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Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheids vom 16. Juli 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Dezember 2022 verpflichtet, der Klägerin Energiesteuer von ... € zu erstatten.
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Zinsen von einhalb Prozent für jeden Monat von dem Zeitpunkt der Entrichtung der mit dem Bescheid vom 16. Juli 2019 festgesetzten Energiesteuer am 12. August 2019 bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit am 23. Dezember 2022 zu zahlen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin stellt Polyolefine her. Bei der Herstellung der Polyolefine fallen unter anderem gasförmige Kohlenwasserstoffe der Unterposition 2711 19 00 der Kombinierten Nomenklatur (KN) – sog. Raffinat-1 – an. Ihr wurde die Erlaubnis erteilt, in ihrem Betrieb in O. unter anderem derartige Energieerzeugnisse unter Steueraussetzung herzustellen.
3Am 6. Juni 2019 entnahm die Klägerin dem ihr bewilligten Steuerlager ... kg Raffinat-1, das mit einem Tankschiff zu der in Antwerpen/Belgien ansässigen Z. befördert wurde. Der Z. war gleichfalls ein Steuerlager für Erzeugnisse der Unterposition 2711 19 00 KN bewilligt worden. Die für den Versand des Raffinats-1 zuständigen Arbeitnehmer der Klägerin hatten übersehen, dass das Erzeugnis unter Steueraussetzung zu der Z. zu befördern und hierfür ein elektronisches Verwaltungsdokument zu übermitteln war. Deshalb unterblieb eine Beförderung des Raffinats-1 mit einem vereinfachten Begleitdokument nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3649/92 (VO Nr. 3649/92) der Kommission vom 17. Dezember 1992 über ein vereinfachtes Begleitdokument für die Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren, die sich bereits im steuerrechtlich freien Verkehr des Abgangsmitgliedstaats befinden (ABl. EG L 369/17). Die Z. nahm das Raffinat-1 in das ihr bewilligte Steuerlager auf, was die belgische Zollverwaltung unter der Dossiernummer N01 bestätigte (Bl. 31 der Einspruchsakte).
4Die Klägerin gab am 9. Juli 2019 beim beklagten Hauptzollamt eine Steueranmeldung ab, mit der sie beantragte, ihr für das am 6. Juni 2019 zur Z. beförderte Raffinat-1 eine Energiesteuerentlastung von ... € nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Energiesteuergesetzes (EnergieStG) vom 15. Juli 2006 (BGBl. I, 1534), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 26. Juni 2018 (BGBl. I, 888), zu gewähren. Das beklagte Hauptzollamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 16. Juli 2019 ab und setzte gegen die Klägerin ... € Energiesteuer fest, weil das Raffinat-1 nicht mit dem nach Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG (Richtlinie 2008/118) des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. EU 2009 L 9/12) erforderlichen vereinfachten Begleitdokument befördert worden sei. Die Klägerin entrichtete die festgesetzte Energiesteuer am 12. August 2019.
5Gegen die Ablehnung der Erstattung der Energiesteuer legte die Klägerin Einspruch ein, mit dem sie vortrug: Die Beförderung mit einem vereinfachten Begleitdokument sei keine materielle Voraussetzung für das Bestehen eines Erstattungsanspruchs, weil Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 nur auf Art. 33 Abs. 1 und nicht auf Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 verweise. Jedenfalls könne es sich bei der Beförderung einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware mit einem vereinfachten Begleitdokument nicht um eine materielle Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch handeln. Andernfalls komme es zu einer systemwidrigen Doppelbesteuerung. Ihre Arbeitnehmer hätten bei dem Versand des Raffinats-1 zur Z. übersehen, dass es sich um ein verbrauchsteuerpflichtiges Energieerzeugnis gehandelt habe. Sie habe erst nach der Beförderung erkannt, dass ein vereinfachtes Begleitdokument hätte verwendet werden müssen. Das formelle Erfordernis des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EnergieStG habe sie deshalb nicht erfüllen können. Diese Bestimmung verstoße gegen das Unionsrecht. Ihr stehe der von ihr geltend gemachte Erstattungsanspruch daher unmittelbar auf Grund von Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 zu. Hierfür reiche es aus, dass die Z. das Raffinat-1 in das ihr bewilligte Steuerlager aufgenommen habe. Eine Entrichtung der Verbrauchsteuer in Belgien sei nicht erforderlich.
6Das beklagte Hauptzollamt wies den Einspruch mit Entscheidung vom 13. Dezember 2022 als unbegründet zurück und führte aus: Nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EnergieStG sei zwingende Voraussetzung für einen Entlastungsanspruch, dass das Energieerzeugnis mit einem vereinfachten Begleitdokument nach Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 befördert worden sei. Das sei im Streitfall nicht geschehen. Daher sei die Steuer durch die Entnahme des Raffinats-1 aus dem Steuerlager in O. entstanden. Aus dem Unionsrecht ergebe sich nichts Anderes. Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 beziehe sich auf die in Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 geregelten Fälle. Deshalb hätte auch gemäß Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 für die Beförderung des Raffinats-1 von O. nach Antwerpen ein vereinfachtes Begleitdokument verwendet werden müssen. Die Beförderung des Erzeugnisses mit einem vereinfachten Begleitdokument sei somit auch nach dem Unionsrecht eine materielle Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch. Das verstoße nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Verwendung des vereinfachten Begleitdokuments sei zur Gewährleistung der Steueraufsicht vielmehr erforderlich, um Kontrollen durchführen zu können.
7Die Klägerin wiederholt mit ihrer Klage im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren. Darüber hinaus trägt sie vor: Das beklagte Hauptzollamt sei jedenfalls nach Art. 11 der Richtlinie 2008/118 zur Erstattung der Energiesteuer verpflichtet, um dem Grundsatz der Besteuerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Bestimmungsmitgliedstaat zu genügen.
8Die Klägerin beantragt,
91. das beklagte Hauptzollamt unter Aufhebung seines Bescheids vom 16. Juli 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Dezember 2022 zu verpflichten, ihr Energiesteuer von ... € zu erstatten;
2. das beklagte Hauptzollamt zu verurteilen, ihr Zinsen von dem Zeitpunkt der Entrichtung der mit dem Bescheid vom 16. Juli 2019 festgesetzten Steuer am 12. August 2019 bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit am 23. Dezember 2022 zu zahlen.
Das beklagte Hauptzollamt beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung verweist es auf seine Einspruchsentscheidung.
15E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
16Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 16. Juli 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Dezember 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Das beklagte Hauptzollamt hat es zu Unrecht abgelehnt, der Klägerin Energiesteuer von ... € zu erstatten.
17Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren ist § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG in der am 6. Juni 2019 geltenden Fassung. Obgleich es sich vorliegend um eine Verpflichtungsklage handelt, kann im Streitfall noch nicht § 46 Abs. 2 Nr. 2 EnergieStG in der Fassung des Art. 4 des Gesetzes vom 30. März 2021 (BGBl. I, 607) angewendet werden, nach dem die Beförderung mit einem vereinfachten Begleitdokument nicht mehr erforderlich ist. Diese Änderung der Rechtslage kann sich nicht auf die am 6. Juni 2019 geltende Rechtslage auswirken, weil zu diesem Zeitpunkt die Beförderung einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware mit einem vereinfachten Begleitdokument grundsätzlich noch erforderlich war (§ 67 Abs. 1 EnergieStG in der Fassung des Art. 4 des Gesetzes vom 30. März 2021; vgl. auch Bundesfinanzhof – BFH –, Beschluss vom 24. Juli 2017 VII B 165/16, BFH/NV 2017, 1637 Randnr. 9).
18Bei dem Raffinat-1, das als gasförmiger Kohlenwasserstoff in die Unterposition 2711 19 00 KN einzureihen ist, handelt es sich um ein Energieerzeugnis im Sinne des § 4 Nr. 4 EnergieStG, das nachweislich versteuert worden ist. Das Raffinat-1 wurde am 6. Juni 2019 aus dem der Klägerin bewilligten Steuerlager entfernt, ohne dass sich ein weiteres Steueraussetzungsverfahren angeschlossen hat (§ 8 Abs. 1 Satz 1 EnergieStG). Deshalb hat das beklagte Hauptzollamt mit dem Bescheid vom 16. Juli 2019 die Energiesteuer festgesetzt, welche die Klägerin entrichtet hat und deren Erstattung sie begehrt.
19Nach dem Wortlaut des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EnergieStG wird die Steuerentlastung im Fall des § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG unter anderem nur gewährt, wenn der Antragsteller die Energieerzeugnisse mit den Begleitpapieren nach Art. 34 der Richtlinie 2008/118 befördert hat. Hierbei handelt es sich um das vereinfachte Begleitdokument nach Art. 1 VO Nr. 3649/92 (§ 1 Satz 1 Nr. 12 der Verordnung zur Durchführung des Energiesteuergesetzes; Bongartz in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStG/StromStG, § 46 EnergieStG Randnr. 15). Die Klägerin hat das Raffinat-1 am 6. Juni 2019 unstreitig nicht mit einem vereinfachten Begleitdokument nach Art. 1 VO Nr. 3649/92 zur Z. befördern lassen.
20Nach Überzeugung des Senats steht das Unterbleiben der Beförderung des Raffinats-1 mit einem vereinfachten Begleitdokument gleichwohl dem Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Energiesteuer nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG nicht entgegen. Vielmehr ist § 46 Abs. 2 Nr. 1 EnergieStG dergestalt richtlinienkonform auszulegen, dass in Fällen, in denen ein Energieerzeugnis unstreitig in ein in einem anderen Mitgliedstaat vorhandenes Steuerlager aufgenommen worden ist, auf die Beförderung mit einem vereinfachten Begleitdokument verzichtet werden kann.
21Nach dem Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung müssen die mit der Auslegung des einzelstaatlichen Rechts betrauten einzelstaatlichen Gerichte bei dessen Anwendung sämtliche einzelstaatlichen Rechtsnormen berücksichtigen und die im einzelstaatlichen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union – EuGH –, Urteil vom 11. November 2015 C-505/14, ECLI:EU:C:2015:742 Randnr. 34).
22§ 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG beruht auf Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118. Art. 37 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. EU L 58/4), der am 18. März 2020 in Kraft getreten ist (Art. 57 Unterabs. 1 dieser Richtlinie), ist im Streitfall noch nicht anzuwenden.
23Nach Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 wird die Verbrauchsteuer auf Antrag im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr erstattet oder erlassen, wenn die zuständigen Behörden des anderen Mitgliedstaats feststellen, dass der Steueranspruch in diesem Mitgliedstaat entstanden ist und die Steuerschuld dort auch erhoben wurde. Aus dieser Bestimmung ergibt sich nicht, dass der Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Verbrauchsteuer davon abhängig sein soll, dass die verbrauchsteuerpflichtige Ware mit einem vereinfachten Begleitdokument in einen anderen Mitgliedstaat befördert worden ist (vgl. Bongartz in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStG/StromStG, § 46 EnergieStG Randnr. 15; Bongartz in Bongartz/Schröer-Schallenberg, Verbrauchsteuerrecht, 3. Auflage, E 137; Möhlenkamp in Möhlenkamp/Milewski, EnergieStG/StromStG, 2. Auflage, § 46 EnergieStG Randnr. 24; Falkenberg, EnergieStG –eKommentar, Fassung vom 1. Januar 2016, § 46 Randnr. 18; offen gelassen vom Finanzgericht – FG – Hamburg, Urteil vom 1. Dezember 2021 – 4 K 120/18, juris Randnr. 38). Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 bezieht sich zudem nur auf Art. 33 Abs. 1 dieser Richtlinie. Selbst wenn nach Art. 34 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren in einen anderen Mitgliedstaat mit einem vereinfachten Begleitdokument zu erfolgen hat, bedeutet das nach der Systematik des Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 nicht, dass der dort geregelte Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Verbrauchsteuer von einer Beförderung der Ware mit einem vereinfachten Begleitdokument abhängig ist.
24Anders als das beklagte Hauptzollamt meint, handelt es sich daher bei dem Erfordernis des § 46 Abs. 2 Nr. 1 EnergieStG der Beförderung der Energieerzeugnisse mit einem vereinfachten Begleitdokument lediglich um eine formelle Voraussetzung für einen Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Energiesteuer. Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 begründet indes einen obligatorischen Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Verbrauchsteuer, wenn eine verbrauchsteuerpflichtige Ware in einen anderen Mitgliedstaat befördert wird als denjenigen, in dem die Ware in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden ist (vgl. Möhlenkamp in Möhlenkamp/Milewski, EnergieStG/StromStG, 2. Auflage, § 46 EnergieStG Randnr. 24; ähnlich Bongartz in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStG/StromStG, § 46 EnergieStG Randnr. 15). Dieser Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Verbrauchsteuer soll Doppelbesteuerungen zwischen den Mitgliedstaaten vermeiden und sicherstellen, dass die Steuer in dem Mitgliedstaat der Bestimmung und des Verbrauchs erhoben wird (vgl. EuGH, Urteil vom 5. März 2015 C-175/14, ECLI:EU:C:2015:142 Randnr. 20 f.). Demgemäß darf ein Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Verbrauchsteuer für eine Ware, die in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen befördert worden ist, in dem sie in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden ist, nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Ware mit einem vereinfachten Begleitdokument befördert worden ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH können die Mitgliedstaaten für die Verletzung formeller Anforderungen zwar die Verhängung einer Geldbuße vorsehen. Die Verletzung formeller Anforderungen kann jedoch eine nach dem Unionsrecht vorgesehene Steuerbefreiung für Erzeugnisse nicht in Frage stellen, wenn die nach dem Unionsrecht vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung vorliegen (vgl. EuGH, Urteile vom 27. Juni 2018 C-90/17, ECLI:EU:C:2018:498 Randnr. 44; vom 7. November 2019 Rs. C-68/18, ECLI:EU:C:2019:933 Randnr. 59). Denn die Versagung einer Verbrauchsteuerbefreiung durch eine einzelstaatliche Behörde allein auf Grund des Umstands, dass gewisse formelle Anforderungen nicht erfüllt wurden, ohne dass geprüft wurde, ob die materiellen Voraussetzungen für die steuerfreie Verwendung einer Ware erfüllt sind, geht über das hinaus, was erforderlich ist, um eine korrekte und einfache Anwendung der Steuerbefreiungen sicherzustellen sowie Steuerhinterziehung oder Missbrauch zu verhindern (vgl. EuGH, Urteile vom 2. Juni 2016 C-355/14, ECLI:EU:C:2016:403 Randnr. 62; vom 13. Juli 2017 C-151/16, ECLI:EU:C:2017:537 Randnr. 46). Entsprechendes hat für einen auf Grund des Unionsrechts für die Mitgliedstaaten obligatorisch vorgesehenen Anspruch auf Erstattung oder Erlass einer Verbrauchsteuer nach Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 zu gelten.
25Die materiellen Voraussetzungen für den Anspruch auf Erstattung der Energiesteuer liegen im Streitfall vor. Das in Rede stehende Raffinat-1 wurde am 6. Juni 2019 in einen anderen Mitgliedstaat, in das Königreich Belgien, befördert. Die Klägerin hat eine ordnungsgemäße Empfangsbestätigung der Z. sowie eine amtliche Bestätigung des anderen Mitgliedstaats darüber vorgelegt, dass das Raffinat-1 dort ordnungsgemäß steuerlich erfasst worden ist (§ 46 Abs. 2 Nr. 2 EnergieStG). Das ergibt sich aus der von der Z. übersandten Aufstellung der von ihr in das ihr bewilligte Steuerlager aufgenommenen Waren sowie aus der Bestätigung der belgischen Zollverwaltung unter der Dossiernummer N01 (Bl. 31 der Einspruchsakte). Die Aufnahme in das Steuerlager in einem anderen Mitgliedstaat reicht nach § 46 Abs. 2 Nr. 2 EnergieStG für die steuerliche Erfassung einer verbrauchsteuerpflichtigen Ware aus, weil dadurch sichergestellt wird, dass das Erzeugnis in dem anderen Mitgliedstaat einer ordnungsgemäßen Besteuerung zugeführt wird (vgl. Möhlenkamp in Möhlenkamp/Milewski, EnergieStG/StromStG, 2. Auflage, § 46 EnergieStG Randnr. 26; ähnlich Bongartz in Bongartz/Jatzke/Schröer-Schallenberg, EnergieStG/StromStG, § 46 EnergieStG Randnr. 3). Durch die Aufnahme des Raffinats-1 in das der Z. bewilligte Steuerlager war die Steueraufsicht gewährleistet, weil die belgische Zollverwaltung Kontrollen durchführen konnte.
26Der Klageantrag zu 2. ist in entsprechender Anwendung des § 100 Abs. 4 FGO zulässig. Diese Vorschrift gilt entsprechend für die Verpflichtungsklage (§ 101 Satz 1 FGO) (vgl. etwa Rauda in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 100 FGO Randnr. 186). Demgemäß ist in dem vorliegenden Verfahren auch die Verurteilung zur Zahlung von Zinsen zulässig, weil die Verpflichtungsklage der Klägerin zur Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom 16. Juli 2019 und zur Verpflichtung des beklagten Hauptzollamts führt, die von der Klägerin entrichtete Energiesteuer zu erstatten. Das gilt unbeschadet dessen, dass hinsichtlich der Festsetzung der Zinsen (§§ 239 Abs. 1 Satz 1, 155 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung – AO –) noch kein Verwaltungsakt des beklagten Hauptzollamts ergangen und kein Vorverfahren durchgeführt worden ist (vgl. BFH, Urteile vom 29. Juni 1971 VII K 31/67, BFHE 103, 28; vom 29. Oktober 1981 I R 89/80, BFHE 134, 245).
27Soweit die Klägerin eine Verzinsung von dem Zeitpunkt der Entrichtung der Energiesteuer durch sie am 12. August 2019 bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit am 23. Dezember 2022 begehrt, liegt das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis vor. Insoweit fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage für den Zinsanspruch (§ 233 Satz 1 AO). Die Zollverwaltung lehnt eine Verzinsung auf Grund des unionsrechtlichen Erstattungsanspruchs immer noch ab (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 3. November 2022 – 4 K 56/18, ZfZ 2023, 225).
28Der Klageantrag zu 2. ist auch begründet. Das Unionsrecht begründet einen Anspruch auf die Verzinsung eines Erstattungsbetrags der Energiesteuer, die zu Unrecht erhoben wurde, auch in den Fällen, in denen eine auf der Grundlage einer den Mitgliedstaaten von der Richtlinie (EG) 2003/96 des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom eingeräumten Möglichkeit erlassene einzelstaatliche Vorschrift fehlerhaft angewendet worden ist (EuGH, Urteil vom 9. September 2021 C-100/20, ECLI:EU:C:2021:716 Randnr. 33, 36; BFH, Urteil vom 15. November 2022 VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1). Entsprechendes hat für den obligatorischen Anspruch auf Erstattung oder Erlass der Verbrauchsteuer nach Art. 33 Abs. 6 der Richtlinie 2008/118 zu gelten.
29Die Höhe und das Verfahren der Festsetzung der Zinsen richten sich mangels unionsrechtlicher Vorschriften nach den §§ 238 f. AO (BFH, Beschluss vom 5. Dezember 2017 VII B 85/17, BFH/NV 2018, 321). Demgemäß beträgt der Zinssatz einhalb Prozent für jeden Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Der Zinslauf beginnt mit der Entrichtung der Energiesteuer durch die Klägerin am 12. August 2019. Der zu verzinsende Betrag ist gemäß § 238 Abs. 2 AO abzurunden.
30Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.