass unter solchen Umständen einem Unionsbürger, der die Voraussetzungen dieses Artikels nicht erfüllt, deswegen kategorisch die „Arbeitnehmereigenschaft“ i. S. des Art. 45 AEUV abgesprochen werde. Bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden könne, habe das nationale Gericht alle konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens und die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften im Einklang mit Art. 8 RL 92/85/EG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz zu berücksichtigen.
57Danach hängen die Arbeitnehmereigenschaft i. S. von Art. 45 AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses ab. Der Umstand, dass eine ehemalige Arbeitnehmerin dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wiederaufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet. In den Rzn. 45 und 46 seiner Entscheidung führt der EuGH sodann wörtlich Folgendes aus: „Ferner ist daran zu erinnern, dass das Unionsrecht Frauen im Zusammenhang mit der Mutterschaft einen besonderen Schutz gewährt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 im Hinblick auf die Berechnung des ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, der es Unionsbürgern erlaubt, das Recht zu erwerben, sich dort auf Dauer aufzuhalten, die Kontinuität des Aufenthalts u. a. durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft nicht berührt wird. Wenn jedoch vor dem Hintergrund dieses Schutzes eine Abwesenheit aufgrund eines wichtigen Ereignisses wie einer Schwangerschaft oder Niederkunft die Kontinuität des fünfjährigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die für die Gewährung des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlich ist, unberührt lässt, können körperliche Belastungen im Spätstadium einer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes, die eine Frau zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit zwingen, für die Betroffene erst recht nicht zum Verlust der Arbeitnehmereigenschaft führen.“
58bb) § 4a Abs. 6 Nr. 3 FreizügG/EU entspricht als nationale Umsetzungsnorm Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG, soweit es um die einmalige Abwesenheit von bis zu zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigem Grund geht, insbesondere aufgrund einer Schwangerschaft und Entbindung. Das Gericht nimmt diesen Zeitraum deshalb als Maßstab für die Bestimmung des „angemessenen Zeitraums“ nach der Geburt, bis zu dessen Ablauf die Beschäftigung wiederaufgenommen worden oder eine andere Stelle gefunden worden sein muss, damit von einem Fortbestehen der Arbeitnehmereigenschaft ausgegangen werden kann.
59Danach hat die Klägerin ihre Arbeitnehmereigenschaft, die sie aufgrund des Arbeitsverhältnisses mit der N. GmbH erlangt hatte, bis zum Ablauf des Streitzeitraums nicht verloren, weil sie, wie der Arbeitsvertrag mit der P. GmbH vom 29. Januar 2024 belegt, innerhalb eines Jahres nach der Geburt ihrer Tochter am 00. Februar 2023 wieder eine Stelle gefunden hatte. Dass sie diese Beschäftigung erst am 8. April 2024 als Zeitpunkt des Einsatzbeginns aufnehmen konnte (KG‑Akte Bl. 143), hält das Gericht für unschädlich. Abgesehen davon, dass der Zeitraum von einem Jahr nach der Geburt dadurch lediglich geringfügig, nämlich um zwei Wochen, überschritten wurde und der Jahreszeitraum für den Fortbestand der Arbeitnehmereigenschaft als solcher nicht normiert ist, sondern lediglich einen Anhaltspunkt für die Bestimmung des „angemessenen Zeitraums“ i. S. der Rechtsprechung des EuGH bietet, hat ein Arbeitnehmer es nicht in der Hand, wann er nach Abschluss des Arbeitsvertrags vom Arbeitgeber erstmals zur Arbeitsleistung herangezogen wird. Eine andere Stelle gefunden, wie der EuGH dies im Urteil vom 19. Juni 2014 C-507-12 (NZA 2014, 765) als hinreichend für den Fortbestand der Arbeitnehmereigenschaft angesehen hat, hat ein Arbeitnehmer bereits durch den Abschluss des Arbeitsvertrags. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der tatsächliche Beginn des Arbeitsverhältnisses – wie hier – innerhalb eines üblichen Zeitraums nach Unterzeichnung des Arbeitsvertrags beginnt.
60Die Klägerin hat zudem noch vor Antritt ihrer Tätigkeit für die P. GmbH eine Beschäftigung bei der Y. GmbH aufgenommen. Auch wenn sie – im Hinblick auf die ab April 2024 anstehende Aufnahme der Arbeit bei der P. GmbH – bei dieser Arbeitgeberin nur kurzzeitig beschäftigt war, bringt diese Tätigkeit und das ihr vorgelagerte Bemühen darum, einen Arbeitsvertrag mit der Y. GmbH abzuschließen, zum Ausdruck, dass die Klägerin den unbedingten Willen hatte, so bald wie möglich nach der Niederkunft wieder zu arbeiten und damit ihre Grundfreiheit nach Art. 45 AEUV wahrzunehmen.
61II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
62III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
63IV. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die Sache hat nach Auffassung des Gerichts insoweit grundsätzliche Bedeutung, als in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt wird, ab wann ein Zeitraum nach der Geburt bis zur Wiederaufnahme einer Beschäftigung bzw. der Erlangung einer neuen Stelle noch als „angemessen“ i. S. der Rechtsprechung des EuGH beurteilt werden kann (vgl. Landessozialgericht – LSG – für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. November 2015 – L 2 AS 1714/15 B ER –, juris; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 9. Juni 2021 – L 34 AS 850/17 –, juris; Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 9. März 2023 9 K 2621/21 Kg, juris, und Hailbronner, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU Rz. 108).