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Der Bescheid vom 12.12.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.05.2023 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Kindergeld für seine Tochter ab dem Monat Dezember 2022 zusteht.
3Der Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger und Vater einer minderjährigen Tochter, R. K., geboren am 00.00.2010. Mutter des Kindes ist die Ehefrau des Klägers, N. K. (geborene X.). Die Ehefrau und die Tochter verfügen ebenfalls ausschließlich über die bulgarische Staatsagenhörigkeit. Der Kläger, die Ehefrau und die Tochter leben in einem gemeinsamen Haushalt miteinander.
4Der Kläger reiste in die Bundesrepublik Deutschland mit seiner Familie erstmals im Jahr 2015 ein. Sie wohnten zunächst gemeinsam in F., Y.-straße. Die Familie lebte seit ihrer Ersteinreise nicht ununterbrochen in Deutschland. Von Juli 2016 bis Dezember 2016 reisten sie für einige Monate nach Bulgarien zurück und meldeten ihren inländischen Wohnsitz für den Zeitraum ab, bevor sie wieder nach F. zurückkehrten. Im Februar 2019 meldeten sie ihren Wohnsitz in F. erneut ab und waren bis Februar 2020 mit keinem inländischen Wohnsitz gemeldet. Während dieser Zeit hob die Familienkasse zuvor festgesetztes Kindergeld ab dem Monat Januar 2019 auf. Dieser Bescheid konnte dem Kläger unter der zuletzt bekannten Anschrift nicht zugestellt werden. Eine Abfrage beim Einwohnermeldeamt ergab, dass der Kläger unbekannt verzogen war. Der Bescheid ist infolgedessen öffentlich zugestellt worden. Im Februar 2020 kehrten der Kläger und seine Familie erneut nach Deutschland und meldeten einen inländischen Wohnsitz an, diesmal in A.-straße, H.. Seit Juli 2020 sind er, seine Ehefrau und die Tochter unter der AdresseI.-straße, Q. gemeldet. Auf die melderechtliche Abfrage der Familienkasse für den Zeitraum vom 25.03.2015 bis 17.02.2022 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen (Bl. 334 f. der Kindergeldakte).
5Von März 2021 bis Ende Oktober 2022 arbeitete der Kläger als Kurierfahrer in einem unbefristeten, abhängigen Beschäftigungsverhältnis für eine monatliche Vergütung von brutto 800,00 Euro. Auf den weiteren Inhalt des Arbeitsvertrags wird Bezug genommen (Bl. 189 f. der Gerichtsakte). Im August 2021 beantragte der Kläger (erneut) für seine Tochter Kindergeld. Die Familienkasse setzte mit Bescheid vom 17.11.2021 Kindergeld für die Tochter ab dem Monat März 2021 bis Mai 2028 fest.
6Nachdem der Kläger mit Wirkung zum Ende Oktober (aus betrieblichen Gründen) gekündigt wurde, bezog er seitdem ausschließlich Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II).
7Vor dem Hintergrund der fehlenden Erwerbstätigkeit des Klägers hob die Beklagte mit Bescheid vom 12.12.2022 die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter ab dem Monat Dezember 2022 auf.
8Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein. Sein Prozessbevollmächtigter teilte mit, dass der Kläger einen Anspruch auf Kindergeld habe, da die Tochter erst 12 Jahre alt sei. Daher bestünde der Anspruch auf Kindergeld unverändert fort.
9Mit Schreiben vom 24.01.2023 führte die Familienkasse hierzu aus, dass ein Kindergeldanspruch vorliegend nur bestehen könne, wenn der Kläger freizügigkeitsberechtigt sei. Die Familienkasse forderte zur abschließenden Bearbeitung über den Einspruch folgende Unterlagen an:
10• „Nachweis über das Ende der Beschäftigung bei U. (z.B. Kündigung, letzte Lohnabrechnung etc.)
11• Nachweis über die tatsächliche Arbeitssuche (Zwischennachrichten oder Absageschreiben von Bewerbungen)
12ODER
13• Nachweis über die Arbeitssuchend-Meldung bei der Agentur fürArbeit/Jobcenter“
14Außerdem fragte sie, ob ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestehe.
15Der Kläger legte daraufhin das Kündigungsschreiben des Arbeitgebers vor und reichte erneut einen Bescheid über den Bezug von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum März und April 2023 ein.
16Mit Schreiben vom 18.04.2023 forderte die Familienkasse (nochmals) die Einreichung der folgenden Unterlagen:
17• „eine Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit für B. von der Agentur für Arbeit (nicht vom Jobcenter)“;
18• „schriftliche Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit beziehungsweise des zuständigen Jobcenters über die Anmeldung zur Arbeitssuche“;
19• „Nachweise über eigene Bemühungen um eine Beschäftigung (z.B.Zwischenmitteilungen von Betrieben, Absageschreiben, Einladungen zu Vorstellungsgesprächen oder Ähnliches) für den Zeitraum ab November 2022“.
20Ferner fragte die Familienkasse erneut nach, ob ein Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestehe.
21Eine Antwort hierauf erfolgte von Seiten des Klägers nicht.
22Sodann wies die Familienkasse den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 22.05.2023 als unbegründet zurück, da die mit Schreiben vom 18.04.2023 angeforderten Unterlagen nicht nachgereicht wurden.
23Mit der am 22.06.2023 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
24Zur Begründung der Klage führt der Kläger aus, dass nach seinem Dafürhalten die für den Anspruch auf Kindergeld erforderlichen Unterlagen vorlägen. Denn die Tochter des Klägers sei zwölf Jahre alt und gehe hier zur Schule.
25Im Zusammenhang mit dem parallel geführten Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung (erledigtes Verfahren mit dem Aktenzeichen: 9 V 1715/23 A (Kg)) fügte der Kläger im Übrigen noch ein Schreiben bei, dem zu entnehmen sei, dass er sich bei einem Reinigungsservice beworben habe. Ferner reichte er ein handschriftlich verfasstes Schreiben ein, datierend vom 12.07.2023, dass er sich bei der Familienkasse melden wolle, sobald er Rückmeldung erhalten habe. Seit dem 02.10.2023 ist der Kläger mittlerweile als Gebäudereiniger beschäftigt.
26Der Kläger beantragt sinngemäß,
27den Bescheid vom 12.12.2022 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.05.2023 aufzuheben.
28Die Beklagte beantragt,
29die Klage abzuweisen.
30Die Beklagte hält an ihrer Rechtsauffassung fest und nimmt Bezug auf die Einspruchsentscheidung.
31Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf dieSchriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene elektronische Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
32Entscheidungsgründe
33Die zulässige Klage ist begründet.
34Der angefochtene Aufhebungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 derFinanzgerichtsordnung (FGO)).
351. Dem Kläger stand im streitigen Zeitraum Anspruch auf Kindergeld zu.
36Der Streitzeitraum umfasst den Monat ab der Aufhebung des Kindergeldes – vorliegend ab Dezember 2022 – und reicht bis zum Ende des Monats, in dem die Einspruchsentscheidung bekanntgegeben wurde – vorliegend Mai 2023 – (vgl. BFH Urteil vom 25.09.2014, III R 36/12, BStBl. II 2015, 286, Rn. 15).
37a) Die Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) lagen im Streitzeitraum vor.
38b) Grundsätzlich konnte nach nationalem Recht dem Kläger als Staatsangehörigereines anderen EU-Mitgliedstaats der Anspruch auf Kindergeld nur unter den einschränkenden Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1a EStG zustehen.
39aa) Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat – vorbehaltlich des § 62 Abs. 1a Satz 2 EStG – für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld. Nach Ablauf dieser Frist hat er gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war.
40bb) Der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift ist eröffnet, da der Kläger Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union ist und keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
41cc) Die Vorschrift ist auch zeitlich anwendbar. § 62 Abs. 1a EStG in dieser am 18.07.2019 geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die – wie im vorliegenden Fall – Zeiträume betreffen, die nach dem 31.07.2019 beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).
42Der Kläger ist mit seiner Familie zwar bereits erstmals im Jahr 2015 nach Deutschland eingereist und begründete auch einen Wohnsitz im Inland. Durch die zwischenzeitlichen Ausreisen wurde der inländische Wohnsitz jedoch stets aufgegeben und durch die Einreisen wieder neubegründet. Weder aus gegenteiligem Sachvortrag in den Schriftsätzen noch den Akten ergeben sich Anhaltspunkte, dass trotz Abmeldungen bei den Meldebehörden ein Wohnsitz im Inland stetig aufrechterhalten wurde. Zuletzt begründete der Kläger mit seiner Familie einen inländischen Wohnsitz im Jahr 2020.
43c) Auf die Regelungen in § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 EStG kommt es vorliegend nicht an, weil sich das Begehren des Klägers auf die Aufhebung der Festsetzung von Kindergeld ab Dezember 2022 richtet. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Kläger seit mehr als zwei Jahren nach der letzten Wiedereinreise im Inland wohnhaft.
44d) Die den Kindergeldanspruch aufrechterhaltenden Voraussetzungen nach § 62Abs. 1a Satz 3 EStG erfüllt der Kläger im Streitzeitraum nicht.
45Die Vorschrift knüpft den Kindergeldanspruch daran, ob ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht nach den Absätzen 2 und 3 des § 2 FreizügG/EU besteht. Hieran fehlt es.
46aa) Gemäß § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt:
47„1. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
481a. Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden,
492. Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige),
503. Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 57 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind,
514. Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen,
525. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
536. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,
547. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben.“
55bb) Nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU bleibt das Recht auf Freizügigkeit für Arbeitnehmer „unberührt bei
561. vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall,
572. unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit,
583. Aufnahme einer Berufsausbildung, wenn zwischen der Ausbildung und der früheren Erwerbstätigkeit ein Zusammenhang besteht; der Zusammenhang ist nicht erforderlich, wenn der Unionsbürger seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren hat.
59Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt.“
60cc) Der Kläger war im konkreten Streitzeitraum nicht erwerbstätig und bestritt seinen Lebensunterhalt ausschließlich von Leistungen nach dem SGB II. Auf sein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU konnte er sich nicht mehr berufen. Dieses ist durch Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses entfallen (vgl. Dienelt, in:Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 2 FreizügG/EU Rn. 62 m.w.N.; zur Folgewirkung der Arbeitnehmereigenschaft beim abgeleiteten Aufenthaltsrechtsiehe sogleich unter Abschnitt dd) (4)).
61(1) Ein im Streitzeitraum (weiterhin) bestehendes Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2oder Abs. 3 FreizügG/EU konnte der erkennende Senat mangels Mitwirkung von klägerischer Seite sowohl im Klage- als auch außergerichtlichem Vorverfahren nicht feststellen. Auch aus den Akten ergibt sich nichts Gegenteiliges.
62Dies betrifft insbesondere das grundsätzlich in Betracht gekommene Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU. Die Eigenschaft als Arbeitssuchender im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU setzt voraus, dass sich der Unionsbürger ernsthaft und nachhaltig um eine Arbeitsstelle bemüht und sein Bemühen objektiv nicht aussichtslos ist (Hessischer VGH, Beschluss vom 16.04.2021, 9 A 2282/19, BeckRS 2021, 11616, Rn. 28; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 2 FreizügG/EU Rn. 68; Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 2 FreizügG/EU Rn. 14). Hierzu bedarf es intensiver Eigeninitiative. Dem arbeitssuchenden Ausländer obliegt es, die Stellensuche im Einzelnen in nachprüfbarer Weise zu dokumentieren und Bewerbungs- und Antwortschreiben vorzulegen (Hessischer VGH, Beschluss vom 16.04.2021, 9 A 2282/19, BeckRS 2021, 11616, Rn. 28; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 2 FreizügG/EU, Rn. 69). Es genügt danach nicht die bloße Meldung bei der Bundesagentur für Arbeit als arbeitssuchend und die Wahrnehmung sämtlicher von dort vermittelter Jobangebote, um als Arbeitssuchender i. S. d. § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU zu gelten (Hessischer VGH,Beschluss vom 16.04.2021, 9 A 2282/19, BeckRS 2021, 11616, Rn. 28). Der Kläger hat sich auf mehrfache Nachfrage von Seiten der Familienkasse zu Nachweisen über Bemühungen um eine Beschäftigung, wie etwa Zwischenmitteilungen von Betrieben, Absageschreiben, Einladungen zu Vorstellungsgesprächen etc., nicht geäußert. Lediglich im Rahmen des parallel geführten AdV-Verfahrens wurde ein Schreiben mit einer Zwischenmitteilung vorgelegt, wonach sich der Kläger bei einem Reinigungsservice beworben habe. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Stelle, für die sich der Antragsteller im streitgegenständlichen Zeitraum beworben hatte. Dieses Schreiben ist damit nicht geeignet nachzuweisen, dass sich der Kläger nach dem Beschäftigungsende in dem Transportunternehmen im Jahr 2022 darum bemüht hat, eine Arbeit ernsthaft zusuchen.
63Der Kläger ist auch nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU im Streitzeitraum freizügigkeitsberechtigt gewesen. Hiernach sind nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Erforderlich wäre, dass er über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügte (§ 4 Satz 1 FreizügG/EU). Über ausreichende Existenzmittel im Sinne dieser Vorschrift und im Lichte des Unionsrechts verfügt der Betroffene nur, wenn er in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse mit den ihm zur Verfügung stehenden Existenzmitteln selbst zu decken (vgl. EuGH, Urteil vom 09.01.2007, C-1/05, Jia, ECLI:EU:C:2007:1 Rn. 37; Tewocht, in: BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, § 4 FreizügG/EU Rn. 9). Insbesondere ein langandauernder und/oder vollumfänglicher Sozialhilfebezug ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass der Betroffene nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (FG Düsseldorf, Urteil vom 27.04.2023, 14 K 1477/21 Kg, BeckRS 2023, 10024, Rn. 39; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 03.03.2022, 13 ME 507/21, InfAuslR 2022, 222, Rn. 17; EuGH, Urteil vom 14.6.2016, C-308/14, Kommission/Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2016:436 Rn. 80). Gemessen an diesen Grundsätzen verfügte der Kläger im Streitzeitraum nicht über ausreichende Existenzmittel. Seit Juni 2022 bezog der Kläger parallel zu seiner Tätigkeit als Kurierfahrer Leistungen nach SGB II und lebte seit November 2022 nur noch von Leistungen staatlicher Unterstützung. Anhaltspunkte, die diese Indizwirkung fehlender ausreichender Existenzmittel widerlegen könnten, sind zu keinem Zeitpunkt vorgetragen worden noch sonst aus den Akten ersichtlich. Indem der Kläger immer wieder seinen Leistungsbescheid nach SGB II vorlegte, gab er vielmehr zu erkennen, dass er darüber hinaus nicht über ausreichende Existenzmittel verfügte.
64Sonstige Tatsachen, die ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU begründen könnten, etwa ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU, wurden auch zu keinem Zeitpunkt vorgetragen. Anhaltspunkte dafür sind auch nicht aus den Akten ersichtlich.
65(2) Der Kläger hat auch keine Unterlagen vorgelegt, die ein Freizügigkeitsrecht nach§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU im Streitzeitraum begründen würden. Insbesondere ist – trotz mehrfache Nachfrage von Seiten der Familienkasse – keine Bestätigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit von der zuständigen Agentur für Arbeit im Sinne des§ 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU vorgelegt worden. Die Vorlage dieser Bescheinigung ist konstitutiv (Tewocht, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, § 2 FreizügG/EURn. 51). Dieses Erfordernis verstößt auch nicht gegen Unionsrecht (auch Art. 7 Abs. 4 Buchst. b) und c) der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 verlangen für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts eine ordnungsgemäß bestätigte Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit).
66dd) Dem Kläger stand jedoch im Streitzeitraum ein sog. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 vom 5. April 2011 (VO 492/2011) und ein damit einhergehendes Gleichbehandlungsgebot nach Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 zu.
67(1) In Art. 10 VO 492/2011 heißt es:
68„Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.
69Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“
70(2) Art. 7 Absätze 1 und 2 der VO 492/2011 bestimmen:
71„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
72(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“
73(3) Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann aus Art. 10 VO 492/2011 ein sog. abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines Elternteils folgen (EuGH, Urteil vom 06.10.2020, C-181/19, Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794Rn. 35 f.; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 17.09.2002, C-413/99, Baumbast und R, ECLI:EU:C:2002:493; EuGH, Urteil vom 23.02.2010, C-480/08, Teixeira, ECLI:EU:C:2010:83; EuGH, Urteil vom 23.02.2010, C-310/08, Ibrahim und Secretary of State for the Home Department, ECLI:EU:C:2010:80).
74Dieses Aufenthaltsrecht ist unionsrechtlich autonom und nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft (vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.2020, C-181/19, Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794 Rn. 38; Janda, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Stand: November 2023, § 62 EStG, 5. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht C Rn. 28). Maßgeblich ist allein, dass dem Kind ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 zusteht und der Elternteil, der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnimmt, beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist. Unerheblich ist insbesondere, ob ausreichende Existenzmittel und umfassender Krankenversicherungsschutz vorliegen (EuGH, Urteil vom 06.10.2020,C-181/19, Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794 Rn. 37 ff.).
75(4) Des Weiteren hat derjenige, dem ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 zusteht, ein Recht auf Gleichbehandlung nach Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011. Dies gilt selbst dann, wenn die einst erworbene Arbeitnehmereigenschaft nicht mehr besteht. Die einmal erworbene Arbeitnehmereigenschaft wirkt mit anderen Worten fort (EuGH, Urteil vom 06.10.2020, C-181/19, Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794 Rn. 43). DennArt. 7 Abs. 2 VO 492/2011 spricht nicht ausschließlich vom Arbeitnehmer, sondern nur von „Er“. In Art. 7 Abs. 1 VO 492/2011 wiederum ist nicht nur der aktive Arbeitnehmer genannt, sondern auch derjenige, der „arbeitslos geworden ist“. Vor diesem Hintergrund hat neben dem Kind, welches im Aufnahmemitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 der VO 492/2011 hat, ebenso sein Elternteil, der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnimmt, das Recht auf Gleichbehandlung nach Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 und das selbst dann, wenn dieser Elternteil seine Arbeitnehmereigenschaft zwischenzeitlich verloren hat (EuGH, Urteil vom 06.10.2020, C-181/19, Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794 Rn. 54 f.).
76(5) Eine andere Beurteilung kann sich lediglich dann ergeben, wenn ein EU-Staatsangehöriger die Arbeitnehmerfreizügigkeit allein zu dem Zweck ausübt, um in einem anderen Staat Sozialleistungen zu erhalten, d.h. sich in missbräuchlicher Weise auf das Freizügigkeitsrecht beruft (vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.2020, C-181/19,Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794 Rn. 68 und Rn. 76 m.w.N. zur Rechtsprechung; siehe auch BSG, Urteil vom 27.01.2021, B 14 AS 25/20 R). Anhaltspunkte für derart missbräuchliches Handeln des Klägers sind nicht ersichtlich.
77(6) Aus dem abgeleiteten Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 folgt im Übrigen, dass diese Wertung auch im Gleichbehandlungsgebot nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 (VO 883/2004) zu beachten ist (vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.2020, C-181/19, Jobcenter Krefeld, ECLI:EU:C:2020:794 Rn. 80 ff.). Diese Verordnung ist im Kindergeldrecht nach Art. 3 Abs. 1 Buchst j) („Familienleistungen“) anwendbar (vgl. EuGH, Urteil vom 01.08.2022, C-411/20, Familienkasse Niedersachsen-Bremen, NJW 2022, 2823, Rn. 34 f.). Nach Art. 4 VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
78(7) Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für das abgeleitete Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 VO 492/2011. Der Kläger war von März 2021 bis Ende Oktober 2022 als Arbeitnehmer beschäftigt. Die (vergangene) Arbeitnehmertätigkeit des Klägers nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2020 begründete für seine minderjährige Tochter den Anspruch, am allgemeinen Unterricht im Inland teilzunehmen und begründet damit ihr Aufenthaltsrecht (vgl. nur EuGH, Urteil vom 17.09.2002, C-413/99, Baumbast und R, ECLI:EU:C:2002:493 Rn. 51; Hailbronner, in: Dauses/Ludwigs, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand: Oktober 2023, Kapitel D. I. Rn. 11;Steinmeyer, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 5. Auflage 2024, Art. 10 VO 492/2011 Rn. 3 m.w.N.). Die schulpflichtige Tochter lebt gemeinsam mit dem Kläger und der Mutter in einem Haushalt. Die Mutter des Kindes ist die Ehefrau des Klägers. Der Kläger nimmt (neben seiner Ehefrau) die elterliche Sorge für die Tochter tatsächlich wahr. Anhaltspunkte für das Gegenteil sind nicht ersichtlich. Die sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebenden Voraussetzungen für das abgeleitete Freizügigkeitsrecht des Klägers aus Art. 10 VO 492/2011 sind damit im Streitzeitraum erfüllt.
79Hieraus folgt für den Kläger ein Anspruch auf Gleichbehandlung nach Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 sowie nach Art. 4 VO 883/2004. Dass er im Streitzeitraum arbeitslos war, steht dem nicht entgegen.
80ee) Aus den unionsrechtlichen Ansprüchen auf Gleichbehandlung folgt vorliegend, dass dem Kläger Anspruch auf Kindergeld zusteht.
81(1) Inländische Arbeitnehmer bzw. inländische Staatsangehörige haben einen Anspruch auf Kindergeld, wenn die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfüllt sind und keine sonstigen Vorschriften, etwa nach § 64 Abs. 2 EStG, dem Anspruch entgegenstehen.
82Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1 EStG. Unterschiedslos anzuwendende Ausschlusstatbestände sind vorliegend nicht erfüllt.
83Soweit nationale Vorschriften, welche für inländische Arbeitnehmer bzw. inländische Staatsangehörige nicht gelten, dem Anspruch des Klägers auf Kindergeld entgegenstehen, sind diese vor dem Hintergrund von Art. 10 VO 492/2011 i.V.m. Art. 7 Abs. 2 VO 492/2011 sowie i.V.m. Art. 4 VO 883/2004 und nach Maßgabe des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anzuwenden.
84(2) § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, soweit grundsätzlich Kindergeldberechtigte, die nur ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 haben – wie im vorliegenden Fall – vom Kindergeldanspruch ausgeschlossen sind.
85§ 62 Abs. 1a Satz 3 EStG schließt den EU-Ausländer, der kein Aufenthaltsrecht nach§ 2 Abs. 2 und Abs. 3 FreizügG/EU hat, vom Anspruch auf Kindergeld kategorisch aus. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 ist in § 2 Abs. 2 und Abs. 3 FreizügG/EU nicht enthalten (so auch Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Sozialrecht, 2019, S. 8 f; Janda, ZRP 2019, 94, 95; a.A. nunoffenbar dies., in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Stand: November 2023, § 62 EStG, 5. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht C Rn. 28, wonach das abgeleitete Freizügigkeitsrecht von der Verweisung in § 62 Abs. 1a Staz 3 EStG ebenfalls erfasst sei).
86Die Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG steht dem Kindergeldanspruch des Klägers nicht entgegen, da sie im konkreten Fall nicht anzuwenden ist.
872. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
883. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zugelassen worden.