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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18. März 2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2021 verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für das Kind A für die Monate April 2020 bis Mai 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18. März 2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2021 verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für das Kind B für die Monate April 2020 bis Mai 2021 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Streitig ist der Kindergeldanspruch der Klägerin für ihre beiden Töchter im Zeitraum von April 2020 und bis Mai 2021.
3Die Klägerin ist portugiesische Staatsangehörige und Mutter der im August 2015 geborenen A und der im April 2019 geborenen B. Sie war bis 2015 nichtselbständig tätig. Seither ist sie nicht erwerbstätig.
4Der leibliche Vater beider Kinder, C, ist deutscher Staatsangehöriger, wohnt in den Niederlanden und ist dort selbständig erwerbstätig. Er bezog zunächst mit dem Kindergeld vergleichbare Leistungen in den Niederlanden für beide Töchter. Die niederländische Sozialversicherungsbank (Sociale Verzekeringsbank – SVB) stellte die Zahlungen zum 01. April 2020 mangels „Kooperation“ des Kindesvaters ein.
5Die Klägerin und der Kindesvater erwarben als Miteigentümer eine in den Niederlanden belegene Immobilie in Z-Stadt, Straße 01, die sie gemeinsam mit den Kindern bewohnten. Im Januar 2020 trennten sie sich. Die Klägerin zog mit den Kindern zu ihrem Vater nach Y-Stadt (Deutschland) in die von ihm gemietete Wohnung Straße 02. Ein Entgelt hierfür zahlte sie nicht. Ende Januar 2021 zog der Vater der Klägerin aus der gemeinsam genutzten Wohnung aus. Die Klägerin schloss ab Anfang Februar 2021 den Mietvertrag über die Wohnung Straße 02 in Y-Stadt selbst ab.
6Die Klägerin bezog ab Januar 2020 Arbeitslosengeld II. Die Leistungen wurden im Hinblick auf ihren Miteigentumsanteil an dem Objekt in den Niederlanden zunächst als Darlehen gewährt, ab Januar 2022 als laufende passive Leistungen. Außerdem bezog sie ab Januar 2020 Elterngeld. Der Träger der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II macht einen Erstattungsanspruch gem. § 104 SGB X geltend.
7Der Kindesvater und die Klägerin verständigten sich im Jahr 2021 über die Auseinandersetzung der Miteigentumsgemeinschaft. Danach sollte die Klägerin ... € von ihm erhalten.
8Die Klägerin beantragte unter dem 00. Januar 2020 für ihre beiden Töchter Kindergeld bei der Beklagten und wies einen Krankenversicherungsschutz bei der Krankenkasse nach.
9Die Beklagte lehnte die Anträge u.a. mit Bescheiden vom 18. März 2021 für die Zeit ab April 2020 unter Hinweis auf § 62 Abs. 1a S. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) ab.
10Im Einzelnen führte sie aus, dass in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union (EU) ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten könnten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU als erfüllt ansehe. Die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 des FreizügG/EU seien vorliegend nicht gegeben.
11Die Klägerin legte hiergegen Einsprüche ein.
12Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG i.V.m. § 4 FreizügG/EU vorlägen. Insbesondere stünden ihr ausreichende Existenzmittel zur Verfügung. Zwar beziehe sie Leistungen nach dem SGB II, allerdings nicht als laufende Leistungen, sondern als Darlehen. Hintergrund sei ihr Miteigentumsanteil an der niederländischen Immobilie. Bisher sei keine Verwertung möglich gewesen. Sie verwies auf die Einigung mit dem Kindesvater über eine Auseinandersetzung. Zu einer Auszahlung sei es aber noch nicht gekommen. Dieser Vermögenswert in den Niederlanden sei einzusetzendes Vermögen im Sinne des SGB II. Damit seien die Leistungen nach dem SGB II vollständig als Darlehen gewährt worden und keine nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewährenden Mittel.
13Die Beklagte wies die Einsprüche nach Anhörung mit Entscheidungen vom 19. Mai 2021 als unbegründet zurück.
14Voraussetzung für einen Anspruch auf Kindergeld von nicht erwerbstätigen Personen nach § 4 S. 1 FreizügG/EU seien ein ausreichender Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende Existenzmittel. Grundsätzlich sei von ausreichenden Existenzmitteln auszugehen, wenn während des Aufenthalts keine Leistungen nach dem SGB II oder XI in Anspruch genommen würden. Ausreichende Existenzmittel seien insofern nicht die nach dem SGB II zu gewährenden Mittel, mithin auch nicht das von der Klägerin bezogene Arbeitslosengeld II.
15Mit ihrer Klage trägt die Klägerin ergänzend vor, dass es zu einer Realisierung des Anspruchs aus dem Miteigentumsanteil in den Niederlanden bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht gekommen sei, da es zur Durchsetzung eines Klageverfahrens bedürfe und ihr hierfür das Geld fehle.
16Das aktuelle Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 01. August 2022 C-411/20 betreffe nur das Kindergeld in den ersten drei Monaten; für diesen Zeitraum sei Kindergeld zu gewähren. Für den vorliegenden Anspruch auf Kindergeld ab dem 4. Monat verweise sie auf ihren bisherigen Vortrag im außergerichtlichen Verfahren.
17Die Klägerin beantragt,
181. die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18. März 2021 und der Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2021 zu verpflichten, Kindergeld für die Tochter A für die Monate April 2020 bis Mai 2021 festzusetzen;
192. die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 18. März 2021 und der Einspruchsentscheidung vom 19. Mai 2021 zu verpflichten, Kindergeld für die Tochter B für die Monate April 2020 bis Mai 2021 festzusetzen.
20Die Beklagte beantragt,
21die Klage abzuweisen;
22hilfsweise, die Revision zuzulassen.
23Sie ist ebenfalls der Auffassung, das EuGH-Urteil vom 01. August 2022 betreffe nur den Kindergeldanspruch für den 1.-3. Monat. Ab dem 4. Monat gelte § 62 Abs. 1a S. 3 - 6 EStG fort.
24Die Beklagte trägt ergänzend vor, dass die SVB mitgeteilt habe, dass die niederländischen Familienleistungen erst ab dem 01. April 2020 mangels Mitwirkung des Kindesvaters nicht mehr gezahlt worden seien. Das bedeute, dass im Fall seiner Mitwirkung Leistungen noch gezahlt werden könnten. Somit seien in Deutschland, wenn die nationalen Vorschriften erfüllt wären, nur nachrangig Familienleistungen unter Anrechnung der niederländischen Familienleistungen zu gewähren.
25Auf Anfrage des Gerichts mit der Aufforderung, den niederländischen Kindergeldanspruch des Vaters C im Rahmen eines zwischenstaatlichen Auskunftsersuchens zu ermitteln, hat die Beklagte die Antwort der SVB zur Höhe des „kinderbijslag“ für das jeweilige Kind und die einzelnen Monate der Streitzeiträume im Fall eines Anspruchs des C übersandt. Informationen zum „kindgebonden budget“ habe die SVB nicht.
26Das Gericht hat die Akten des Jobcenters Y-Stadt zum Bezug von Arbeitslosengeld II durch die Klägerin beigezogen.
27Zudem hat es mit Beschluss vom 24. April 2023 das ursprünglich unter dem Az. 14 K 1478/21 Kg anhängige Verfahren wegen Kindergeld für das Kind B mit dem vorliegenden, ursprünglich nur wegen Kindergeld für das Kind A anhängigen, Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
28Entscheidungsgründe:
29Die Klage hat teilweise Erfolg.
30Die Ablehnung von Kindergeld für die Kinder A und B für den Zeitraum von April 2020 bis Mai 2021 durch die Beklagte mit Bescheiden vom 18. März 2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 19. Mai 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 S. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Mangels Spruchreife kann das Gericht unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide und unter Abweisung der Klage im Übrigen aber nur die Verpflichtung der Beklagten aussprechen, die Anträge der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 101 S. 2 FGO).
31Dem Grunde nach hat die Klägerin für ihre beiden Töchter A und B jeweils einen Anspruch auf Kindergeld für die Monate April 2020 bis Mai 2021 (dazu unter 1.), während die Höhe des jeweiligen Anspruchs wegen ggf. anzurechnender niederländischer Familienleistungen derzeit nicht feststeht (dazu unter 2.).
321. Der jeweilige Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für ihre beiden Töchter ergibt sich dem Grunde nach aus § 62 Abs. 1a S. 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 S. 1 FreizügG/EU.
33Nach § 62 Abs. 1a S. 3 EStG hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der EU ab dem vierten Monat ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland einen Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1a S. 3 EStG gegeben sind, führt die Familienkasse in eigener Zuständigkeit durch.
34Vorliegend ist im Zeitraum von April 2020 bis Mai 2021 kein Ausschlussgrund i.S.d. § 62 Abs. 1a S. 3 EStG gegeben. Die Klägerin erfüllt in diesem Zeitraum die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 S. 1 FreizügG/EU.
35Nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU sind nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt.
36Die Klägerin war von April 2020 bis Mai 2021 nicht erwerbstätig. Sie war seit dem Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland im Januar 2020 weder nichtselbständig noch selbständig erwerbstätig und auch nicht arbeitssuchend, sondern hat ihre Erwerbstätigkeit vorübergehend wegen Kindererziehung unterbrochen.
37Für die Freizügigkeitsberechtigung nicht erwerbstätiger Unionsbürger setzt § 4 S. 1 FreizügG/EU weiter voraus, dass diese über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen.
38Ausreichenden Krankenversicherungsschutz bei der Krankenkasse ab dem 13. Januar 2020 hat die Klägerin schon im außergerichtlichen Verfahren nachgewiesen.
39Zudem verfügte die Klägerin im Zeitraum von April 2020 bis Mai 2021 über ausreichende Existenzmittel.
40Der Begriff der ausreichenden Existenzmittel ist unionsrechtskonform auszulegen.
41Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (Verordnung Nr. 883/2004) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, nicht zu beanstanden, den Kindergeldanspruch von zuziehenden EU-Ausländern im Aufnahmemitgliedsstaat von deren dortigem Aufenthaltsrecht abhängig zu machen (EuGH, Urteil vom 14. Juni 2016 C-308/14 Rs. Kommission / Vereinigtes Königreich, EU:C:2016:435 Rn. 68; EuGH, Urteil vom 01. August 2022 C-411/20 Rs. Familienkasse Niedersachsen-Bremen, EU:C:2022:602 Rn. 62; dazu auch FG Düsseldorf, Urteile vom 9. März 2023, 9 K 186/22 Kg und 9 K 2621/21 Kg, juris sowie FG Münster, Gerichtsbescheid vom 7. Februar 2023, 8 K 903/21 Kg, juris). Das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedsstaat richtet sich wiederum nach der Richtlinie Nr. 2004/38 (Richtlinie Nr. 2004/38) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber mit den Regelungen des FreizügG/EU im Ergebnis umsetzen wollen (zur Entstehungsgeschichte siehe Tewocht, in Kluth/Heusch, Beck Online Kommentar Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 1 Rn. 10 ff. (Stand: 10/2021)).
42Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie Nr. 2004/38 hat jeder Unionsbürger ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen.
43Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen führt aber nicht automatisch zum Verlust des Freizügigkeitsrechts. Denn die Richtlinie Nr. 2004/38 schließt keineswegs die Möglichkeit aus, im Aufnahmemitgliedstaat den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten Sozialleistungen zu gewähren (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 C-140/12 Rs. Brey, EU:C:2013:565 Rn. 65). Zwar kann der Umstand, dass ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 C-140/12 Rs. Brey, EU:C:2013:565 Rn. 63). Insbesondere dem 10. Erwägungsgrund der Richtlinie Nr. 2004/38 ist jedoch zu entnehmen, dass die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie Nr. 2004/38 genannte Voraussetzung vor allem verhindern soll, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 C-140/12 Rs. Brey, EU:C:2013:565 Rn. 54).
44Zur Beurteilung der Frage, ob ein EU-Ausländer Sozialhilfeleistungen in unangemessener Weise in Anspruch nimmt, ist, wie aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie Nr. 2004/38 hervorgeht, zu prüfen, ob der Betreffende vorübergehende Schwierigkeiten hat, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände des Betreffenden und der ihm gewährte Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen. Zudem ist zu prüfen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 C-140/12 Rs. Brey, EU:C:2013:565 Rn. 64; BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015, 1 C 22/14, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungs-Report - NVwZ-RR - 2015, 910 Rn. 21; siehe auch Finanzgericht - FG - Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03. Januar 2023, 2 K 2118/17, juris, Rn. 48; Oberverwaltungsgericht - OVG - Lüneburg, Beschluss vom 03. März 2022, 13 ME 507/21, Informationsbrief Ausländerrecht - InfAuslR - 2022, 222).
45Insbesondere ein langandauernder und/oder vollumfänglicher Sozialhilfebezug ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Inanspruchnahme unangemessen ist und der Betroffene nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Denn unter Berücksichtigung einer langjährigen, vollumfänglichen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen würde es eine unangemessene Belastung für das nationale Sozialsystem in seiner Gesamtheit bedeuten, wenn es gleichermaßen für sämtliche Unionsbürger in der abstrahierten (vertypten) Lage des Beziehers geöffnet und damit faktisch so etwas wie eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“ begründet würde (OVG Lüneburg, Beschluss vom 03. März 2022, 13 ME 507/21, InfAuslR 2022, 222; zur möglichen Auswirkung auf das Gesamtsystem im Bereich des Kindergelds siehe auch EuGH, Urteil vom 14. Juni 2016 C-308/14 Rs. Kommission / Vereinigtes Königreich, EU:C:2016:435 Rn. 80). Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie Nr. 2004/38 soll nicht erwerbstätige Unionsbürger gerade daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2014 C-333/13 Rs. Dano, EU:C:2014:2358 Rn. 76; zum Ganzen OVG Lüneburg, Beschluss vom 03. März 2022, 13 ME 507/21, InfAuslR 2022, 222).
46Unter Berücksichtigung der vorgenannten Grundsätze verfügte die Klägerin im Zeitraum von April 2020 bis Mai 2021 über ausreichende Existenzmittel.
47Bei den der Klägerin in diesem Zeitraum vom Jobcenter der Stadt Y gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts handelt es sich um Arbeitslosengeld II i.S.d. § 19 Abs. 1 S. 1 SGB II (2020 und 2021), welches ihr im Hinblick auf die Problematik der sofortigen Verwertbarkeit des von ihr als Vermögen nach § 12 SGB II (2020 und 2021) zu berücksichtigenden Miteigentumsanteils in den Niederlanden gemäß § 24 Abs. 5 S. 1 SGB II (2020 und 2021) als Darlehen gewährt worden ist. Das der Klägerin als Darlehen gewährte Arbeitslosengeld II ist nach den Regelungen des § 42a SGB II zurückzuzahlen.
48Damit werden die der Klägerin gewährten Leistungen in den Jahren 2020 und 2021 zwar aufgrund von Regelungen gewährt, die Teil des sozialen Sicherungssystems in Deutschland sind. Allerdings kann bei diesen darlehensweise gewährten Leistungen keine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen angenommen werden. Denn aufgrund der Rückzahlungsverpflichtung ist eine nennenswerte Belastung des deutschen Sozialhilfesystems im Einzelnen und im Ganzen nicht erkennbar.
49Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die Rückzahlung zum jetzigen Stand des Verfahrens noch wahrscheinlich ist. Denn die Voraussetzungen der Darlehensgewährung nach § 24 Abs. 5 SGB II (2020 und 2021), insbesondere die Prognose zur Verwertbarkeit des Vermögens, waren jeweils zu Beginn des Bewilligungszeitraums zu prüfen (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 24 Rn. 114 ff. (Stand: Januar 2023)). Insbesondere hätte nach § 24 Abs. 5 S. 2 SGB II (2020 und 2021) auch die Möglichkeit einer Besicherung des Darlehens bestanden.
50Zudem kann für das Bestehen ausreichender Existenzmittel in Fällen der Darlehensgewährung auch darauf abgestellt werden, dass die Gewährung von Leistungen in Form eines Darlehens gerade entsprechendes Vermögen voraussetzt. Es wird nur von vorübergehenden Schwierigkeiten im Hinblick auf die sofortige Verwertbarkeit dieses Vermögens ausgegangen. Insofern droht, auch im Hinblick auf die geringe Dauer des prognostizierten Leistungsbezugs, keine unangemessene Belastung des Sozialsystems im Ganzen.
512. Die Sache ist aber nicht spruchreif, denn die Höhe des Kindergeldanspruchs der Klägerin steht wegen ggf. anzurechnender niederländischer Familienleistungen derzeit nicht fest.
52Der Kindergeldanspruch der Klägerin wird im Fall eines vorrangigen Anspruchs des Kindesvaters C auf Familienleistungen nach niederländischem Recht unionsrechtlich auf den Betrag begrenzt, der sich bei Anrechnung des Anspruchs auf Familienleistungen in den Niederlanden ergibt.
53Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so stehen nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 Ansprüche auf Familienleistungen, die durch eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden, an erster Stelle. Der entsprechende Mitgliedstaat ist somit vorrangig zur Gewährung von Familienleistungen zuständig. Der nachrangig verpflichtete Staat, in dem der Kindergeldberechtigte wohnt, aber nicht beschäftigt oder selbständig erwerbstätig ist, ist nur dann zur Gewährung von Familienleistungen verpflichtet, wenn seine Familienleistungen höher sind als die im Beschäftigungsstaat bzw. im Staat der selbständigen Erwerbstätigkeit vorgesehenen Leistungen, und zwar in Höhe des Unterschiedsbetrags (Art. 68 Abs. 2 S. 2 Verordnung Nr. 883/2004; BFH, Urteil vom 9. Dezember 2020 III R 73/18, BFHE 271, 508, BStBl II 2022, 178). Der Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht und der Anspruch auf Familienleistungen nach niederländischem Recht sind nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren (BFH, Urteil vom 9. Dezember 2020 III R 73/18, BFHE 271, 508, BStBl II 2022, 178; zur Vergleichbarkeit der niederländischen Leistungen (kinderbijslag und kindgebonden budget) mit dem deutschen Kindergeld siehe die Übersicht des Bundeszentralamts für Steuern - BZSt - vom 16. Januar 2017, BStBl. I 2017, 151).
54Die Mitteilung einer ausländischen Behörde über die Gewährung einer Familienleistung hat Bindungswirkung für die Familienkasse (BFH, Urteil vom 25. Juli 2019 III R 34/18, BFHE 265, 487, BStBl II 2021, 20) und das erkennende Gericht (BFH, Urteil vom 18. Februar 2021 III R 71/18, BFHE 272, 53, BStBl II 2022, 180). Liegt hingegen keine solche Entscheidung einer ausländischen Behörde vor, ist zunächst zu klären, ob und in welchem Umfang - bei fiktiver Annahme der Anwendbarkeit des EU-ausländischen Rechts - dort ein Anspruch auf Familienleistungen bestand. Insofern ist ggf. auch zu berücksichtigen, dass die in Deutschland gestellten Kindergeldanträge gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 von den EU-ausländischen Behörden so zu behandeln wären, als ob sie direkt bei ihnen gestellt worden wären; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist. Sollten diese Ermittlungen ergeben, dass ein Anspruch des Kindsvaters oder der Kindesmutter im EU-Ausland bestand, ist in einem zweiten Schritt im Hinblick auf die Anwendung der Prioritätsregel des Art. 68 der Verordnung Nr. 883/2004 ebenfalls festzustellen, woraus sich die Zuständigkeit des anderen Mitgliedsstaats (Erwerbstätigkeit oder Wohnort eines Elternteils) ergibt (BFH, Urteil vom 18. Februar 2021 III R 71/18, BFHE 272, 53, BStBl II 2022, 180).
55Diese Ermittlungen sind nicht durch das Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht (BFH, Beschluss vom 9. Juni 2015 III B 96/14, BFH/NV 2015, 1269; dazu auch allgemein BFH, Urteil vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184), sondern durch die Familienkasse im auf das Bescheidungsurteil folgenden außergerichtlichen Verfahren durchzuführen. Die Familienkasse entscheidet nach Aufhebung der ablehnenden Entscheidung nämlich erneut über den Antrag auf Kindergeld unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts und hat im Rahmen dessen den nach ihrer ursprünglichen Auffassung zunächst nicht entscheidungserheblichen Sachverhalt erstmals zu ermitteln.
56Im Streitfall hat der Kindesvater C mangels Mitwirkung keine niederländischen Familienleistungen erhalten. Es besteht aber die Möglichkeit eines Anspruchs auf Familienleistungen nach niederländischem Recht (kinderbijslag und kindergebonden budget), da er nach den Angaben der Klägerin in den Niederlanden wohnhaft und auch selbständig erwerbstätig war und ist. Ob tatsächlich ein Anspruch des C auf den „kinderbijslag“ sowie ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf das „kindgebonden budget“ für die Kinder A und B in den Streitzeiträumen besteht, ist derzeit nicht ersichtlich und im folgenden außergerichtlichen Verfahren von der Beklagten zu ermitteln. Die Auskunft der SVB im vorliegenden Verfahren enthält hierzu keine hinreichenden Informationen. Die SVB hat lediglich Angaben zur Höhe des möglichen Anspruchs auf den „kinderbijslag“ gemacht. Zum „kindgeboden budget“ bedarf es darüber hinaus einer Auskunft der niederländischen Finanzverwaltung (belastingdienst), die hierfür zuständig ist (https://www.belastingdienst.nl/wps/wcm/connect/bldcontentnl/belastingdienst/prive/toeslagen/kindgebonden-budget/voorwaarden/). Schließlich ist ggf. in einem weiteren Schritt zu ermitteln, ob sich der Anspruch auf Familienleistungen in den Niederlanden tatsächlich aufgrund der selbständigen Erwerbstätigkeit des C oder nur aufgrund seines Wohnsitzes ergibt.
57Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 136 Abs. 1 S. 3 FGO. Zwar ist die Klägerin insoweit teilweise unterlegen, als nicht das beantragte Verpflichtungsurteil, sondern ein Bescheidungsurteil ergangen ist. In den Fällen, in denen der Kläger eine gebundene Entscheidung mit seiner Klage verfolgt und die Entscheidung, ob Spruchreife herbeigeführt wird oder nicht, beim Gericht liegt, ist das teilweise Unterliegen aber nicht dem Kläger zuzurechnen (BFH, Urteil vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BFHE 210, 265, BStBl II 2006, 184).
58Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
59Die Revision war zur Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. FGO zuzulassen.