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Die Beklagte wird verpflichtet, unter Abänderung des Ablehnungsbescheid vom 30.07.2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.10.2021 und des Teilabhilfebescheids vom 15.03.2022 zu Gunsten der Klägerin für die Tochter T Kindergeld für die Monate Juli bis November 2021 festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
2Im Mai 2021 beantragte die Klägerin, eine polnische Staatsbürgerin, für ihre Tochter T (geboren im April 2021) bei der Beklagten (im folgenden: Familienkasse) Kindergeld. Der im gleichen Haushalt wohnende Lebensgefährte/ Verlobte und Kindesvater, ebenfalls polnischer Staatsbürger, stimmte der Kindergeldgewährung an die Klägerin zu. Die Klägerin legte u. a. vor :
3- die Geburtsurkunde der Tochter (in Kopie);
4- eine Anmeldebestätigung der Stadt Z, wonach sich die Klägerin im September 2019 unter der Adresse Straße 01 angemeldet und im Februar 2020 an die Adresse Straße 02 umgemeldet hatte, wo auch die Tochter seit Geburt gemeldet ist;
5- entsprechende Meldebestätigungen des Lebensgefährten;
6- einen Mietvertrag über die Wohnung Straße 02;
7- die Erklärung, dass die Klägerin von 14.10.2019 bis 30.09.2020 bei der A GmbH beschäftigt gewesen ist;
8- sowie das Kündigungsschreiben des Arbeitsvertrags vom 26.08.2020 zum 30.09.2020;
9- den Nachweis über den Bezug von SGB-II-Leistungen durch das Jobcenter ... der Stadt Z seit April 2021.
10Die Stadt Z meldete einen Erstattungsanspruch auf das Kindergeld an.
11Die Familienkasse lehnte die Kindergeldfestsetzung ab (Bescheid vom 30.07.2021). Zur Begründung hieß es, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU (im Folgenden: FreizügG/EU) als erfüllt ansehe. Die Familienkasse habe hier ein eigenes Prüfungsrecht, das unabhängig von der Entscheidung der Ausländerbehörde bestehe. Die Prüfung habe ergeben, dass diese Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU nicht erfüllt seien.
12Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch und erklärte, sie könne die Ablehnung nicht nachvollziehen. Sie wies darauf hin, dass sie für T seit April 2021 laufend Elterngeld erhalte (Bescheid der Stadt Z vom 23.09.2021).
13Die Familienkasse wies daraufhin den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 27.10.2021, zur Post gegeben am 29.10.2021). Zur Begründung verwies die Familienkasse auf die Vorschrift des § 62 Abs. 1 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 2 Abs. 2 FreizügG/EU. In Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes in Deutschland nur Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU als erfüllt ansehe. Im Streitfall seien die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU nicht erfüllt: hiernach bestehe ab dem 4. Monat der Einreise ein Kindergeldanspruch bei Erwerbstätigkeit oder Fortwirken der Arbeitnehmereigenschaft sowie bei nicht erwerbstätigen Personen mit ausreichenden Existenzmitteln und Krankenversicherungsschutz. Keinen Anspruch ab dem 4. Monat hätten dagegen Personen, die SGB II-Leistungen beziehen, freiwillig arbeitslos bzw. nicht erwerbstätig und dabei ohne ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz sind. Die Klägerin lebe von Leistungen nach dem SGB II und von Elterngeld; Nachweise über eine Arbeitsplatzsuche bzw. die Unfreiwilligkeit ihrer Arbeitslosigkeit habe sie nicht vorgelegt.
14Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin trägt vor, dass sie ca. 1 Jahr lang (Oktober 2019 bis September 2020) berufstätig gewesen ist, danach schwanger, in Mutterschutz und in Elternzeit. Der Lebensgefährte der Klägerin habe ebenfalls bis September 2020 (bei demselben Arbeitgeber) gearbeitet, sei allerdings im Anschluss arbeitslos geblieben und habe wegen seiner Schwerbehinderung keine neue Arbeitsstelle gefunden. Auf nähere Nachfrage des Gerichts hat sich ergeben, dass die Klägerin im Anschluss an die Zeit des Mutterschutzes wegen Elternzeit von Juli bis November 2021 nicht arbeitslos/ arbeitsuchend gemeldet gewesen ist und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden hat. Ungeachtet dessen hat sie sich im November 2021 erneut um eine Arbeitsstelle beworben (Bewerbungsgespräch am 22.11.2021), allerdings ist ein Unfall mit anschließender Fußoperation dazwischen gekommen. Ab März 2022 hat die Klägerin wieder eine Arbeitsstelle (in Teilzeit) angetreten. Die Eingliederungsvereinbarungen zwischen dem Jobcenter und dem Lebensgefährten und Kindesvater für den Streitzeitraum (Frühjahr bis Herbst 2021) liegen ebenfalls vor; hiernach ist zunächst eine Verbesserung seiner deutschen Sprachkenntnisse, danach die Teilnahme an einer Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, schließlich eine ärztliche Begutachtung angestrebt und vereinbart worden.
15Die Familienkasse hat der Klage teilweise abgeholfen und gegenüber der Klägerin für April bis Juni 2021 Kindergeld festgesetzt (Änderungsbescheid vom 15.03.2022). Für den weiteren Streitzeitraum sieht sie keine Abhilfemöglichkeit.
16Die Klägerin beantragt,
17die Familienkasse unter Abänderung des Ablehnungsbescheid vom 30.07.2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.10.2021 und des Teilabhilfebescheids vom 15.03.2022 zu verpflichten, für die Tochter T Kindergeld für die Monate Juli bis November 2021 festzusetzen.
18Die Familienkasse beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene elektronische Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
21E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
22Die Klage ist begründet.
23Die Versagung der Kindergeldfestsetzung für die Tochter T für die Monate Juli bis November 2021 ist rechtswidrig. Die Klägerin besitzt einen Kindergeldanspruch, weil sie sich auch im Streitzeitraum ‑ entgegen dem zu engen Wortlaut des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG – entsprechend den Maßstäben der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (im folgenden: RL 2004/38/EG bzw. Unionsbürgerrichtlinie), rechtmäßig im Inland aufgehalten hat. Demgemäß stellt die Versagung des Kindergelds im Streitfall einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 166 vom 30.04.2004, S. 1, ber. ABl. L 200 vom 7.06.2004, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1149 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 186 vom 11.07.2019, S. 21 m.W.v. 31.07.2019) (im folgenden: VO (EG) Nr. 883/2004) dar. Hiernach darf der Kindergeldanspruch einem EU-Bürger in (anderen) Fällen des rechtmäßigen Aufenthalts im Inland, über den Wortlaut des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG hinaus, nicht versagt werden.
241. § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG steht allerdings seinem Wortlaut nach einem Kindergeldanspruch der Klägerin entgegen.
25a) Diese Vorschrift ist mit Wirkung ab August 2019 durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (BGBl. I, 1066) in das Einkommensteuergesetz eingefügt worden. Ersichtliches Ziel ist die Verhinderung einer „unangemessenen Inanspruchnahme“ des Kindergeldes, indem der Bezug dieser Leistung für wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger eingeschränkt und damit eine gezielte Zuwanderung wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger in das deutsche Sozialsystem erschwert werden sollte (vgl. BT-Drs. 19/8691, S. 2).
26b) Die grundsätzlichen Erwägungen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 19/8691 S. 2 und 64), eine unangemessene Inanspruchnahme des Systems der sozialen Sicherheit in Deutschland zu verhindern, indem EU-Ausländern, die kein Freizügigkeitsrecht im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie innehaben, das Kindergeld versagt wird, sind nicht zu beanstanden. Sie stehen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in der Rechtssache KOM ./. UK (EuGH-Urteil vom 14.06.2016 C-308/14, NJW 2016, 2867). Hierin führt der EuGH aus,
27 dass grundsätzlich nichts dagegen spricht, die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von dem Erfordernis abhängig zu machen, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen (Rn. 66 und 68),
28 selbst wenn der betreffende Unionsbürger auch nicht in einem anderen Mitgliedstaat entsprechende Familienleistungen bezieht bzw. beziehen kann (Rn. 67, 70 ff.).
29 Allerdings sei in dem Erfordernis des rechtmäßigen Aufenthalts eine mittelbare Diskriminierung zu sehen, weil sich dieses Tatbestandsmerkmal seinem „Wesen nach eher auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten als auf Inländer“ leistungsbegrenzend und damit nachteilig auswirke „und folglich die Gefahr besteht, dass sie die Erstgenannten besonders benachteiligt“ (Rn. 77).
30 Um gerechtfertigt zu sein, müsse eine solche mittelbare Diskriminierung geeignet sein, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Rn. 78).
31 Die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, reiche grundsätzlich aus, um die Möglichkeit zu rechtfertigen, zum Zeitpunkt der Gewährung einer Sozialleistung insbesondere an Personen anderen Mitgliedstaaten, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts durchzuführen. Denn diese Gewährung sei geeignet, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Rn. 80).
32 Um verhältnismäßig zu sein, dürfe die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von Unionsbürgern gemäß Art. 14 Abs. 2 Unterabsatz 2 der RL 2004/38/EG allerdings nicht systematisch durchgeführt werden, sondern nur in Zweifelsfällen erfolgen (Rn. 81 bis 84).
33 Dann liege keine nach Art. 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 verbotene Diskriminierung vor (Rn. 86).
34In diesem Sinne erscheint eine den Kindergeldbezug einschränkende gesetzliche Regelung für wirtschaftlich inaktive EU-Ausländer ab dem 4. Monat ihres inländischen Aufenthalts im Inland grundsätzlich zulässig. Die in den Gesetzesmaterialien geäußerte Befürchtung, dass von einer vorbehaltlosen Kindergeldgewährung an EU-Bürger, die wirtschaftlich inaktiv und vermögenslos sind, und in das deutsche Sozialsystem zuwandern, eine nicht beabsichtigte Anreizwirkung für einen Zuzug aus anderen Mitgliedstaaten ausgehe, ist plausibel. Darüber hinaus bekennt sich der Gesetzgeber unter Bezugnahme auf die obige EuGH-Entscheidung zu der Einschränkung, dass die Prüfung nicht systematisch durchgeführt werden dürfe, sondern nur in bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen (BT-Drucks. 19/8691, S. 63 und 64).
35c) Im Streitfall hat die Klägerin ab Juli 2021 die Voraussetzungen der §§ 2 bis 4 FreizügG/ EU zwischenzeitlich nicht erfüllt. Sie war zwar zunächst freizügigkeitsberechtigt von Oktober 2019 bis September 2020 wegen ihrer Berufstätigkeit (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/ EU), anschließend wegen einer kurzfristigen, weniger als 6 Monaten dauernden Arbeitslosigkeit (§ 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/ EU), wobei diese Fiktion des Fortbestandes der Arbeitnehmereigenschaft bis zum Ablauf der Mutterschutzfristen (im Juni 2021) unmittelbar auf der Grundlage des Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 115 vom 9.05.2008, (AEUV) weiterbestanden hat (EuGH-Urteil vom 19.06.2014 Saint Prix – C-507/12 –, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht -- ZESAR -- 2015, 30; VG Darmstadt, Urteil vom 1.12.2016 5 K 475/15.DA, ZESAR 2017, 350, Rn. 24 ff.).
36Die Verlängerung der Arbeitnehmerfreizügigkeit während des anschließenden Erziehungsurlaubs (Streitzeitraum) ist in §§ 2 - 4 FreizügG/ EU nicht erwähnt; dementsprechend schließt § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG die Kindergeldgewährung für die Zeit des Erziehungsurlaubs aus.
372. Ob dies in Übereinstimmung mit vorrangigen europäischen Rechtsvorschriften steht, ist generell umstritten und im Fall der Klägerin jedenfalls zu verneinen.
38a) Nach einer Auffassung (VG Darmstadt Urteil vom 1.12.2016 5 K 475/15.DA, ZESAR 2017, 350, Rn. 27 unter Hinweis auf den Schlussantrag des Generalanwalts Wahl vom 12.12.2013 in der Rechtssache Saint Prix – C-507/12 –, juris, Rn. 24) entfällt die Arbeitnehmereigenschaft für die Zeit des Erziehungsurlaubs. Zur Begründung wird ausgeführt, der Erziehungsurlaub diene nicht der Erholung der Mutter von den Strapazen der Schwangerschaft, sondern der Sorge und Erziehung des Kindes in den ersten Lebensjahren. Deshalb werde die Arbeitnehmereigenschaft nicht durch die Zeit des Erziehungsurlaubs verlängert, zumindest wenn die junge Mutter wegen der Betreuung des Kleinkinds weder in der Lage sei, eine Beschäftigung aufzunehmen noch dies ernstlich beabsichtige.
39b) Dies dürfte allerdings nicht der differenzierenden Rechtsprechung des EuGH entsprechen. In der Rechtssache Saint Prix (EuGH-Urteil vom 19.06.2014 – C-507/12 –, ZESAR 2015, 30 mit Anm. Eichenhofer, ZESAR 2015, 34) hat der EuGH ausgeführt,
40 dass die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 45 AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses abhängen (Rn. 37);
41 dass Art. 7 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie keine abschließende Aufzählung der Umstände enthält, unter denen einem Wanderarbeitnehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis befindet, dennoch weiterhin die Arbeitnehmereigenschaft zuerkannt werden kann (Rn. 38) und
42 dass die Eingliederung einer jungen Mutter in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nicht entfällt, wenn sie während einiger Monate dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht, sofern sie nur innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet (Rn. 41).
43 Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das Unionsrecht Frauen im Zusammenhang mit der Mutterschaft einen besonderen Schutz gewährt. So werde gemäß Art. 16 Abs. 3 der RL 2004/38/EG für die Bestimmung des Daueraufenthaltsrechts (ununterbrochener fünfjähriger Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats) die Kontinuität des Aufenthalts u. a. durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft nicht berührt (Rn. 45).
44 Bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden kann, habe das betreffende nationale Gericht alle konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (Rn. 42).
45c) Was in diesem Sinne als angemessener Zeitraum gelten kann, braucht im vorliegenden Fall nicht abstrakt bestimmt werden. Worauf Haas (ZESAR 2017, 353, 356 a. E.) zu Recht hinweist, hat die Ausländerbehörde, der die Entscheidung über eine Aberkennung des Freizügigkeitsrechts obliegt, jedenfalls im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass die Wahrnehmung des inländischen Rechts auf Elternzeit tatsächlich möglich sein muss und nicht zum Verlust der Freizügigkeit führen darf, die obendrein eine Ausweisung zur Folge haben könnte. Neben den Mutterschutz tritt hier also der Schutz vor Diskriminierung. Auf das Erfordernis einer hinreichenden Ermessensausübung bei der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts hat im Übrigen auch das VG Darmstadt abgestellt (Urteil vom 1.12.2016 5 K 475/15.DA, ZESAR 2017, 350, Rn. 32 f. mit Anm. Göhle-Sander, jurisPR – ArbR 48/2017 Anm. 2).
46d) Nach alledem ist im Streitfall zu berücksichtigen, dass die Klägerin nach fast einjähriger Berufstätigkeit, kurzer Arbeitslosigkeit und anschließender Mutterschutzzeit, sich zwar für wenige Monate bei dem Jobcenter als Arbeitsuchende abgemeldet hat, sich danach aber bereits 7 Monate nach der Geburt wieder auf eine Arbeitsstelle beworben und 10 ½ Monate nach der Geburt 20 Stunden wöchentlich gearbeitet hat. Das Jobcenter hat der Klägerin Beratungs- und Vermittlungsleistungen gewährt, ohne im Mindesten eine Versagung der Freizügigkeit oder Beendigung ihres Aufenthalts ins Auge zu fassen. Auch gegenüber dem Lebensgefährten stand die Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse und die Teilnahme an einer Maßnahme zur beruflichen Aktivierung und Eingliederung im Vordergrund. Die Sozialbehörde hat den Aufenthalt der Familie und ihre Integration in Deutschland aktiv gefördert, nicht etwa die Feststellung des Wegfalls des Freizügigkeitsrechts und den Entzug der Sozialleistungen (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II) betrieben. Das Jobcenter ist offenkundig vom weiterbestehenden EU-Freizügigkeitsrecht der Klägerin, des Lebensgefährten und des gemeinsamen Kindes ausgegangen.
47Demgegenüber ging es der Familienkasse im Streitfall erkennbar nur um die Versagung der Kindergeldfestsetzung, nicht um ein konsistentes staatliches Handeln zur Unterbindung eines Missbrauchs des EU-Freizügigkeitsrechts. Die gesetzlich vorgesehene Mitteilung an die zuständige Ausländerbehörde (§ 62 Abs. 1 a Satz 5 EStG) hat die Familienkasse (wie regelmäßig auch in anderen Fällen) ignoriert.
48e) Anhand der dargelegten Umstände geht der Senat davon aus, dass der Klägerin auch im Streitzeitraum ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin entsprechend Art. 7 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie zugestanden hat.
493. Aufgrund des Freizügigkeitsrechts und ihres rechtmäßigen Aufenthalts im Inland ist gegenüber der Klägerin für den Streitzeitraum Kindergeld festzusetzen. Dieser Anspruch folgt direkt aus dem europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004, der für alle vom sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit und damit auch für das Kindergeldrecht gilt.
50a) Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 räumt den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten die gleichen Rechte und Pflichten ein wie Inländern. Das heißt, ein EU-Ausländer darf aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegenüber dem Inländer nicht anders behandelt werden. Aufenthalt, Wohnsitz oder Tätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat dürfen für ihn mit keinen Nachteilen verbunden sein, weil andernfalls die grundlegend garantierte Personenfreizügigkeit nicht gegeben wäre. Diese Garantie gilt nach Art. 21 AEUV für alle Unionsbürger. Diese unterliegen gleichermaßen dem Schutz des Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV.
51b) Zu der Vorschrift des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat der EuGH demgemäß entschieden (Urteil vom 01.08.2022 C-411/20 S. ./. Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit, NJW 2022, 2823), diese bewirke eine unmittelbare, nicht gerechtfertigte Diskriminierung. Da Kindergeldleistungen keine Sozialhilfeleistungen, sondern solche der sozialen Sicherheit darstellen, gebe es hierfür auch keine Rechtfertigung; insbesondere Art. 24 Abs. 2 der RL 2004/38/EG könne nicht herangezogen werden, um hier einen Kindergeldausschluss zu rechtfertigen. Entscheidend für die Anwendung des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 sei somit allein die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Diese sei bei Unionsbürgern in den ersten drei Monaten des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 6 RL 2004/38/EG (§ 2 Abs. 5 FreizügG/ EU) materiell voraussetzungslos gegeben.
52c) An diesen Erwägungen ist gleichermaßen die Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG zu messen: Hat der zugewanderte EU-Bürger nach den ersten drei Monaten seiner Einreise weiterhin einen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland, steht ihm, selbst wenn er zwischenzeitlich wirtschaftlich inaktiv und vermögenslos ist, auch entgegen dem Wortlaut des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG Kindergeld zu. Er darf nicht schlechter behandelt werden als ein (wieder eingereister) wirtschaftlich inaktiver und vermögensloser deutscher Staatsbürger.
534. Über die Auszahlung des Kindergelds hat die Familienkasse außerhalb des Klageverfahrens unter Berücksichtigung des geltend gemachten Erstattungsanspruchs des Jobcenters in eigener Zuständigkeit zu befinden.
545. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
556. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.