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Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 21.02.2022 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7.04.2022 wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass es bei der Kindergeldgewährung an den Kläger für seine beiden Kinder für den Rückforderungszeitraum März 2021 bis November 2021 bleibt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
T a t b e s t a n d :
2Der Kläger, ein rumänischer Staatsangehöriger, beantragte im Oktober 2019 bei der Beklagten (im folgenden: Familienkasse) Kindergeld für den Sohn S1 (geboren im Mai 2011) und die Tochter T1 (geboren im Juli 2015), mit Einverständnis der im gemeinsamen Haushalt lebende Ehefrau und Mutter der Kinder. Der Kläger reichte u. a. folgende Belege ein:
3- Kopien der Geburtsurkunden und Personalausweise der Kinder;
4- eine Anmeldebestätigung der Stadt Z vom 19.09.2019, wonach sich der Kläger mit Familie zum 1.09.2019 unter der Adresse Straße 01 in Z-Stadt angemeldet hat;
5- Sozialversicherungsausweise der Deutschen Rentenversicherung vom 8.10.2019 für sich und die Ehefrau.
6Die Familienkasse lehnte den Antrag zunächst ab Oktober 2019 und ab Januar 2020 ab (Bescheide vom 4.02.2020), jeweils mangels nachgewiesener Berufstätigkeit. Hiergegen erhob der Kläger Einspruch und wies nach, dass er ab 9.10.2019 zunächst bis 30.04.2020 und auch weiterhin bei der A GmbH als Lageraushilfe im Umfang von ca. 12 Wochenstunden geringfügig beschäftigt war (Monatsbrutto zwischen 310 € und 450 €) und daneben Aufstockungsleistungen des Jobcenters Z-Stadt bezog.
7Die Familienkasse setzte schließlich zu Gunsten des Klägers Kindergeld für die beiden Kinder ab Januar 2020 fest (Bescheid vom 7.10.2020), das sie für den Zeitraum Januar bis Oktober 2020 im Wege eines geltend gemachten Erstattungsanspruchs an das Jobcenter auszahlte. Später setzte die Familienkasse noch Kindergeld für Oktober bis Dezember 2019 fest; die Auszahlung erfolgte ebenfalls im Wege eines geltend gemachten Erstattungsanspruchs an das Jobcenter.
8Im Juli 2021 überprüfte die Familienkasse die Kindergeldgewährung. Der Kläger wirkte nicht mit; ein zugesandtes Formular reichte er nicht ein, auf eine Erinnerung reagierte er nicht. Erst im Dezember 2021/ Februar 2022 reichte er Unterlagen ein. Hieraus ergab sich, dass der Kläger eine Arbeitsstelle bei Firma B Ende Februar 2021 verloren hatte.
9Daraufhin hob die Familienkasse zunächst die Kindergeldfestsetzung ab Dezember 2021 auf (Bescheid vom 9.02.2022) und gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme, im Hinblick auf eine Rückforderung des ab März 2021 gezahlten Kindergelds. Schließlich hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab März 2021 auf und forderte Kindergeld für März bis November 2021 in Höhe von 3.942 € vom Kläger zurück (Bescheid vom 21.02.2022). Zur Begründung hieß es, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/ EU (FreizügG/ EU) als erfüllt ansehe. Die Familienkasse habe hier ein eigenes Prüfungsrecht, das unabhängig von der Entscheidung der Ausländerbehörde bestehe. Die Prüfung habe ergeben, dass bei dem Kläger diese Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/ EU nicht erfüllt seien.
10Hiergegen erhob der Kläger, fachkundig vertreten, Einspruch. Er wies darauf hin, dass er nach einer Berufstätigkeit arbeitslos geworden sei. Die Gewährung von SGB-II-Leistungen seitens des Jobcenters setze voraus, dass er freizügigkeitsberechtigt sei. Diese Prüfung habe das Jobcenter vorgenommen. Die Familienkasse forderte daraufhin an:
11- Kopien von Arbeitsverträgen (und Lohnabrechnungen oder Nachweise über den Erhalt des Lohnes) des Klägers oder seiner Ehefrau für die Monate März 2021 und November 2021;
12- eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit oder des Jobcenters über die Arbeitsuche oder andere Nachweise, die eine ernstliche Absicht der Arbeitsuche belegten, ab dem Monat März 2021 bis einschließlich November 2021;
13- eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ab dem Monat März 2021 und
14- Nachweise über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel ab dem Monat März bis einschließlich November 2021 - es müsse ersichtlich sein, ob der Krankenversicherungsschutz ab März 2021 bestehe.
15Der Kläger übersandte daraufhin einen aktuellen Bescheid über den Bezug von SGB-II-Leistungen des Jobcenters (BG-Nr. 343 48 BG 021 2809) und Kopien der Krankenversicherungskarten seiner Familie. Er ergänzte, er sei derzeit auf Arbeitsuche.
16Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück (mit Einspruchsentscheidung vom 7.04.2022). Zur Begründung hieß es, ein Unionsbürger sei anspruchsberechtigt nach § 62 Abs. 1a Satz 3 Alternative 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Verbindung mit § 2 Absatz 2 Nummer 1a FreizügG/ EU, wenn er arbeitsuchend im Sinne von § 2 Absatz 2 Nummer 1a FreizügG/ EU sei und vorher einen der Tatbestände des § 2 Absatz 2 Nummer 1 beziehungsweise 2 bis 7 oder Absatz 3 FreizügG/ EU erfüllt habe. Nachweise für eine Arbeitssuche des Klägers für den streitigen Zeitraum lägen nicht vor; dieser sei nur von Oktober 2019 bis Februar 2021 erwerbstätig gewesen. Somit habe ab März 2021 kein Freizügigkeitsrecht aufgrund einer Erwerbstätigkeit mehr bestanden. Allerdings bleibe das Recht auf Einreise und Aufenthalt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten unberührt (gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/ EU). Diese Voraussetzungen habe der Kläger aber nicht nachgewiesen. Schließlich benötigten nicht erwerbstätige Personen nach § 4 FreizügG/ EU im Zeitraum ab dem 4. Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel; auch hieran fehle es. Insbesondere seien Leistungen nach dem SGB II, die der Kläger laut den eingereichten Unterlagen erhalte, keine ausreichenden Existenzmittel im Sinne des § 4 FreizügG/ EU.
17Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger trägt vor, er sei -- anders als die Familienkasse meine -- freizügigkeitsberechtigt. Dabei komme es nicht allein auf den Arbeitnehmerstatus an. Er nimmt Bezug auf die aktuellen Eingliederungsvereinbarungen mit der Stadt Z (in Aussicht gestellt: Suche einer geeigneten Sprachschule/ Anmeldung zum Integrationskurs). Außerdem ergebe sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die Freizügigkeitsberechtigung auch daraus, dass sorgeberechtigte Eltern im Haushalt lebende schulpflichtige Kinder betreuen. S1 sei im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum schulpflichtig gewesen und habe die Grundschule besucht (zuletzt Klasse 3). T1 sei seit August 2021 schulpflichtig und besuche seitdem ebenfalls die Grundschule (entsprechende Schulbescheinigungen der Schule ... in Z-Stadt – Städt. Grundschule liegen vor).
18Der Kläger beantragt,
19den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 21.02.2022 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7.04.2022 mit der Maßgabe aufzuheben, dass es bei der Kindergeldgewährung für seine beiden Kinder für den Zeitraum März 2021 bis November 2021 bleibt.
20Die Familienkasse beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Sie trägt ergänzend vor, die Rechtsprechung des EUGH (Urteil vom 6.10.2020 C-181/19) gelte nur für den Leistungsausschluss bei den Grundsicherungsleistungen, nicht bei Kindergeld. Außerdem sei der Kläger den Beweis schuldig geblieben, dass er unfreiwillig arbeitslos sei und dass er nicht nur tatsächlich Arbeit suche, sondern auch eine begründete Aussicht auf Einstellung habe.
23Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene elektronische Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
24E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
25Die Klage ist begründet.
261. Die Kindergeldberechtigung des Klägers ergibt sich jedenfalls direkt aus Art. 7 Abs. 2, Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (im folgenden EUV 492/2011). Denn der Kläger (und seine Ehefrau) haben ein in Deutschland schulpflichtiges Kind betreut, welches die Schule besucht, und während des Schulbesuchs des Sohnes ist der Kläger zumindest für einen Monat Arbeitnehmer gewesen. Infolge des Vorrangs europäischen Rechts steht dieser Umstand einem Leistungsausschluss vom deutschen Kindergeldbezug in gleicher Weise wie vom SGB II Bezug entgegen (hierzu: EuGH-Urteil vom 6.10.2020 C-181/19 „Jobcenter Krefeld“, juris, InfAuslR 2020, 448; LSG NRW, Beschluss vom 13.11.2020 L 6 AS 1275/20 B ER, juris; BSG Urteil vom 27.01.2021 B 14 AS 25/20 R, NJW 2021, 2461; vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-411/20 vom 16.12.2021, juris, Rz 36, 37). Bereits deshalb war der Klage stattzugeben.
27Diese Entscheidung des EuGH ist auf den Kindergeldbezug entsprechend anwendbar. Bei Sozial(hilfe)leistungen ist den Mitgliedsstaaten sogar eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot eingeräumt (nämlich Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie (EG) 2004/38), die allerdings die Versagung der Sozialleistungen bei Eltern, die ein schulpflichtiges Kind betreuen, nicht rechtfertigen kann. Für „Familienleistungen“ (im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der VO (EG) Nr. 883/2004) gilt die Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot gar nicht erst – damit können Familienleistungen Eltern, die ein schulpflichtiges Kind betreuen, erst recht nicht versagt werden.
282. Abgesehen davon hat die Familienkasse die Regelung des § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG für den Streitzeitraum falsch, nämlich zu restriktiv angewandt. Nach den vorliegenden Unterlagen bestünde die Kindergeldberechtigung des Klägers im Streitzeitraum (März bis November 2021) auch bei Anwendung (der europarechtlich umstrittenen Vorschrift) des § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG.
29Denn der Kläger war nach dem Zuzug der Familie nach Deutschland hier offenbar länger als 1 Jahr berufstätig (im erforderlichen Umfang, vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.01.2021 6 N 98/20, 18 K 275.18, juris, Rn 5, 6 m. w. N.; Landessozialgericht -- LSG -- NRW, Urteil vom 19.11.2020 L 19 AS 1204/20, juris) und wurde danach arbeitslos. Demgemäß wäre er auch bei Anwendung des § 62 Abs. 1 a Satz 3, 2. Alt. EStG kindergeldberechtigt,
30 weil er auch für diese Monate in seiner Person die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/ EU erfüllt hat, nämlich des Tatbestands der Nr. 1 a (Aufenthalt zur Arbeitsuche),
31 und zwar im Anschluss an eine Arbeitnehmertätigkeit i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/ EU.
32Die Argumentation der Familienkasse, der Kläger sei tatsächlich nicht arbeitsuchend gewesen, sondern freiwillig arbeitslos, zudem ohne eine begründete Aussicht auf Einstellung, jedenfalls habe er nichts Anderweitiges nachgewiesen, ist ergebnisorientiert konstruiert. Das Gericht folgt dem nicht. Bereits das Jobcenter Z-Stadt ist gehalten, den Kläger im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II zur Einhaltung der Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung anzuhalten und dies auch zu überwachen. Nach der Kündigung der Arbeitsstelle durch das ...Unternehmen B (Ende Februar 2021) wurden von der Behörde für den Kläger der Erwerb von Sprachfähigkeiten und eine Teilnahme am Integrationskurs angestrebt (vgl. Eingliederungsvereinbarung), nicht etwa die Feststellung des Wegfalls seines Freizügigkeitsrechts und der Entzug der Sozialleistungen betrieben.
33§ 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG überträgt zudem die Feststellungslast für das Nicht-Vorliegen der Voraussetzungen des FreizügG/ EU auf die Behörde: sollte die Familienkasse Zweifel hegen an ernsthaften Integrationsbemühungen des Klägers in den Arbeitsmarkt, ist es ihre Sache, bei dem Jobcenter nachzufragen.
343. Auf grundsätzliche europarechtliche Bedenken gegen die Wirksamkeit/ Anwendung der Regelung des § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG (vgl. Helmke/ Bauer, Familienleistungsausgleich, § 62 Rz. 48.3; Hildesheim in: Bordewin/ Brandt, § 62 EStG Rz. 148; Weber-Grellet, jurisPR-ArbR 41/2022 Anm. 4 a. E.) kommt es nach alledem im Streitfall nicht an.
35Dabei liegt es nahe, die Erwägungen des EuGH (Urteil vom 1.08.2022 in der Rechtssache C-411/20, NJW 2022, 2823 = DStRK 2022, 228) entsprechend auf § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG zu übertragen. Der EuGH hat zwar (nur) die Vorschrift des § 62 Abs. 1 a Satz 1 EStG als europarechtswidrig beurteilt, weil sie eine gleichheitswidrige Diskriminierung von Unionsbürgern darstellt. Denn dem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger, der nach Deutschland zuwandert, werde Kindergeld versagt, während ein wirtschaftlich nicht aktiver deutscher Staatsbürger, der vom Ausland erneut nach Deutschland umzieht, sofort wieder Kindergeld erhält. Die entsprechende Argumentation lässt sich möglicherweise auf § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG erstrecken, weil diese Einschränkung des Kindergeldbezugs ebenfalls nur den zugewanderten EU-Ausländer, nicht aber einen erneut ins Inland umgezogenen wirtschaftlich inaktiven deutschen Staatsbürger trifft.
36Allerdings erscheint auch eine andere Beurteilung vertretbar (vgl. Derksen/ Kubicki, NZS 2019, 651; EuGH-Urteil vom 11.11.2014 C-333/13 Rechtssache Dano, NJW 2015, 145 = NVwZ 2014, 1648); denn bei Unionsbürgern, die sich länger als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, hat der EU-Mitgliedstaat grundsätzlich die Möglichkeit, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, (ohne ausreichende eigene Existenzmittel) in den Genuss der Sozialhilfe des Aufnahmestaats zu kommen, Sozialleistungen zu versagen, vgl. Erwägungsgrund 10 sowie Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie (EG) 2004/38. Trotzdem dürfte diese Überlegung hier zu kurz greifen.
37 Einmal aus rechtlichen Gründen: Denn obiger Grundsatz als Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot gilt nur für Sozial(hilfe)leistungen und ist auf „Familienleistungen“ (im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der VO (EG) Nr. 883/2004) nicht anwendbar, und damit auch nicht auf Kindergeld (vgl. EuGH-Urteil vom 1.08.2022 C-411/20, a.a.O. Rn. 48 ff.).
38 Zum anderen, wenn man die praktische Umsetzung durch verschiedene staatliche Stellen betrachtet: Geht man davon aus, dass der EU-Mitgliedstaat die Entscheidungsbefugnis hat, ob er zugewanderte EU-Bürger sofort in sein Sozialleistungssystem aufnimmt, z. B. weil er sie für hinreichend wirtschaftlich aktiv bzw. ihre Zuwanderung für gesellschaftlich nützlich hält, so obliegt diese Entscheidung originär der zuständigen Ausländerbehörde und der Sozialleistungsbehörde. Letztere hat hier im Streitfall (Jobcenter) dem Kläger durchgehend SGB-II-Leistungen gewährt, zunächst ergänzend, seit März 2021 ungekürzt. Die Sozialbehörde, der Kläger und seine Ehefrau streben gemeinsam an (laut Eingliederungsvereinbarungen), dass der Kläger und seine Ehefrau an einem Sprachkurs und Integrationskurs teilnehmen, während die Kinder in Deutschland zur Schule gehen, mit anderen Worten dass die Familie auf Dauer in Deutschland bleibt. Dies zeigt, dass das EU-Freizügigkeitsrecht des Klägers und seiner Familie von der Sozialbehörde ohne weiteres bejaht und gefördert wird.
39Demgegenüber geht die Familienkasse, indem sie § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG anwendet, davon aus, der Kläger nehme Sozialleistungen unangemessen in Anspruch und ihm stehe kein EU-Freizügigkeitsrecht zu. Danach wäre eigentlich seine Ausweisung zu veranlassen (vgl. Erwägungsgrund 10 der Richtlinie (EG) 2004/38); aber die gesetzlich vorgesehene Mitteilung an die zuständige Ausländerbehörde (§ 62 Abs. 1 a Satz 5 EStG) wird von der Familienkasse regelmäßig ignoriert. Ersichtlich geht es der Familienkasse auch gar nicht um ein konsistentes staatliches Vorgehen gegenüber dem einzelnen EU-Zuwanderer.
404. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO.
415. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.