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Der Antrag wird abgelehnt.Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Gründe:
2I.
3Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Vorschriften über die Festsetzung von Nachzahlungszinsen nach § 233a AO gegen Unionsrecht verstoßen.
4Der hier streitigen Zinsfestsetzung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
5Die Antragstellerin war in den hier relevanten Jahren Teil der A, einer global operierenden Unternehmensgruppe im Bereich der Unterhaltungselektronik. In ihrer Funktion als Vertriebsgesellschaft für ...-Geräte bezog die Antragstellerin ihre Handelsware (Fertigware) ausschließlich bei ihrer Muttergesellschaft, der B und verkaufte die Fertigwaren an Einzel- oder Großhändler im In- und Ausland.
6In ihren Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2008-2011 machte die Antragstellerin aus dem Wareneinkauf von der B insgesamt Vorsteuern in Höhe von EUR ... geltend:
7Vorsteuer |
|
2008 |
... EUR |
2009 |
... EUR |
2010 |
... EUR |
2011 |
... EUR |
Summe |
... EUR |
Im Mai 2014 begann bei der Antragstellerin eine Betriebsprüfung durch das Finanzamt ... Z-Stadt für den Zeitraum 2008 bis 2010.
9Im Rahmen dieser Betriebsprüfung beanstandete die zuständige Prüferin die diesen Lieferungen zugrundeliegenden Rechnungen. Die aus mehreren Dokumenten bestehenden Rechnungen würden nicht den Anforderungen des § 14 Abs. 4 UStG, § 31 UStDV genügen. Die Dokumente, in denen die Umsatzsteuer offen ausgewiesen worden sei, enthielten keinen Verweis auf die weiteren Geschäftsunterlagen, die die übrigen, fehlenden Angaben enthielten.
10Die B stellte der Antragstellerin daraufhin im September 2014 korrigierte, den Anforderungen des FA entsprechende Rechnungen aus, aus denen die Antragstellerin dann in der Umsatzsteuerjahreserklärung 2014 (Eingang beim FA: 17.09.2015) den Vorsteuerabzug geltend machte. Das FA stimmte der Umsatzsteuer-Jahreserklärung 2014 am 03.11.2015 zu. Dies führte zu einem Umsatzsteuererstattungsbetrag in Höhe von ... EUR. Erstattungszinsen nach § 233a AO entstanden mangels Beginns des Zinslaufes insoweit nicht.
11Der Vorsteuerabzug in den Jahren 2008-2011 wurde vom FA durch Änderungsbescheide vom 01.09.2015 (2008-2010) bzw. 21.10.2015 (2011) rückgängig gemacht. Es kam zu entsprechenden Nachzahlungen und es wurden Nachzahlungszinsen nach § 233a AO festgesetzt:
12Bescheid vom |
Zinsen |
|
2008 |
01.09.2015 |
... EUR |
2009 |
01.09.2015 |
... EUR |
2010 |
01.09.2015 |
... EUR |
2011 |
21.10.2015 |
... EUR |
Summe |
... EUR |
Der Vorsteuerüberhang aus 2014 wurden seitens des FA nicht an die Antragstellerin erstattet, sondern mit der Nachzahlung für 2008-2011 verrechnet.
14Gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide 2008-2011 legte die Antragstellerin Einspruch ein. Den Einspruch gegen die Umsatzsteuer 2008 wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 22.01.2016 zurück. Die hiergegen unter dem Aktenzeichen 0 K 000/00 U erhobene Klage war erfolgreich. Der Senat gab der Klage mit Urteil vom 16.03.2018 statt und änderte den Umsatzsteuerbescheid 2008 vom 01.09.2015 dahingehend, dass die Umsatzsteuer um ... € herabgesetzt wurde.
15Die ursprünglichen Abrechnungspapiere hätten bereits den Anforderungen des § 14 Abs. 4 UStG, § 31 UStDV entsprochen. Die Frage nach einer – mittlerweile aufgrund der EuGH-Rechtsprechung möglichen – Rückwirkung einer Rechnungsberichtigung stelle sich daher nicht.
16Das FA erließ am 26.07.2018 einen entsprechenden Änderungsbescheid zur Umsatzsteuer 2008. Aufgrund der präjudiziellen Wirkung für die Folgejahre änderte das FA die Umsatzsteuerbescheide 2009-2011 ebenfalls entsprechend. Mit Bescheiden vom 26.07.2018 wurde der Vorsteuerabzug wieder gewährt, so dass sich eine Erstattung für 2008-2011 von insgesamt ... € ergab. Gleichzeitig wurde die Festsetzung der Nachzahlungszinsen aufgehoben und es wurden in diesen Bescheiden Erstattungszinsen nach § 233a AO iHv ... € festgesetzt.
17Die Zinsen wurden wie folgt berechnet:
18Erstattungsbetrag (abgerundet) |
Zinszeitraum |
Zinssatz |
Zinsbetrag |
|
2008 |
... € |
12.11.2015 - 30.07.2018 = 32 volle Monate á 0,5% |
16% |
... € |
2009 |
... € |
12.11.2015 - 30.07.2018 |
16% |
... € |
2010 |
... € |
12.11.2015 - 30.07.2018 |
16% |
... € |
2011 |
... € |
12.11.2015 - 30.07.2018 |
16% |
... € |
Summe |
... € |
Ebenfalls aufgrund des Urteils änderte das FA den Umsatzsteuerbescheid 2014 mit Bescheid vom 11.06.2018 und machte den Vorsteuerabzug (für 2008-2011) wieder rückgängig. Es ergab sich eine Nachzahlung iHv ... €. Gleichzeitig wurden in diesem Bescheid Nachzahlungszinsen nach § 233a AO iHv ... € festgesetzt.
20Diese berechneten sich wie folgt:
21Nachzahlungsbetrag ... €
22Abgerundet ... €
23Zinszeitraum 01.04.2016 – 14.06.2018
24= 26 volle Monate zu 0,5%
25Zinssatz 13%
26Festzusetzende Zinsen ... €
27Auch hier wurde der Vorsteuerüberhang der Jahre 2008-2011 nicht an die Antragstellerin erstattet, sondern mit der Nachzahlung für 2014 verrechnet.
28Gegen die Festsetzung der Zinsen legte die Antragstellerin fristgerecht unter Hinweis auf die verfassungsrechtlichen Zweifel an der Höhe des Zinssatzes für Zinsen nach § 233a AO Einspruch ein. Das Einspruchsverfahren ruhte im Hinblick auf die beim BVerfG anhängigen Verfahren zunächst.
29Nach der Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes und der Fortgeltungsanordnung der geltenden gesetzlichen Regelungen für Zinszeiträume bis zum 31.12.2018 auch für die Umsatzsteuer (Beschluss des BVerfG vom 8. Juli 2021 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BGBl. I S. 4303) wurden alle anhängigen und zulässigen Einsprüche gegen Festsetzungen von Zinsen gem. § 233a AO für Verzinsungszeiträume vor dem 1. Januar 2019 durch Allgemeinverfügung der obersten Finanzbehörden der Länder vom 29.11.2021 zurückgewiesen. Die der Antragstellerin für die Dauer des Einspruchsverfahrens gewährte Aussetzung der Vollziehung endete zum 03.01.2022.
30Am 30.08.2022 hat die Antragstellerin die unter dem Aktenzeichen 0 K 0000/00 U anhängige Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist.
31Am 02.09.2022 hat die Antragstellerin beim FA die Aussetzung der Vollziehung der Zinsfestsetzung beantragt. Dies hat das FA mit Schreiben vom 15.12.2022 abgelehnt.
32Nunmehr begehrt die Antragstellerin die Aussetzung der Vollziehung durch das Gericht. Zur Begründung trägt sie – auch im Hauptsacheverfahren – vor:
33Die Entscheidung des BVerfG sei zur Verzinsung der Gewerbesteuer ergangen. Zwar habe das BVerfG postuliert, dass die Aussagen zur Verfassungswidrigkeit auch auf die Zinsen zur Umsatzsteuer zutreffen würden, aber eine Prüfung der Zinsvorschriften auf die Vereinbarkeit von Unionsrecht habe das BVerfG nicht vorgenommen.
34Die Zinsfestsetzung verstoße jedoch gegen das Unionsrecht.
35Die Zinsregelung nach § 233a AO berücksichtige nicht die Umstände des Einzelfalls, insbesondere ob dem Fiskus ein Steuerschaden entstanden sei oder ob ein Mitverschulden des Steuerpflichtigen vorliege.
36Nach der Rechtsprechung des EuGH seien die Grundsätze des Unionsrechts trotz bestehender Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten auch beim nationalen Verfahrensrecht zu beachten. Eine Grenze sei dort gesetzt, wo die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität, des Vertrauensschutzes, der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer betroffen seien.
37Für die Zinsvorschriften habe der EuGH die Geltung dieser Grundsätze ausdrücklich bestätigt (EuGH-Urteil vom 12.05.2011 C-107/10 Enel Maritsa Iztok EU:C:2011:298). Es handele sich bei der Festsetzung von Zinsen für die nachträgliche Entrichtung der Umsatzsteuer um eine Maßnahme mit Sanktionscharakter (vgl. EuGH, Urteile vom 06.02.2014 C-424/12 SC Fatorie SL, EU:C:2014:50; vom 15.09.2016 C-518/14 Senatex, EU:C:2016:691). Daraus folge, dass § 233a AO sich an den unionsrechtlichen Grundsätzen messen lassen müsse.
38Die Zinsfestsetzung sei im Streitfall erfolgt, ohne zu berücksichtigen, dass für den Fiskus kein Steuerschaden entstanden sei.
39Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seien Sanktionen zur Umsatzsteuer nur dann rechtmäßig, wenn sie verhältnismäßig seien. Zu diesen Sanktionen würde auch die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gehören (EuGH-Urteile vom 26.04.2017 C-564/15 Farkas, EU:C:2017:302; vom 20.06.2013 C-259/12 Rodopi-M 91 OOD, EU:C:2013:414 und vom 19.07.2012 C-263/11 Redlihs, EU:C:2012:497). Die Zinsfestsetzung ohne Berücksichtigung eines Steuerschadens sei unverhältnismäßig. Der Ausgleich eines fiktiven Schadens stelle keinen Rechtfertigungsgrund dar. Darin liege vielmehr ein Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz.
40Ein finanzieller Schaden sei dem Fiskus im Streitfall nicht entstanden. Fälschlicherweise habe das FA der Antragstellerin Vorsteuern in Folge der Umsatzsteuer-Jahreserklärung 2014 vom 17.09.2015 erstattet. Tatsächlich hätte der Fiskus diese Vorsteuerbeträge jedoch bereits zu einem früheren Zeitpunkt erstatten müssen, nämlich in den Veranlagungszeiträumen 2008-2011. Dass der Antragstellerin die Vorsteuerbeträge erst im Anschluss an die Umsatzsteuer-Jahreserklärung 2014 erstattet worden seien, führe daher sogar zu einem finanziellen Vorteil für den Fiskus. Korrespondierend dazu habe die Antragstellerin durch die verspätete Erstattung einen finanziellen Schaden erlitten.
41Die Zinsfestsetzung sei aber auch deshalb unionsrechtswidrig, weil die Zinsvorschriften weder berücksichtigen würden, ob den Steuerpflichtigen ein Verschulden an der verspäteten Steuerfestsetzung treffe, noch auf den Grad eines etwaigen Verschuldens abgestellt werde. Eine Verzinsung würde vielmehr sogar dann erfolgen, wenn – wie im Streitfall - die Finanzverwaltung die unzutreffende Steuerfestsetzung verursacht habe.
42Es fehle in solchen Fällen an einem sanktionswürdigen Verhalten des Steuerpflichtigen. Nach der Rspr. des EuGH müssten Geldbußen und Sanktionen in angemessenem Verhältnis zur Art und Schwere des Verstoßes stehen.
43Eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 233a AO sei nicht möglich. Die gesetzliche Regelung des § 233a AO enthalte eine starre Zinsregelung. Die Vorschrift enthalte keine unbestimmten Rechtsbegriffe und keinen Auslegungsspielraum.
44Die Antragstellerin beantragt,
45die Vollziehung der im Zinsbescheid 2014 vom 11.06.2018 festgesetzten Zinsen in Gestalt der Einspruchsentscheidung durch Allgemeinverfügung vom 29.11.2021 rückwirkend zum Fälligkeitszeitpunkt auszusetzen;
46hilfsweise, die Beschwerde zuzulassen.
47Der Antragsgegner beantragt,
48den Antrag abzulehnen.
49Zur Begründung trägt er vor, die von der Antragstellerin angeführte Rechtsprechung des EuGH sei auf die Zinsen nach § 233a AO nicht anwendbar. Den entschiedenen Fällen hätten entweder Geldbußen, eine Verwaltungsgeldstrafe oder Verzugszinsen nach nationalem Recht zugrunde gelegten. Hierbei handele es sich um strukturell völlig anders gelagerte Maßnahmen. Die Vollverzinsung stelle – anders als diese Maßnahmen - keine Sanktionierung eines Fehlverhaltens dar. Soweit der EuGH im Fall C-518/14 Senatex einen Sanktionscharakter bejaht habe, habe sich dies nicht auf die Verzinsung bezogen, sondern auf die zeitlich spätere Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs bei einer fehlenden Rückwirkung einer Rechnungskorrektur.
50Der BFH gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Zinsen zur Umsatzsteuer keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter hätten und folglich die unionsrechtlichen Grundsätze auf diese keine Anwendung fänden.
51Sowohl nach der Rechtsprechung des BFH als auch nach den Anweisungen der Finanzverwaltung im AEAO sei keine Verzinsung vorzunehmen, wenn der Steuerpflichtige durch die verspätete Festsetzung keinen Vorteil erlangt habe. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor. Da der zurückgeforderte Steuerbetrag aus 2014 selbst mit den Erstattungsbeträgen der Veranlagungszeiträume 2008-2011 habe verrechnet werden können, sei zwar kein unmittelbarer Liquiditätsvorteil entstanden. Allerdings seien in den Jahren 2008-2011 für diese Steuerbeiträge Erstattungszinsen festgesetzt worden. Es entspräche nicht der Billigkeit, wenn die Antragstellerin einerseits Erstattungszinsen erhielte, aber auf der anderen Seite die Nachzahlungszinsen erlassen werden müssten.
52Das BVerfG habe in seiner Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Zinsen nach § 233a AO mit der Fortgeltungsanordnung die Umsatzsteuer nicht grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des § 233a AO ausgeschlossen. Es könne davon ausgegangen werden, dass dem BVerfG die Rechtsprechung des EuGH zur Verhältnismäßigkeit bei sanktionierenden Maßnahmen im Bereich der Umsatzsteuer bekannt gewesen sei und, auch wenn es diese in seinem Beschluss nicht ausdrücklich erwähnt habe, seine Entscheidung in Kenntnis dieser Rechtsprechung getroffen habe.
53Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vom Antragsgegner vorgelegten Steuerakten.
54II.
55Der Antrag ist zulässig, jedoch unbegründet.
56A. Der Antrag ist zulässig.
57Eines besonderen Aussetzungsinteresses bedarf es im Streitfall nicht.
58Nach der Rechtsprechung des BFH (Beschlüsse vom 10.02.1984 III B 40/83, BStBl II 1984, 454; vom 01.04.2010 II B 168/09, BStBl II 2010, 558; vom 09.03.2012 VII B 171/11, BStBl II 2012, 418, vom 15.04.2014 II B 71/13, BFH/NV 2015, 7 und vom 23.05.2022 V B 4/22, BFHE 276, 535) ist bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes zwar grundsätzlich ein besonderes berechtigtes Interesse an der AdV erforderlich.
59Dies gilt jedoch nicht, wenn es um die Vereinbarkeit einzelner Steuerrechtsnormen mit Unionsrecht geht. In diesem Fall ist nach der Rechtsprechung des BFH kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich (vgl. BFH-Beschlüsse vom 30.11.2000 V B 187/00, BFH/NV 2001, 657; vom 12.12.2013 XI B 88/13, BFH/NV 2014, 550; und vom 23.05.2022 V B 4/22 , BFHE 276, 535).
60Da es im Streitfall ausschließlich um die Vereinbarkeit des § 233a AO mit unionsrechtlichen Rechtsgrundsätzen geht, kommt es auf das Vorliegen eines besonderen Aussetzungsinteresses nicht an.
61B. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
62Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn – was vorliegend von der Antragstellerin nicht geltend gemacht wird – die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte.
631. Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom 30.03.2021 V B 63/20, BFH/NV 2021, 1212, und vom 08.04.2009 I B 223/08, BFH/NV 2009, 1437). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen. Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (vgl. BFH-Beschluss vom 04.07.2019 VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060) oder sich aus einem möglichen Verstoß des Steuergesetzes gegen eine unionsrechtliche Bestimmung ergeben (vgl. BFH-Beschlüsse vom 12.12.2013 XI B 88/13, BFH/NV 2014, 550; vom 23.05.2022 V B 4/22, BFHE 276, 535).
642. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht begründet.
65Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung zur Umsatzsteuer 2014. Bei summarischer Prüfung dürfte § 233a AO nicht gegen das Unionsrecht verstoßen.
66a) Die Festsetzung der Zinsen beruht auf § 233a iVm § 238 AO.
67Führt die Festsetzung der Umsatzsteuer zu einem Unterschiedsbetrag, ist dieser nach § 233a Abs. 1 Satz 1 AO zu verzinsen. Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist und endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird (§ 233a Abs. 2 Sätze 1 und 3 AO).
68Maßgebend für die Zinsberechnung ist die festgesetzte Steuer, vermindert u.a. um die bis zum Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen (Unterschiedsbetrag). Ein Unterschiedsbetrag zugunsten des Steuerpflichtigen ist nur bis zur Höhe des zu erstattenden Betrags zu verzinsen; die Verzinsung beginnt frühestens mit dem Tag der Zahlung (§ 233a Abs. 3 Sätze 1 und 3 AO).
69Wird die Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert, ist eine bisherige Zinsfestsetzung zu ändern. Maßgebend für die Zinsberechnung ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und der vorher festgesetzten Steuer. Dem sich hiernach ergebenden Zinsbetrag sind bisher festzusetzende Zinsen hinzuzurechnen; bei einem Unterschiedsbetrag zugunsten des Steuerpflichtigen entfallen darauf festgesetzte Zinsen (§ 233a Abs. 5 AO).
70Nach § 238 Abs. 1 AO in der für das Streitjahr geltenden Fassung betragen die Zinsen für jeden Monat einhalb Prozent. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz. Erlischt der zu verzinsende Anspruch durch Aufrechnung, gilt der Tag, an dem die Schuld des Aufrechnenden fällig wird, als Tag der Zahlung.
71b) Die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Höhe der Nachzahlungszinsen gem. § 233a iVm § 238 Abs. 1 Satz 1 AO (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282) enthält keine Feststellungen zur Unionsrechtskonformität der Zinsvorschriften.
72Diese waren auch nicht erforderlich, da sich das dortige Verfahren auf eine Zinsfestsetzung zur Gewerbesteuer bezog. Die Gewerbesteuer ist jedoch nicht durch Unionsrecht harmonisiert, sondern liegt in der Autonomie der Mitgliedstaaten.
73Die Ausführungen des BVerfG, wonach die Gründe, die zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm in Bezug auf die Gewerbesteuer führen, ebenso auf die übrigen in § 233a Abs. 1 Satz 1 AO abschließend aufgezählten Steuerarten der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen- und Umsatzsteuer zutreffen, ohne dass insoweit eine eigenständige verfassungsrechtliche Würdigung erforderlich wäre (BVerfG-Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282 Rz. 241), machen vielmehr deutlich, dass gerade keine weitere, eigenständige Prüfung des BVerfG hinsichtlich der Umsatzsteuer erfolgt ist, sondern dass die rein verfassungsrechtliche Prüfung auch für die Umsatzsteuer gilt. Eine möglicherweise konkludente Bejahung der Unionsrechtskonformität der Zinsvorschriften aufgrund fehlender Ausführungen zu deren Unionsrechtswidrigkeit kann entgegen der Auffassung des Antragsgegners gerade nicht entnommen werden.
74c) Ein Verstoß der Zinsvorschriften gegen Unionsrecht liegt bei summarischer Prüfung jedoch nicht vor.
75(1) Weder die MwStSystRL noch das übrige Unionsrecht enthält Normen zu steuerlichen Nebenleistungen i.S. des § 3 Abs. 4 AO, zu denen auch Zinsen gehören. Diese gehören zum Verfahrensrecht, für das der Grundsatz der Autonomie der Mitgliedstaaten gilt. Danach legen die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Bestimmungen und Abläufe grundsätzlich autonom fest. Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird jedoch durch die zum Unionsrecht gehörenden Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt. Außerdem müssen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsregelungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen und auch den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer beachten (BFH-Beschluss vom 23.05.2022 V B 4/22, BFHE 276, 535 m.w.N aus der Rspr. des EuGH).
76(2) Die von der Antragstellerin gerügten Verstöße von § 233a AO gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit dürften bei summarischer Prüfung nicht vorliegen.
77(a) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin sind § 233a iVm § 238 AO bei summarischer Prüfung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Neutralitätsgrundsatz zu prüfen.
78(aa) Nach der Rechtsprechung des BFH gilt das Neutralitätsprinzip für die Umsatzsteuer, nicht aber für steuerliche Nebenleistungen wie beispielsweise Zinsen. Denn Zinsen zur Umsatzsteuer haben keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter i.S. von Art. 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (BFH-Urteil vom 28.11.2002 V R 54/00 BStBl II 2003, 175) bzw. i.S. von Art. 401 MwStSystRL (BFH-Beschlüsse vom 11.05.2020 V B 76/18, BFH/NV 2020, 1047; vom 23.05.2022 V B 4/22, BFHE 276, 535).
79(bb) Sofern die Antragstellerin aus der Rechtsprechung des EuGH ableitetet, dass dieser das Neutralitätsprinzip auch auf Zinsen anwende, kann dem nicht gefolgt werden.
80Die von der Antragstellerin zitierte Entscheidung Fatorie (EuGH-Urteil vom 06.02.2014 C-424/12, EU:C:2014:50) enthält keinerlei Ausführungen zur Geltung des Neutralitätsgrundsatzes in Bezug auf die dort gegen die dortige Klägerin festgesetzten – in der Entscheidung nicht näher erläuterten – Verzugszinsen. Die von der Antragstellerin zitierte Passage (Rz. 50 des Urteils) bestätigt lediglich die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Bezug auf diese Verzugszinsen.
81Auch die weiteren von der Antragstellerin zitierten Entscheidungen enthalten keine derartige Aussage des EuGH. In der Entscheidung Senatex (EuGH-Urteil vom 15.09.2016 C-518/14, EU:C:2016:691 Rz. 42) beurteilt der EuGH nicht die Erhebung von Nachzahlungszinsen, sondern die Versagung des Vorsteuerabzugs im Jahr der (fehlerhaften) Rechnungsausstellung und die damit einhergehende verspätete Geltendmachung des Vorsteuerabzugs (im Zeitpunkt der Rechnungsberichtigung) als Maßnahme bzw. Sanktion wegen der Nichtbefolgung der formellen Anforderungen an den Vorsteuerabzug. Er postuliert, dass diese Maßnahme unverhältnismäßig sei, da weniger einschneidende Maßnahmen wie eine Geldbuße oder die Verhängung einer Sanktion, die in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes stehen müsse, in Betracht käme. Zudem würde die spätere Ausübung des Vorsteuerabzugs verbunden mit der Erhebung von Nachzahlungszinsen nicht die Umstände berücksichtigen, die eine Berichtigung der Rechnung erforderlich machen würden, was ebenfalls unverhältnismäßig, da nicht erforderlich sei. Auch hier liegt der Schwerpunkt der Aussage jedoch eindeutig auf der späteren Gewährung des Vorsteuerabzugs und nicht auf der Erhebung der Nachzahlungszinsen.
82(b) Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz liegt bei summarischer Prüfung ebenfalls nicht vor.
83(aa) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin handelt es sich bei der Verzinsung nach § 233a AO nicht um eine Maßnahme mit Sanktionscharakter, so dass die von der Antragstellerin angeführte Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen an Sanktionen (Berücksichtigung eines Steuerschadens für den Fiskus und Berücksichtigung eines Verschuldens des Steuerpflichtigen) im Streitfall nicht anwendbar ist.
84(aaa) Denn die Festsetzung der Zinsen knüpft – anders als etwa die Entstehung der Säumniszuschläge nach § 240 AO – nicht an ein (sanktionswürdiges) Verhalten des Steuerpflichtigen an, sondern an den grds von der Finanzverwaltung bestimmten Zeitpunkt der Steuerfestsetzung, auf den die Steuerpflichtigen idR keinen Einfluss haben. Hinzu kommt, dass die Verzinsung nach § 233a AO nicht nur zu Lasten, sondern auch – wie auch der Streitfall zeigt – zugunsten des Steuerpflichtigen wirkt, sofern es aufgrund einer Steuerfestsetzung zu einer Erstattung von Steuern kommt.
85(bbb) Die Vollverzinsung des § 233a AO dient dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, der eine möglichst gleichmäßige Behandlung der Steuerpflichtigen gebietet. Die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen soll einen Ausgleich dafür schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Der Verzinsung der Steuernachforderungen liegt dabei die Annahme zugrunde, dass Steuerschuldner, deren Steuer erst spät festgesetzt wird, einen fiktiven Zinsvorteil haben, der umso größer ist, je später die Steuerfestsetzung erfolgt. Steuerpflichtige, die eine Nachzahlung zu leisten haben, müssten Nachzahlungszinsen zahlen und hätten keinen Zinsvorteil mehr. Zweck der Vollverzinsung im Nachzahlungsfall ist damit die Abschöpfung des Zinsvorteils der Steuerpflichtigen, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt und erhoben wird. Dieser vom Gesetzgeber formulierte Zweck spiegelt sich auch in der Vorschrift des § 233a AO wider. Sie sieht eine Verzinsung unabhängig davon vor, wer die verzögerte (zutreffende) Steuerfestsetzung schuldhaft oder nicht schuldhaft verursacht hat, und dient damit allein der Abschöpfung von potentiellen Liquiditätsvorteilen. Nachzahlungszinsen nach § 233a AO sind dementsprechend - anders als etwa der Verspätungszuschlag - weder Sanktion noch Druckmittel (vgl. insoweit BTDrs 8/1410, S. 4; BTDrs 19/20836, S. 5), sondern eine Entschädigung für die Kapitalnutzung (vgl. BTDrs 8/1410, S. 4; BRDrs 324/18, S. 2). Der Vollverzinsung kommt daher keine zusätzliche Lenkungsfunktion dahingehend zu, die Steuerpflichtigen etwa dazu anzuhalten, ihre Steuererklärungen frühzeitig abzugeben oder etwaige Vorauszahlungen angemessen anzusetzen (BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021 1 BvR 2237/14, BVerfGE 158, 282).
86(ccc) Die von der Antragstellerin zitierten EuGH-Urteile (EuGH-Urteile vom 26.04.2017 C-564/15 Farkas, EU:C:2017:302 Rz. 59; vom 20.06.2013 C-259/12 Rodopi-M 91, EU:C:2013:414 Rz. 38, vom 19.07.2012 C-263/11 Redlihs, EU:C:2012:497 Rz. 44) enthalten lediglich die Feststellung, dass Sanktionen zur Umsatzsteuer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen müssen – nicht hingegen, dass es sich bei der Festsetzung von Nachzahlungszinsen um eine Sanktion handelt. In den Vorlagefragen waren die Festsetzung einer Geldbuße (Farkas und Redlihs) bzw einer Verwaltungsgeldstrafe (Rodopi-M 91) auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu beurteilen.
87(bb) Davon ausgehend bestehen bei summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel daran, dass § 233a AO allgemein den Anforderungen an den unionrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.
88(aaa) Der BFH hat in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinsichtlich der Unionsrechtskonformität der Erhebung von Säumniszuschlägen entschieden, dass die Regelung des § 240 AO jedenfalls im Kontext mit § 227 AO nicht gegen das unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt.
89Bei der Erhebung von Säumniszuschlägen handelt es sich um eine Sanktion, die die verspätete Steuerzahlung des Steuerpflichtigen sanktioniert, in dem – unabhängig von einem Verschulden und ohne Einräumung eines Ermessens – qua Gesetz ein Betrag von 1 % je Monat des fälligen Steuerbetrags – anfällt.
90Jedoch kann deren Einziehung "nach Lage des einzelnen Falls" aus sachlichen oder persönlichen Gründen unbillig sein, sodass ein Erlass in Betracht kommt (§ 227 AO). Persönliche Billigkeitsgründe liegen beispielsweise vor bei einer unverschuldeten finanziellen Notlage (BFH-Urteil vom 27.09.2001 X R 134/98, BStBl II 2002, 176, vgl. allgemein zu persönlichen Billigkeitsgründen Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz 86 ff.), sachliche Billigkeitsgründe liegen vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers die Einziehung der Säumniszuschläge den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz 40 ff.). Dabei kann es bei Vorliegen zusätzlicher persönlicher oder sachlicher Billigkeitsgründe gerechtfertigt sein, die gesamten Säumniszuschläge zu erlassen (BFH-Urteil vom 30.03.2006 V R 2/04, BStBl II 2006, 612). Dieses zweistufige Verfahren berücksichtigt die Art und Schwere eines Verstoßes hinreichend und ist daher auch unionsrechtskonform (so auch Heuermann in HHSp AO/FGO § 240 AO Rz 19, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 23.05.2022 V B 4/22, BFHE 276, 535).
91(bbb) Die Erwägungen gelten nach Auffassung des Senates auch und erst Recht für die Vollverzinsung nach § 233a AO.
92§ 233a Abs. 8 Satz 4 AO (eingeführt durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12.07.2022, BGBl I 2022, 1142 mWv 22.07.2022) regelt nunmehr ausdrücklich, dass §§ 163, 227 AO auch auf die Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO anwendbar sind. Dies war jedoch bereits vor der gesetzlichen Normierung anerkannt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24.07.1996 X R 23/94, BFH/NV 1997, 92).
93Sofern die Festsetzung von Nachzahlungszinsen im Einzelfall zu einem unbilligen Ergebnis führt, kommt auch hier ein Erlass aus persönlichen oder sachlichen Billigkeitsgründen nach §§ 163, 227 AO in Betracht.
94Gerade im Bereich der Umsatzsteuer hat sich eine Reihe von Fallgruppen entwickelt, in denen aufgrund eines fehlenden Zinsvorteils aufseiten des Steuerpflichtigen ein Erlass von Zinsen in Betracht kommt:
95So ist in der Rechtsprechung des BFH (und auch von der Finanzverwaltung) anerkannt, dass ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen in folgenden Fällen in Betracht kommt:
96- wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hatte (vgl. BFH-Urteile vom 11.07.1996 V R 18/95, BStBl 1997 II S. 259, vom 12.04.2000 XI R 21/97, BFH/NV S. 1178; AEAO zu § 233a, Rz. 69),
97- bei einer von den ursprünglichen Steuerfestsetzungen abweichenden zeitlichen Zuordnung eines Umsatzes durch das Finanzamt, die gleichzeitig zu einer Steuernachforderung und zu einer Steuererstattung führt, kann es sachlich unbillig sein, (in Wirklichkeit nicht vorhandene) Zinsvorteile abzuschöpfen (BFH-Urteil vom 11.07.1996 V R 18/95, BStBl 1997 II S. 259); wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil oder Nachteil hatte (AEAO zu § 233a, Rz. 70.2.4),
98- in bestimmten Fällen einer zunächst fälschlicherweise angenommenen Organschaft oder einer zunächst nicht erkannten Organschaft und der in der Folge erforderlichen Änderungen der Umsatzsteuerfestsetzungen bei Organträger und Organgesellschaft kommt ein Erlass von Nachtzahlungszinsen in Betracht, wenn keine Zinsvorteile bei den Steuerschuldnern entstanden sind (vgl. AEAO zu § 233a Rz. 70.2.5 f.).
99Diese – nicht abschließenden – Fallgruppen zeigen, dass im Rahmen der Billigkeit das Vorliegen eines Steuerschadens für den Fiskus, der im Fall der Festsetzung von Nachzahlungszinsen immer nur aus einer verspäteten Festsetzung und daraus resultierend einer verspäteten Zahlung der entstandenen Steuer bestehen kann, berücksichtigt wird.
100(ccc) Zwar wird ein Verschulden des Steuerpflichtigen weder bei der Festsetzung der Nachzahlungszinsen noch bei einer Billigkeitsentscheidung nach §§ 163, 227 AO berücksichtigt. Dies führt jedoch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Vorschriften über die Zinsfestsetzung.
101Zum einen ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Zinsfestsetzung – wie bereits dargelegt – nicht um eine Sanktionsmaßnahme handelt, die an ein vorwerfbares Verhalten des Steuerpflichtigen anknüpft, sondern diese allein dem Ausgleich von Liquiditätsvorteilen dient, so dass es auf ein Verschulden nicht ankommen kann. So ist folgerichtig ein Verschulden prinzipiell irrelevant, und zwar auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses (vgl. BFH-Entscheidungen vom 04.11.1996, I B 67/96, BFH/NV 1997, 458; vom 15.04.1999, V R 63/97, BFH/NV 1999, 1392, vom 03.05.2000, II B 124/99, BFH/NV 2000, 1441, und vom 30.11.2000, V B 169/00, BFH/NV 2001, 656; AEAO zu § 233a Rz. 69.2). Konsequenterweise werden daher im Fall einer Steuererstattung auch bei einem Verschulden des Steuerpflichtigen oder bei einem fehlenden Verschulden der Finanzverwaltung Erstattungszinsen festgesetzt.
102Dies schließt es jedoch nicht aus, im Einzelfall ein unbilliges Ergebnis ebenfalls über eine Billigkeitsentscheidung zu korrigieren.
103d) Im konkreten Fall bestehen auch deswegen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung, weil die von der Antragstellerin abstrakt gerügten Verstöße gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen den Neutralitätsgrundsatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Streitfall konkret nicht vorliegen.
104(aa) Denn der Antragstellerin ist trotz Festsetzung der Nachzahlungszinsen im Ergebnis kein finanzieller Schaden entstanden.
105Zwar wurden gegen die Antragstellerin im angefochtenen Zinsbescheid Nachzahlungszinsen festgesetzt, weil die vom FA fälschlicherweise in das Jahr 2014 verlagerte Vorsteuererstattung wieder rückgängig gemacht wurde und die Umsatzsteuerfestsetzung damit zum Nachteil der Antragstellerin geändert worden ist.
106Auf der anderen Seite wurde die unberechtigte Versagung des Vorsteuerabzugs in den Jahren 2008-2011 jedoch durch Bescheide vom 26.07.2018 wieder rückgängig gemacht. Dies führte nicht nur zum Entfallen der insoweit festgesetzten Nachzahlungszinsen, sondern auch zur Festsetzung von Erstattungszinsen auf die unberechtigterweise vorenthaltenen Vorsteuern iHv ... €.
107Diese beiden Tatsachen sind nicht isoliert zu beurteilen, sondern vielmehr in den Kontext des Streitfalles einzubetten. Denn beide Zinsfestsetzungen sind Resultat der zeitlichen Verschiebung des Vorsteuerabzugs. So führt der nämliche Steuerbetrag – die Vorsteuerbeträge der Jahre 2008-2011 – und der nämliche Sachverhalt – die aufgrund der rechtsirrigen Beurteilung des FA zeitliche Verschiebung der Geltendmachung und deren Rückgängigmachung durch das Gericht – zur Entstehung und Festsetzung von Erstattungszinsen. Diese sind spiegelbildlich zu den Nachzahlungszinsen für die rechtswidrige Erstattung der Vorsteuer 2014 entstanden und gleichen den finanziellen Schaden damit aus. Sie sind aufgrund des längeren Zinslaufes sogar höher als die zu zahlenden Nachzahlungszinsen.
108Im Übrigen ist der Antragstellerin auch hinsichtlich der späteren Geltendmachung der Vorsteuer selbst (in 2014 statt in den Voranmeldungszeiträumen 2008-2011) kein finanzieller Schaden entstanden. Denn der Antragstellerin ist der Vorsteuerabzug in den Voranmeldungszeiträumen 2008-2011 zunächst gewährt worden. Eine Rückzahlung dieser Vorsteuererstattungen aufgrund der nach der Außenprüfung geänderten Bescheide ist tatsächlich nicht erfolgt. Vielmehr erfolgte eine Verrechnung mit dem aufgrund der Außenprüfung gewährten späteren Vorsteuerabzug im Jahr 2014, so dass die Antragstellerin insoweit keinen finanziellen Nachteil erlitten hat.
109(bb) Dies ist auch kein „zufälliges“ Ergebnis im Streitfall, sondern der Systematik des § 233a AO geschuldet.
110Stellt sich – wie im Streitfall – eine für den Steuerpflichtigen nachteilige Steuerfestsetzung im Nachhinein als rechtswidrig heraus und wird aufgehoben, entfallen auch die darauf festgesetzten Nachzahlungszinsen (§ 233a Abs. 5 Satz 3 AO). Dies ist anhand der Zinsfestsetzungen zur Umsatzsteuer 2008-2011 vom 01.09.2015 bzw. 21.10.2015 einerseits und vom 26.07.2018 erkennbar. In der zweiten Festsetzung sind keine Nachzahlungszinsen mehr enthalten.
111Die Korrektur einer für den Steuerpflichtigen günstigen, aber rechtswidrigen Steuerfestsetzung (die Gewährung des Vorsteuerabzugs in 2014) führt zwar für sich genommen zur Festsetzung von Nachzahlungszinsen. Beruht diese Korrektur jedoch auf einer reinen zeitlichen Verschiebung der Steuerbegünstigung (hier von 2014 zurück nach 2008-2011) steht dieser Festsetzung jedoch in der Regel eine Festsetzung von Erstattungszinsen gegenüber.
112III.
113Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
114Die Zulassung der Beschwerde erfolgt wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 128 Abs. 3, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).