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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin, eine 1995 in Frankreich geborene, nach eigenen Angaben ledige rumänische Staatsangehörige, beantragte erstmals im März 2014 bei der Beklagten (im folgenden: Familienkasse) Kindergeld für die Tochter T1 (geboren im Februar 2014). Die Klägerin wohnte damals in Z-Stadt, Straße 01. Sie erklärte, der Vater der Tochter sei unbekannt. Mit Bescheid vom 16.05.2014 setzte die Familienkasse laufendes Kindergeld für T1 ab Februar 2014 fest.
3In der Folgezeit hatte die Familienkasse Probleme mit der Übermittlung von Schreiben; die Klägerin hatte sich zwischenzeitlich nach Y-Stadt umgemeldet, zur Straße 02, Straße 03 und zur Straße 04. Im Oktober 2019 beantragte die Klägerin (unter der Adresse Straße 03) zusätzlich Kindergeld für die Tochter T2 (geboren im August 2019 in X-Stadt [mehr als 500 km entfernt von Z-Stadt und Y-Stadt]). Die Klägerin erklärte, der Kindesvater sei unbekannt. Die Familienkasse gewährte daraufhin auch für die Tochter T2 Kindergeld ab August 2019.
4Im Juni 2020 erfuhr die Familienkasse durch eine Meldeabfrage, dass die Tochter T1 am 30.06.2019 und die Tochter T2 am 5.11.2019 weggezogen waren und dass die Kinder zusammen mit der Klägerin am 29.05.2020 durch die Meldebehörde von Amts wegen abgemeldet worden waren. Die Töchter waren vorher in Y-Stadt unter den Adressen Straße 04 (T1) bzw. Straße 03 (T2) gemeldet gewesen.
5Hierauf hob die Familienkasse zunächst die laufende Kindergeldgewährung ab Juli 2020 auf (Bescheid vom 3.06.2020); später hob die Familienkasse auch rückwirkend die Kindergeldfestsetzung ab Juli 2019 für T1 und ab Dezember 2019 für T2 auf und forderte 3.876 € an gezahltem Kindergeld zurück (Bescheid vom 30.06.2020). Beide Bescheide wurden jeweils mit einfachem Brief an die frühere Adresse Straße 03 versandt.
6Im Februar 2021 beantragte die Klägerin bei der Familienkasse erneut Kindergeld für die Töchter. Sie erklärte, sie wohne in Y-Stadt, Straße 05. Die Klägerin legte u. a. vor:
7- Anmeldebestätigungen der Stadt Y, wonach sich die Klägerin und die Töchter am 25.01.2021 unter der Adresse Straße 05 in Y-Stadt angemeldet haben, und zwar mit dem Einzugsdatum 1.01.2021;
8- Auszüge aus einem Mietvertrag vom 28.12.2020, den die Klägerin über die Wohnung Straße 05 (1.OG rechts, ca. 65 m²) abgeschlossen hatte;
9- eine handschriftliche Erklärung, dass die Klägerin keine Arbeit habe, weil sie kleine Kinder zu Hause betreuen müsse.
10Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Kindergeldgewährung für die beiden Töchter für den Zeitraum Februar bis April 2021 ab (Bescheid vom 10.03.2021). Zur Begründung wurde ausgeführt, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, wenn sie laufende inländische Einkünfte z. B. aus nichtselbständiger Arbeit erzielten. Diese Anspruchsvoraussetzungen könnten nicht festgestellt werden.
11Hiergegen erhob die Klägerin, fachkundig vertreten, Einspruch. Sie reichte weitere Unterlagen ein:
12- Nachweis der Zuteilung einer Steueridentifikationsnummer für beide Töchter;
13- AOK-Gesundheitskarten für sich und die beiden Töchter.
14Die Stadt Y (Jobcenter ...) machte einen Erstattungsanspruch auf Kindergeldauszahlungen für beide Kinder geltend, weil sie der Klägerin Leistungen nach dem SGB II gewährte.
15Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 25.05.2021). Zur Begründung verwies die Familienkasse auf die (ab August 2019 gültige) Vorschrift des § 62 Abs. 1 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. V. m. § 2 Abs. 2 des Freizügigkeitsgesetzes/ EU (FreizügG/EU). Hiergegen war das Klageverfahren 9 K 1520/21 Kg anhängig; dieses Verfahren ist inzwischen nach Abhilfe der Behörde für die Monate Februar und März 2021 beendet worden; die Klage wegen April 2021 wird nach Verbindung mit dem vorliegenden Klageverfahren fortgeführt.
16Auf Anfrage der Familienkasse legte die Klägerin auszugsweise (2 Seiten von 12) einen Bescheid vom 21.06.2021 des Jobcenters ... der Stadt Y über den Bezug von SGB II Leistungen ab April 2021 vor sowie eine „Versicherung an Eides Statt“ der Frau C, Straße 06, Y-Stadt, worin diese bestätigt, dass sie der Klägerin „mit meine Unterstützung mit Essen und Trinken geholfen habe für die Ernährung sowie Taschengeld“. Daraufhin setzte die Familienkasse gegenüber der Klägerin ab Mai 2021 für beide Kinder Kindergeld nebst Kinderbonus 2021 fest (Bescheid vom 5.08.2021). Später lehnte die Familienkasse die Kindergeldgewährung für Januar 2021 ab (Bescheid vom 14.10.2021). Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch, der zuständigkeitshalber an die Familienkasse ... abgegeben wurde. Das hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren betriebene Klageverfahren 9 K 393/22 Kg ist inzwischen nach Abhilfe beendet.
17Außerdem hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab November 2021 gemäß § 70 Abs. 3 EStG auf (Bescheid vom 14.10.2021). Den hiergegen erhobenen Einspruch wies die Familienkasse unter Hinweis auf § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG i. V. m. § 2 Abs. 2 FreizügG/EU als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 4.01.2022). Hiernach habe eine EU-Staatsbürgerin (wie hier die Klägerin), die im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründe, ab dem 4. Monat der Einreise einen Anspruch auf Kindergeld, wenn sie entweder erwerbstätig sei, wenn eine frühere Arbeitnehmereigenschaft fortwirke, oder wenn eine nicht erwerbstätige Person ihren Lebensunterhalt selbst bestreite, mit ausreichenden Existenzmitteln und mit eigenem Krankenversicherungsschutz. Dagegen bestehe auch ab dem 4. Monat kein Kindergeldanspruch für Personen, die lediglich SGB II-Leistungen beziehen. Im Streitfall erziele die Klägerin keine Einkünfte, sondern lebe durchgehend und vollumfänglich von Sozialleistungen. Damit stehe ihr kein Kindergeld zu.
18Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage betreffend die Monate November 2021 bis Januar 2022, durch Verbindung erweitert um das Kindergeld für April 2021. Die Klägerin erklärt, sie habe bereits mehr als 5 Jahre ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland. Damit besitze sie das uneingeschränkte Recht auf Freizügigkeit gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 7 i. V. m. § 4 a Abs. 1 FreizügG/ EU. Zwar sei richtig, dass die Meldebestätigung für 2020 erhebliche Lücken aufweise. Tatsächlich habe sich die Klägerin vom 5.11.2019 bis 31.12.2020 „bei Verwandten in der Straße 01 in Z-Stadt“ aufgehalten. Beim Einwohnermeldeamt habe sie sich nicht gemeldet. Sie könne aber (in der Folgezeit nicht näher benannte) Zeugen benennen.
19Die Klägerin beantragt,
20die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 10.03.2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.05.2021 zu verpflichten, für ihre Kinder Kindergeld für den Monat April 2021 festzusetzen sowie
21den Aufhebungsbescheid vom 14.10.2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 4.01.2022 mit der Maßgabe aufzuheben, dass es für die Monate November 2021 bis Januar 2022 bei der Kindergeldfestsetzung bleibt;
22hilfsweise: die Revision zuzulassen.
23Die Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen;
25hilfsweise: die Revision zuzulassen.
26Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene elektronische Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
27E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
28Die Klage ist unbegründet.
29Die Versagung der Kindergeldfestsetzung für April 2021 und die Aufhebung für November 2021 bis Januar 2022 sind rechtmäßig. Die Klägerin besitzt für den Streitzeitraum keinen Kindergeldanspruch, weil sie die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG nicht erfüllt. Diese Vorschrift steht grundsätzlich nicht im Widerspruch zu Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 166 vom 30.04.2004, S. 1, ber. ABl. L 200 vom 7.06.2004, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1149 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 186 vom 11.07.2019, S. 21 m.W.v. 31.07.2019) (im folgenden: VO (EG) Nr. 883/2004).
301. Für die streitigen Monate April 2021 und November 2021 bis Januar 2022 gilt die Vorschrift des § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG, die ihrem Wortlaut nach einem Kindergeldanspruch der Klägerin entgegensteht.
31Die Klägerin hat nämlich einen erneuten Wohnsitz in Deutschland erst seit Januar 2021 glaubhaft gemacht. Dass sie nach ihrer Abmeldung von Amts wegen weiterhin einen Wohnsitz in Deutschland gehabt hat, ist nicht substantiiert; auch der vorherige Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts i. S. d. § 4 a FreizügG/ EU ist nicht belegt und auch nicht sonst ersichtlich. Deshalb greift für den Zeitraum ab April 2021 (4. Monat nach Wohnsitzbegründung) § 62 Abs. 1 a Satz 3 EStG ein. Diese Vorschrift ist mit Wirkung ab August 2019 durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (BGBl. I 2019, 1066) in das Einkommensteuergesetz eingefügt worden. Ersichtliches Ziel ist die Verhinderung einer „unangemessenen Inanspruchnahme“ des Kindergeldes, indem der Bezug dieser Leistung für wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger eingeschränkt und damit eine gezielte Zuwanderung wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger in das deutsche Sozialsystem erschwert werden sollte (vgl. BT-Drs. 19/8691, S. 2). Die Versagung des Kindergelds im Streitfall entspricht dem Gesetzeszweck; denn die in 1995 erstmals nach Deutschland zugewanderte Klägerin, die sich in der Folgezeit wiederholt im Inland angemeldet hat, mit Unterbrechungszeiten nach Abmeldungen von Amts wegen, hat im Streitzeitraum durchwegs nur von Sozialleistungen gelebt, ohne ersichtlich vorher jemals berufstätig gewesen zu sein oder eine Arbeit zu suchen.
322. Die Regelung des § 62 Abs. 1 a Abs. 1 Satz 3 EStG steht nicht im Widerspruch zum europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004, der für alle vom sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit und damit auch für das Kindergeldrecht gilt. Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 räumt den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten die gleichen Rechte und Pflichten ein wie Inländern. Das heißt, ein EU-Ausländer darf aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegenüber dem Inländer nicht anders behandelt werden. Aufenthalt, Wohnsitz oder Tätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat dürfen für ihn mit keinen Nachteilen verbunden sein, weil andernfalls die grundlegend garantierte Personenfreizügigkeit nicht gegeben wäre. Diese Garantie gilt nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 115 vom 9.05.2008, (AEUV) für alle Unionsbürger und damit auch für Nichterwerbstätige wie die Klägerin. Diese unterliegen gleichermaßen dem Schutz des Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV.
33a) Die Diskriminierung ist zu prüfen im Vergleich des wirtschaftlich nicht aktiven und vermögenslosen Unionsbürgers, der nach Deutschland zuwandert, mit einem ebenfalls wirtschaftlich nicht aktiven vermögenslosen deutschen Staatsbürger, der vom Ausland erneut nach Deutschland umzieht. Bei Ersterem wird der Kindergeldbezug versagt, und zwar in den ersten drei Monaten seines inländischen Aufenthalts nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG und für die Folgemonate nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG.
34b) Zu der Vorschrift des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat der EuGH demgemäß entschieden (Urteil vom 01.08.2022 C-411/20 S. ./. Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit, NJW 2022, 2823), diese bewirke eine unmittelbare, nicht gerechtfertigte Diskriminierung. Da Kindergeldleistungen keine Sozialhilfeleistungen, sondern solche der sozialen Sicherheit darstellen, gebe es hierfür auch keine Rechtfertigung; insbesondere Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (im folgenden: RL 2004/38/EG bzw. Unionsbürgerrichtlinie), könne nicht herangezogen werden, um hier einen Kindergeldausschluss zu rechtfertigen. Entscheidend für die Anwendung des Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004 sei somit allein die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Diese sei bei Unionsbürgern in den ersten drei Monaten des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 6 RL 2004/38/EG (§ 2 Abs. 5 FreizügG/ EU) materiell voraussetzungslos gegeben.
35Dementsprechend ist es nur folgerichtig, dass der Gerichtshof auch bei wirtschaftlich inaktiven Unionsbürgern in den ersten drei Monaten einen Kindergeldanspruch annimmt, wenn nach nationalem Recht für die eigenen Staatsangehörigen, die zuletzt in einem anderen Mitgliedstaat gelebt haben, für die ersten drei Monate kein solcher Kindergeldausschluss vorgesehen ist. Nach alledem verstößt die in § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG liegende Ungleichbehandlung gegen Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004.
36c) An diesen Erwägungen ist gleichermaßen die Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG zu messen. Voraussetzung für eine Gleichbehandlung ist allerdings, dass der betreffende EU-Bürger nach den ersten drei Monaten seiner Einreise und weiterhin im Streitzeitraum einen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland (begründet) hat. Denn während der erneut ins Inland eingereiste wirtschaftlich inaktive deutsche Staatsbürger sich im Inland immer rechtmäßig aufhält, ist dies bei einem wirtschaftlich inaktiven und vermögenslosen Unionsbürger, der nicht deutscher Staatsbürger ist, nicht ohne weiteres gegeben. Sein Aufenthalt ist an den Erfordernissen der Art. 7 ff. RL 2004/38/EG zu messen, die der nationale Gesetzgeber im FreizügG/ EU entsprechend umgesetzt hat.
37d) Im Streitfall verfügt die Klägerin für den Zeitraum nach Ablauf von drei Monaten nach Begründung eines erneuten Wohnsitzes in Deutschland über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung i. S. d. FreizügG/ EU oder ein anderes materielles Aufenthaltsrecht: sie erfüllt nicht die Voraussetzungen der §§ 2 – 4 FreizügG/ EU; auch das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts i. S. d. § 4 a FreizügG/ EU ist nicht erkennbar.
38Dabei verkennt der Senat nicht, dass die die zuständige Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts der Klägerin nicht festgestellt hat (vgl. § 5 Abs. 4 FreizügG/ EU bzw. § 2 Abs. 7 FreizügG/ EU); erst recht bestand keine sofortige Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU. Vielmehr durfte sich die Klägerin als Unionsbürgerin unabhängig vom Nicht-Vorliegen ihrer materiellen Freizügigkeitsberechtigung i. S. d. § 2 FreizügG/EU aufgrund der generellen Freizügigkeitsvermutung im Streitzeitraum weiter im Bundesgebiet aufhalten, ohne ausreisepflichtig zu sein (vgl. BSG, Urteil vom 3.12.2015 B 4 AS 44/15 R, NJW 2016, 1464, Rn. 34). Auch reicht das Faktum eines verfestigten tatsächlichen Aufenthalts im Inland aus, um im Falle eines ausländerrechtlichen Vollzugsdefizits angesichts gegenwärtiger Hilfebedürftigkeit jedenfalls Leistungen nach dem SGB XII beanspruchen zu können (BSG-Urteile vom 3.12.2015 B 4 AS 44/15 R, NJW 2016, 1464, Rn. 53 ff. und vom 12.05.2021 B 4 AS 34/20 R, SGb 2022, 115, Rn. 31 ff.). Hierdurch wird der Aufenthalt im Inland allerdings nicht rechtmäßig, entsprechend den Vorgaben des FreizügG/ EU und des Art. 7 ff. RL 2004/38/EG, und ein Kindergeldanspruch der Klägerin wird unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht ausgelöst.
393. Die Rechtsprechung des EuGH steht diesem Ergebnis nicht entgegen.
40Die Entscheidungen Garcia-Nieto (EuGH-Urteil vom 25.02.2016 C-299/14, NJW 2016, 1145, NVwZ 2016, 450), Alimanovic (EuGH-Urteil vom 15.09.2015 C-67/14, NJW 2016, 555, NVwZ 2015, 1517), Dano (EuGH-Urteil vom 11.11.2014 C-333/13, NJW 2015, 145, NVwZ 2014, 1648) und Brey (EuGH-Urteil vom 19.09.2013 C-140/12, NZS 2014, 20) betreffen allerdings Sozialhilfeleistungen, auf die die Ausnahmebestimmung des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 (vgl. auch Erwägungsgrund 10 und Art. 14 RL 2004/38) anwendbar ist, die die Versagung entsprechender Leistungen an nicht Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen durch den Aufnahmemitgliedstaat rechtfertigen kann. Diese Entscheidungen sind auf den Streitfall nicht übertragbar; denn Kindergeld ist als Familienleistung zwar eine Leistung der sozialen Sicherheit, aber eben keine Sozialhilfeleistung (EuGH-Urteil vom 1.08.2022 C-411/20, Familienkasse Niedersachsen-Bremen, NJW 2022, 2823, Rn. 47 f.).
41Dagegen betrifft die Entscheidung KOM ./. UK (EuGH-Urteil vom 14.06.2016 C-308/14, NJW 2016, 2867) britisches Kindergeld; die dargelegten Rechtsgrundsätze sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Hierin führt der EuGH aus,
42 dass grundsätzlich nichts dagegen spricht, die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von dem Erfordernis abhängig zu machen, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen (Rn. 66 und 68),
43 selbst wenn der betreffende Unionsbürger auch nicht in einem anderen Mitgliedstaat entsprechende Familienleistungen bezieht bzw. beziehen kann (Rn. 67, 70 ff.).
44 Allerdings sei in dem Erfordernis des rechtmäßigen Aufenthalts eine mittelbare Diskriminierung zu sehen, weil sich dieses Tatbestandsmerkmal seinem „Wesen nach eher auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten als auf Inländer“ leistungsbegrenzend und damit nachteilig auswirke „und folglich die Gefahr besteht, dass sie die Erstgenannten besonders benachteiligt“ (Rn. 77).
45 Um gerechtfertigt zu sein, müsse eine solche mittelbare Diskriminierung geeignet sein, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Rn. 78).
46 Die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, reiche grundsätzlich aus, um die Möglichkeit zu rechtfertigen, zum Zeitpunkt der Gewährung einer Sozialleistung insbesondere an Personen anderer Mitgliedstaaten, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts durchzuführen. Denn diese Gewährung sei geeignet, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Rn. 80).
47 Um verhältnismäßig zu sein, dürfe die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von Unionsbürgern gemäß Art. 14 Abs. 2 Unterabsatz 2 der RL 2004/38/EG allerdings nicht systematisch durchgeführt werden, sondern nur in Zweifelsfällen erfolgen (Rn. 81 bis 84).
48 Dann liege keine nach Art. 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 verbotene Diskriminierung vor (Rn. 86).
49Diese Anforderungen sind im Streitfall erfüllt. Die Erwägungen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. 19/8691 S. 2 und 64), eine unangemessene Inanspruchnahme des Systems der sozialen Sicherheit in Deutschland zu verhindern, indem EU-Ausländern, die kein Freizügigkeitsrecht im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie innehaben, das Kindergeld versagt wird, sind nicht zu beanstanden. Die geäußerte Befürchtung, dass von einer vorbehaltlosen Kindergeldgewährung an EU-Bürger, die wirtschaftlich inaktiv und vermögenslos sind, und in das deutsche Sozialsystem zuwandern, eine nicht beabsichtigte Anreizwirkung für einen Zuzug aus anderen Mitgliedstaaten ausgehe, ist plausibel. Darüber hinaus bekennt sich der Gesetzgeber unter Bezugnahme auf die obige EuGH-Entscheidung zu der Einschränkung, dass die Prüfung nicht systematisch durchgeführt werden dürfe, sondern nur in bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen (BT-Drucks. 19/8691, S. 63 und 64).
504. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
515. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.