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Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheids vom 16. April 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt zwei Drittel und der Beklagte trägt ein Drittel der Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin betreibt in x Werken in B-Stadt Raffinerien, in denen sie im Wege der Rohöldestillation Kraftstoffe herstellt. In ihrer Raffinerie in K-Stadt stellt die Klägerin auch petrochemische Grundstoffe her. In dieser Raffinerie fällt bei der Methanolsynthese als Nebenprodukt sog. Luttermethanol an. Die bei der Methanolsynthese anfallenden Nebenprodukte wie Ethanol, Propanol und weitere Kohlenwasserstoffe werden durch Destillation von dem Reinmethanol getrennt. Da die Siedepunkte von Methanol und Ethanol nah beieinander liegen, lassen sich diese beiden Stoffe nicht vollständig voneinander trennen. Neben dem durch die Verdampfung gewonnenen reinen Methanol bleibt deshalb eine Menge flüssiges Luttermethanol übrig, das zu mehr als 90 % aus Methanol sowie aus Ethanol und Wasser besteht. Der Ethanolgehalt in dem Luttermethanol betrug im Kalenderjahr 2017 zwischen 2,86 % und 5,95 % Vol.
3Die Aufnahme von Methanol wirkt im menschlichen Körper giftig. Das Methanol selbst bewirkt keine Schädigung des Organismus. Die Abbauprodukte, die der menschliche Körper aus dem Methanol bildet, wie insbesondere Formaldehyd, sind jedoch giftig. Daher würde die Einnahme von etwa 80 bis 90 ml Luttermethanol bei einem erwachsenen Menschen mit durchschnittlichem Körpergewicht tödlich wirken.
4Die Klägerin lieferte das Luttermethanol im Jahr 2017 an die A-GmbH und die H-GmbH. Diese lieferten das Luttermethanol an Betreiber von Klärwerken, die es zur Ernährung von in Klärschlamm befindlichen Bakterien einsetzten.
5Die Klägerin wandte sich mit Schreiben vom 15. Mai 2017 an das beklagte Hauptzollamt und bat zu prüfen, ob sie das Luttermethanol weiterhin ohne branntweinsteuerrechtliche Einschränkungen vertreiben dürfe. Das beklagte Hauptzollamt teilte der Klägerin nach der Untersuchung einer Probe mit Schreiben vom 6. November 2017 mit, dass das Luttermethanol wegen des festgestellten Ethanolgehalts von 3 % Vol. gemäß § 130 Abs. 4 des Gesetzes über das Branntweinmonopol (BranntwMonG) der Branntweinsteuer unterliege. Wenn das Luttermethanol bei der Schwerölvergasung im Rahmen der Rohöldestillation entstehe, würde es in einem betriebswirtschaftlich nicht auf die Herstellung von Erzeugnissen abgestellten Verfahren anfallen und deshalb Zwangsanfall im Sinne des § 134 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. e BranntwMonG darstellen. Zwangsanfall gelte als ein im Steuerlager anfallendes Erzeugnis, wenn er im Anschluss an seine Entstehung unverzüglich vernichtet oder an den Inhaber eines Steuerlagers für Branntwein oder branntweinhaltige Waren abgegeben werde. Andernfalls habe die Gewinnung des Luttermethanols in einem Steuerlager für Erzeugnisse zu erfolgen. Die der Klägerin erteilte Erlaubnis zum Betrieb eines Steuerlagers vom 15. Dezember 2010 müsse dann räumlich um den Gewinnungsort erweitert werden. Die Abgabe des Luttermethanols habe unter Steueraussetzung zu erfolgen.
6Das beklagte Hauptzollamt erweiterte alsdann mit Verfügung vom 15. Dezember 2017 die der Klägerin erteilte Erlaubnis vom 15. Dezember 2010 zum Betrieb eines Steuerlagers für Erzeugnisse antragsgemäß auf die Anlagenteile, die der Gewinnung des Luttermethanols dienten. Es wies darauf hin, dass die Gewinnung des Luttermethanols damit unter Steueraussetzung erfolge, die Branntweinsteuer jedoch durch die Entnahme aus dem Steuerlager entstehe. Für das von der Klägerin in dem Zeitraum vom 2. Januar bis zum 11. Dezember 2017 hergestellte Luttermethanol ging das beklagte Hauptzollamt davon aus, dass dies ohne Erlaubnis geschehen sei und die Steuer daher nach § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG entstanden sei. Es setzte deshalb mit Bescheid vom 20. Juni 2018 3.084.942,60 € Branntweinsteuer gegen die Klägerin fest.
7Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Ferner beantragte sie, die Branntweinsteuer nach § 163 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) aus Billigkeitsgründen abweichend auf 0 € festzusetzen. Zur Begründung trug sie vor: Das Luttermethanol sei nach § 152 Abs. 1 Nr. 3 BranntwMonG von der Steuer befreit, weil es gewerblich als Futtermittel für Bakterien in Kläranlagen verwendet worden sei. Das Luttermethanol sei zwar nicht vergällt gewesen. Dies sei jedoch nicht erforderlich gewesen, weil es auf Grund des überwiegenden Gehalts an Methanol für den menschlichen Genuss nicht geeignet gewesen sei. Angesichts der natürlichen Toxizität des Luttermethanols hätte eine zusätzliche Vergällung keine bessere Anwendung der Steuerbefreiung und keine Vermeidung von Steuerhinterziehung oder sonstigem Missbrauch bewirken können. Es verstoße zudem gegen den aus dem Unionsrecht folgenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die sich aus Art. 27 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 92/83/EWG (RL 92/83) des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. EG Nr. L 316/21) ergebende Steuerbefreiung von der verfahrensrechtlichen Voraussetzung einer Vergällung abhängig zu machen, die sinnlos gewesen wäre, weil das Luttermethanol ohnehin bereits genussuntauglich gewesen sei. Jedenfalls sei die Steuer gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 AO abweichend auf 0 € festzusetzen. Eine Besteuerung des in dem Luttermethanol enthaltenen Alkohols widerspreche dem Sinn und Zweck des BranntwMonG. Mit dem Gesetz solle nur die konsumtive Verwendung von Alkohol für den menschlichen Genuss besteuert werden.
8Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 31. Oktober 2018, Methanol rückwirkend als Vergällungsmittel zuzulassen. Dies lehnte das beklagte Hauptzollamt mit Verfügung vom 21. Januar 2019 ab, weil nur der Verwender im Zusammenhang mit einer förmlichen Einzelerlaubnis antragsberechtigt sei.
9Das beklagte Hauptzollamt lehnte mit Bescheid vom 16. April 2019 eine abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO ab. Zur Begründung führte es aus: Die Steuerfestsetzung benachteilige die Klägerin nicht im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbeteiligten und sei vom Gesetzgeber auch gewollt. Nach dem BranntwMonG seien zwar technische oder industrielle Verwendungen steuerfrei. Hierzu habe es jedoch nach dem Gesetz einer Überwachung bedurft, die im Streitfall nicht gesichert gewesen sei. Es sei weder eine Erlaubnis für die gewerbliche Verwendung des Luttermethanols erteilt worden noch sei dieses vergällt gewesen. Hätte die Klägerin als erfahrene und langjährig im Bereich der Herstellung von Alkoholerzeugnissen gewerblich tätige Wirtschaftsbeteiligte die ihr bekannten Überwachungsvorschriften eingehalten, hätte die Entstehung der Steuer vermieden werden können.
10Mit ihrem hiergegen eingelegten Einspruch trug die Klägerin vor: Sie sei keine erfahrene und langjährig im Bereich der Herstellung von Alkoholerzeugnissen gewerblich tätige Wirtschaftsbeteiligte. Sie stelle Kraftstoffe und chemische Grundstoffe her. Das Luttermethanol sei nur als Nebenprodukt ausschließlich in der Raffinerie in K-Stadt angefallen.
11Das beklagte Hauptzollamt wies mit Entscheidung vom 22. März 2021 die Einsprüche der Klägerin gegen den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 und gegen den Bescheid vom 16. April 2019 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es aus: An die Überführung des Luttermethanols in den steuerrechtlich freien Verkehr habe sich keine Steuerbefreiung nach § 152 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG angeschlossen. Das Erzeugnis sei nicht vergällt gewesen und dem Verwender sei nicht die nach § 153 Abs. 1 Satz 1 BranntwMonG erforderliche Erlaubnis erteilt worden. Methanol sei trotz der Toxizität der Abbauprodukte des Methanols kein für die Vergällung von Alkohol geeignetes Mittel. Methanol habe einen dem Ethanol ähnlichen Geruch und Geschmack. Darüber hinaus könne Methanol durch Abtrennen der methanolhaltigen Fraktion destillativ vollständig entfernt werden. Für eine teleologische Reduktion des § 44 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung des Branntweinmonopolgesetzes (BrStV) fehle es an einer planwidrigen Regelungslücke. Überdies würde die Zulassung eines Sondervergällungsmittels eine Einzelerlaubnis voraussetzen, die regelmäßig mit einer Verwendungserlaubnis erteilt werde. Die Besteuerung widerspreche auch nicht dem Unionsrecht. Art. 27 Abs. 1 Buchst. b RL 92/83 setze voraus, dass das Erzeugnis nach einer in einem Mitgliedstaat genehmigten Methode denaturiert worden sei, was hier nicht der Fall gewesen sei. Da sich Methanol nicht in gleicher Weise wie die einzelstaatlich zugelassenen Vergällungsmittel eigne, betrügerischem oder missbräuchlichem Verhalten vorzubeugen, hätte es auch nicht als Vergällungsmittel vorgesehen werden müssen. Das einzelstaatliche Erfordernis einer Verwendungserlaubnis sei zudem geeignet, die Kontrolle von Steuerbefreiungen zu erleichtern und die Risiken einer steuerbefreiten Verwendung zu verringern.
12Die Festsetzung der Steuer sei auch nicht unbillig im Sinne von § 163 Abs. 1 Satz 1 AO. Die Besteuerung eines nicht vergällten Erzeugnisses, das ohne die erforderliche Erlaubnis zu einem begünstigten Zweck verwendet werde, sei vom Gesetzgeber gewollt. Der Gesetzgeber habe die Steuerbefreiung ausdrücklich von der Vergällung und dem Vorliegen einer Erlaubnis abhängig gemacht. Es handele sich deshalb nicht um einen Sonderfall, sondern um den vom Gesetzgeber geregelten Fall einer Verwendung eines Erzeugnisses außerhalb des dafür vorgesehenen Überwachungsregimes.
13Die Klägerin hat am 13. April 2021 gegen den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 Klage erhoben. Ihrer Klageschrift hat sie den Steuerbescheid sowie die Einspruchsentscheidung beigefügt. Mit am 11. Juni 2021 eingegangenem Schriftsatz vom 10. Juni 2021 (Bl. 29 GA) hat die Klägerin klargestellt, dass sie sich mit ihrer Klage auch gegen die Ablehnung einer abweichenden Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen mit dem Bescheid vom 16. April 2019 wende.
14Die Klägerin trägt vor: Die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung des § 152 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG lägen vor. Das Luttermethanol sei als Futtermittel für Bakterien in Klärwerken und damit zu einem steuerbefreiten Zweck verwendet worden. Die allgemeine Verwendungserlaubnis des § 44 Satz 1 BrStV setze zwar die Verwendung bestimmter Vergällungsmittel voraus. Dieses nur formelle Erfordernis sei jedoch teleologisch zu reduzieren. Die Vergällung solle eine betrügerische oder missbräuchliche Verwendung eines Erzeugnisses verhindern. Das Luttermethanol sei bereits auf natürliche Weise vergällt gewesen, weil es auf Grund seines überwiegenden Methanolanteils für den menschlichen Genuss unter keinen Umständen verwendbar gewesen sei. Die toxische Wirkung des Methanols sei für die Frage der konsumtiven Verwendung weitaus gewichtiger als der Geschmack des Erzeugnisses. Zudem rieche Luttermethanol muffig, weshalb eine konsumtive Verwendung nicht in Betracht komme. Eine Extraktion des im Luttermethanol enthaltenen Ethanols komme aus wirtschaftlichen Gründen von vornherein nicht in Betracht, weil der Extraktionsertrag bei einem durchschnittlichen Gehalt an Ethanol von 2,86 bis 5,96 % Vol. marginal sei. Es sei überdies technisch nicht möglich, Methanol und Ethanol vollständig zu trennen. Methanol sei im Übrigen nach dem Anhang zur Verordnung (EG) Nr. 3199/93 (VO Nr. 3199/93) der Kommission vom 22. November 1993 über die gegenseitige Anerkennung der Verfahren zur vollständigen Denaturierung von Alkohol für Zwecke der Verbrauchsteuerbefreiung (ABl. EG Nr. L 288/12) ein zulässiges Vergällungsmittel. So werde etwa in Griechenland Methanol zur Denaturierung von Alkohol verwendet. Eine Besteuerung des in dem Luttermethanol enthaltenen Ethanols verstoße auch gegen den aus dem Unionsrecht folgenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil sie über das hinausgehe, was erforderlich sei, um eine korrekte und einfache Anwendung der Steuerbefreiung des Art. 27 Abs. 1 Buchst. b RL 92/83 sicherzustellen und einen Missbrauch zu verhindern.
15Jedenfalls sei die Steuer aus Billigkeitsgründen abweichend gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 AO auf 0 € festzusetzen. Sie habe sich in einer atypischen, vom Gesetzgeber nicht vorausgesehenen Ausnahmesituation befunden. Es widerspreche der gesetzgeberischen Wertentscheidung, ein Erzeugnis, das unter keinem denkbaren Gesichtspunkt wirtschaftlich als Trinkbranntwein verwendet werde könne und stets zu einem steuerbefreiten Zweck verwendet worden sei, der Besteuerung zu unterwerfen. Das beklagte Hauptzollamt habe zudem mit Bescheid vom 7. Oktober 2020 (Anlage K 5; Bl. 65 GA) für den Zeitraum vom 15. Dezember 2017 bis zum 6. August 2019 erhobene Branntwein- bzw. Alkoholsteuer aus Billigkeitsgründen erstattet. Dabei sei das beklagte Hauptzollamt ihrem Vorbringen gefolgt, dass es unbillig sei, die Steuer zu erheben, obwohl sie sich seit Bekanntwerden der verbrauchsteuerlichen Bedeutung mit einem hohen personellen und zeitlichen Aufwand unermüdlich um eine zeitnah zu verwirklichende Lösung bemüht habe. Wenn es seit dem Bekanntwerden der verbrauchsteuerlichen Bedeutung für sie unbillig gewesen sei, die Steuer zu tragen, müsse das erst recht für den Zeitraum gelten, in dem sie keinerlei Kenntnis von der verbrauchsteuerlichen Relevanz des Luttermethanols gehabt habe. Sie hätte diese Kenntnis auch nicht haben müssen, weil sie gewerbsmäßig keine Alkoholerzeugnisse hergestellt habe. Den Fall einer natürlichen Vergällung habe der Gesetzgeber nicht gesehen. Eine nochmalige Vergällung mit einem nach § 44 Satz 1 BrStV zugelassenen Stoff hätte sie nur mit erheblichen Kosten belastet und wäre nicht erforderlich gewesen, um dem Zweck des Gesetzes zu genügen. Die Einholung einer Erlaubnis zur steuerfreien Verwendung des Luttermethanols oder einer Erlaubnis zum Betrieb eines Steuerlagers bei den Zwischenhändlern hätte zum Zusammenbruch der gesamten Abnehmerkette geführt. Ihre Kunden hätten kein Interesse gehabt, eine entsprechende Erlaubnis zu beantragen, weil sie auf das Alternativprodukt Reinmethanol hätten ausweichen können. Eine Vernichtung des Luttermethanols hätte nur mit einem erheblichen administrativen und finanziellen Aufwand sowie einer nicht gänzlich vermeidbaren Umweltbelastung geschehen können.
16Sie habe ihren Hilfsantrag bereits mit ihrer Klageschrift anhängig gemacht. Die Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 habe auch ihren Hilfsantrag betroffen. Der Umstand, dass sie das mit ihrem Hilfsantrag verfolgte Klagebegehren in der Klageschrift nicht ausdrücklich bezeichnet habe, habe nicht bedeutet, dass sie dieses Rechtsschutzbegehren fallen gelassen habe. Hierfür bestehe kein Anhaltspunkt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spreche vielmehr dafür, dass beide Klagebegehren eng miteinander verknüpft seien. Im Zweifel sei davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige beide Verfahren verfolgen wolle.
17Die Klägerin beantragt,
181. den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 aufzuheben;
2. hilfsweise das beklagte Hauptzollamt unter Aufhebung seines Bescheids vom 16. April 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden;
3. hilfsweise die Revision zuzulassen.
Das beklagte Hauptzollamt beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Zur Begründung trägt es vor: Die Klägerin könne sich nicht mit Erfolg auf die Billigkeitsentscheidung vom 7. Oktober 2020 berufen. Der Grund für die Entscheidung sei gewesen, dass sie nach dem Entdecken der Steuerpflicht des Luttermethanols letztlich erfolglos alles versucht habe, um eine Steuerentstehung zu vermeiden. Die Raffinerie habe ohne den Anfall des Luttermethanols nicht betrieben werden können. Eine Vernichtung sei aus Emissionsschutzgesichtspunkten nicht in Betracht gekommen. Die Klägerin habe das Luttermethanol aus technischen Gründen nicht vollständig vergällen können. Sie habe das Luttermethanol auch nicht so lange unter Steueraussetzung lagern können, bis sie ein Steuerlager gefunden habe, in dem die Vergällung habe durchgeführt werden können. Sie sei deshalb gezwungen gewesen, das Luttermethanol steuerbegründend auszulagern, obwohl es später an sich zu einem steuerfreien Zweck verwendet worden sei. In dem Zeitraum, auf den sich der angefochtene Steuerbescheid beziehe, habe die Klägerin demgegenüber keine Maßnahmen ergriffen, den Anfall und die Weitergabe des Luttermethanols in Übereinstimmung mit den verbrauchsteuerrechtlichen Vorschriften zu bringen. Ein Irrtum über die Steuerpflicht sei steuerrechtlich unerheblich. Der Klägerin sei der Ethanolgehalt seit der Aufnahme der Methanolsynthese bekannt gewesen. Sie habe den Ethanolgehalt des Luttermethanols sogar gemessen. Ihr Versäumnis, das zur Steuerentstehung geführt habe, sei nicht entschuldbar, weil die Frage der Steuerpflicht des Luttermethanols durch einen Blick in das Gesetz oder eine Nachfrage bei der Finanzbehörde hätte geklärt werden können. Ihr sei zudem eine Erlaubnis zum Betrieb eines kombinierten Steuerlagers zur Herstellung von Kraftstoff unter Beimischung von Bioethanol erteilt worden. Sie könne deshalb nicht einwenden, sich mit der auf Alkoholerzeugnisse zu erhebenden Steuer nicht auseinandergesetzt zu haben.
25E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
26Die Klage ist hinsichtlich des Hauptantrags unbegründet. Der Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Das beklagte Hauptzollamt hat die Branntweinsteuer zu Recht gegen die Klägerin festgesetzt.
27Die Steuer ist im Streitfall nach § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG entstanden. Das Luttermethanol war wegen des Gehalts an Ethanol von 2,86 % bis 5,95 % eine branntweinhaltige Ware (ein Erzeugnis) im Sinne des § 130 Abs. 4 BranntwMonG. Bei Ethanol handelt es sich um Ethylalkohol (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union – EuGH –, Urteil vom 21. Dezember 2011 Rs. C-503/10, ECLI:EU:C:2011:872 Randnr. 40, 58).
28Das Luttermethanol ist in dem fraglichen Zeitraum vom 2. Januar bis zum 11. Dezember 2017 dadurch in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden, dass die Klägerin es ohne die nach § 134 Abs. 1 Satz 2 BranntwMonG erforderliche Erlaubnis hergestellt hat. Die ihr erteilte Erlaubnis zum Betrieb eines Steuerlagers für Erzeugnisse vom 15. Dezember 2010 ist erst mit Verfügung vom 15. Dezember 2017 auf die Anlagenteile erweitert worden, die der Gewinnung des Luttermethanols dienten. Die Klägerin ist als Herstellerin des Erzeugnisses gemäß § 143 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BranntwMonG Steuerschuldnerin geworden.
29An die Überführung des Luttermethanols in den steuerrechtlich freien Verkehr hat sich keine Steuerbefreiung angeschlossen (§ 143 Abs. 1 BranntwMonG). Gemäß § 152 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG sind Erzeugnisse von der Steuer befreit, wenn sie gewerblich vergällt zu Heiz- oder Reinigungszwecken oder anderen Zwecken verwendet werden, die nicht der Herstellung von Waren dienen. Das Luttermethanol ist zwar zu anderen Zwecken verwendet worden, die nicht der Herstellung von Waren dienten. Es ist von Betreibern von Klärwerken zur Ernährung von in Klärschlamm befindlichen Bakterien verwendet worden. Das Luttermethanol ist jedoch nicht mit den in § 50 Abs. 1 und 4 Satz 1 BrStV zur Vergällung im Sinne des § 153 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG zugelassenen Mitteln vergällt worden. Methanol ist in § 50 Abs. 4 Satz 1 BrStV nicht als Vergällungsmittel aufgeführt. Methanol ist auch nicht als ein anderes Vergällungsmittel gemäß § 50 Abs. 5 Satz 1 BrStV zugelassen worden.
30Der Klägerin ist zwar einzuräumen, dass Methanol unionsrechtlich nach dem Anhang zur VO Nr. 3199/93 als Denaturierungsmittel zugelassen ist. Die Denaturierung stellt einen Vorgang dar, bei dem Alkohol durch die absichtliche Zugabe bestimmter Stoffe toxisch gemacht wird, damit er nicht für den Gebrauch als Lebensmittel umgewandelt werden kann (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 Rs. C-503/10, ECLI:EU:C:2011:872 Randnr. 60). In der unstreitig toxischen Wirkung des Methanols, das sich in dem Luttermethanol zu mehr als 90 % befand, könnte daher eine ausreichende Denaturierung gesehen werden.
31Gleichwohl schloss sich an die Überführung des Luttermethanols in den steuerrechtlich freien Verkehr keine Steuerbefreiung an, weil es an der hierfür erforderlichen Erlaubnis fehlte. Gemäß § 153 Abs. 1 Satz 1 BranntwMonG bedarf einer Erlaubnis, wer Erzeugnisse in den Fällen des § 152 Abs. 1 BranntwMonG steuerfrei verwenden will. Einer solchen Erlaubnis kommt nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) konstitutive Wirkung zu. Das Fehlen einer Erlaubnis führt zum Ausschluss der Steuerbefreiung, selbst wenn die Ware zu begünstigten Zwecken verwendet worden ist (vgl. BFH, Urteil vom 31. Juli 1990 VII R 3/89, BFH/NV 1991, 487; Beschluss vom 8. März 2004 VII B 150/03, BFH/NV 2004, 981; Urteil vom 5. Mai 2015 VII R 58/13, BFH/NV 2015, 1234).
32Den Verwendern des Luttermethanols, den Betreibern der Kläranlagen, ist unstreitig keine Erlaubnis nach § 153 Abs. 1 Satz 1 BranntwMonG erteilt worden. Die allgemeine Verwendungserlaubnis nach § 44 Satz 1 BrStV konnte nicht eingreifen, weil keines der in § 44 Satz 1 Nr. 1 BrStV genannten Vergällungsmittel verwendet worden ist. Diese Bestimmung ist einer teleologischen Reduktion nicht zugänglich. Eine teleologische Reduktion setzt, ebenso wie die teleologische Extension, eine Divergenz zwischen dem Gesetzeswortlaut und dem Gesetzeszweck voraus (vgl. BFH, Urteil vom 1. Juni 1995 VII R 109/94, BFH/NV 1996, 76). In Anbetracht der enumerativ in § 44 Satz 1 Nr. 1 BrStV aufgeführten Vergällungsmittel kann nicht angenommen werden, dass der Verordnungsgeber auch andere Vergällungsmittel – unbeschadet ihrer Anerkennung auf der Ebene des Unionsrechts (Anhang zur VO Nr. 3199/93) – hätte zulassen wollen.
33Das Unionsrecht steht der Annahme einer Steuerentstehung nach § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH können die Mitgliedstaaten für die Verletzung formeller Anforderungen die Verhängung einer Geldbuße vorsehen. Die Verletzung formeller Anforderungen kann eine nach dem Unionsrecht vorgesehene Steuerbefreiung für Erzeugnisse nicht in Frage stellen, wenn die nach dem Unionsrecht vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung vorliegen (vgl. EuGH, Urteile vom 27. Juni 2018 Rs. C-90/17, ECLI:EU:C:2018:498 Randnr. 44; vom 7. November 2019 Rs. C-68/18, ECLI:EU:C:2019:933 Randnr. 59). Denn die Versagung einer Verbrauchsteuerbefreiung durch eine einzelstaatliche Behörde allein auf Grund des Umstands, dass gewisse formelle Anforderungen nicht erfüllt wurden, ohne dass geprüft wurde, ob die materiellen Voraussetzungen für die steuerfreie Verwendung einer Ware erfüllt sind, geht über das hinaus, was erforderlich ist, um eine korrekte und einfache Anwendung der Steuerbefreiungen sicherzustellen sowie Steuerhinterziehung oder Missbrauch zu verhindern (vgl. EuGH, Urteile vom 2. Juni 2016 Rs. C-355/14, ECLI:EU:C:2016:403 Randnr. 62; vom 13. Juli 2017 Rs. C-151/16, ECLI:EU:C:2017:537 Randnr. 46).
34Im Streitfall sah das Unionsrecht für die gewerbliche Verwendung des Luttermethanols durch die Betreiber von Kläranlagen keine Steuerbefreiung vor. Diese ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 27 Abs. 1 Buchst. b RL 92/83. Danach befreien die Mitgliedstaaten die von der RL 92/83 erfassten Erzeugnisse von der harmonisierten Verbrauchsteuer, sofern die betreffenden Erzeugnisse nach den Vorschriften eines Mitgliedstaats denaturiert worden sind und zur Herstellung eines nicht für den menschlichen Genuss bestimmten Erzeugnisses verwendet werden. Zugunsten der Klägerin kann davon ausgegangen werden, dass das Luttermethanol nach den Vorschriften eines Mitgliedstaats denaturiert worden ist („…denatured in accordance with the requirements of any Member State“, „…dénaturés conformément aux prescriptions d'un État membre“ in der englischen und französischen Fassung der Bestimmung des Art. 27 Abs. 1 Buchst. b RL 92/83). Methanol ist unionsrechtlich nach dem Anhang zur VO Nr. 3199/93 als Denaturierungsmittel zugelassen. Die Klägerin hat zudem unwidersprochen vorgetragen, in Griechenland werde Methanol zur Denaturierung von Alkohol verwendet. Das Luttermethanol ist gleichwohl nicht zur Herstellung eines nicht für den menschlichen Genuss bestimmten Erzeugnisses verwendet worden. Vielmehr ist es von Betreibern von Klärwerken zur Ernährung von in Klärschlamm befindlichen Bakterien verwendet worden. Hierbei handelt es sich nicht um eine Herstellung eines nicht für den menschlichen Genuss bestimmten Erzeugnisses („used for the manufacture of any product not for human consumption” in der englischen sowie „utilisés pour la fabrication de produits qui ne sont pas destinés à la consommation humaine” in der französischen Fassung der Vorschrift des Art. 27 Abs. 1 Buchst. b RL 92/83). Dementsprechend stützt die Klägerin ihre Auffassung, die Verwendung des Luttermethanols sei steuerbefreit gewesen, im Klageverfahren nicht mehr auf § 152 Abs. 1 Nr. 3 BranntwMonG, sondern auf § 152 Abs. 1 Nr. 4 BranntwMonG.
35Da das Unionsrecht für die Verwendung des Luttermethanols zur Ernährung von in Klärschlamm befindlichen Bakterien keine Steuerbefreiung vorsah, kann nicht auf den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Juli 2017 Rs. C-151/16, ECLI:EU:C:2017:537 Randnr. 45) zurückgegriffen werden.
36Der Hilfsantrag ist zulässig.
37Die Klägerin hat ihren Hilfsantrag, mit dem sie die abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen (§ 163 Abs. 1 Satz 1 AO) verfolgt, zulässigerweise im Wege einer eventuellen Klagehäufung (§ 43 FGO) rechtshängig gemacht (vgl. BFH, Urteil vom 14. September 2017 IV R 51/14, BFHE 259, 31). Sie hat allerdings erst mit am 11. Juni 2021 eingegangenem Schriftsatz vom 10. Juni 2021 (Bl. 29 GA) klargestellt, dass sie sich mit ihrer Klage auch gegen die Ablehnung einer abweichenden Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen mit dem Bescheid vom 16. April 2019 wende. Diese Klageänderung (§ 67 FGO) ist nur zulässig, wenn die Klagefrist (§ 47 Abs. 1 Satz 2 FGO) eingehalten wurde (vgl. BFH, Beschlüsse vom 16. Juli 2015 IV B 72/14, BFH/NV 2015, 1351; vom 19. September 2017 IV B 85/16, 2018, 51). Das ist im Ergebnis der Fall.
38Die Einspruchsentscheidung ist am 22. März 2021 zur Post gegeben worden (Bl. 89 der Rechtsbehelfsakte) und galt daher gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am Donnerstag, dem 25. März 2021 bekannt gegeben. Die Klagefrist (§ 47 Abs. 1 Satz 2 FGO) lief mithin am Montag, dem 26. April 2021 ab (§ 108 Abs. 3 AO). Die Klägerin hat die Klagefrist eingehalten, weil eine Auslegung ihrer Klageschrift vom 13. April 2021 ergibt, dass sie bereits bei Klageerhebung auch den Bescheid vom 16. April 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 angefochten hat. Die spätere Einschränkung dieses Klagebegehrens als Hilfsantrag mit dem Schriftsatz der Klägerin vom 10. Juni 2021 ist für die Wahrung der Klagefrist unschädlich (vgl. BFH, Beschluss vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4).
39Als prozessuale Willenserklärung ist die Klageschrift entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auszulegen. Dabei sind zur Bestimmung des Gegenstands des Klagebegehrens (§ 65 Abs. 1 Satz 1 FGO) alle bekannten und vernünftigerweise erkennbaren Umstände tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen. An die Fassung der Anträge ist das Gericht nicht gebunden (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO) (vgl. BFH, Urteil vom 25. April 2017 VIII R 64/13, BFH/NV 2017, 1325). Eine rechtsschutzgewährende Auslegung des Klageantrags (vgl. hierzu etwa BFH, Urteil vom 18. September 2014 VI R 80/13, BFHE 247, 111) kommt nur dann in Betracht, wenn die Prozesserklärung hierfür Raum lässt, d.h. nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt mehrdeutig ist. Ist die Erklärung des Angehörigen eines steuerberatenden Berufs hingegen zweifelsfrei und eindeutig, kann sie auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung nicht abweichend von ihrem tatsächlichen Inhalt gedeutet werden (BFH, Urteil vom 25. Juni 2014 I R 29/13, BFH/NV 2015, 27).
40Die Klägerin hat mit ihrer Klageschrift vom 13. April 2021 zwar ausdrücklich nur beantragt, den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 aufzuheben (Bl. 2 GA). Ein Antrag, auch den Bescheid vom 16. April 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 aufzuheben und das beklagte Hauptzollamt zu verpflichten, den Antrag der Klägerin auf abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, lässt sich jedoch im Wege einer Auslegung der Klageschrift entnehmen. Die Klägerin hat ihrer Klageschrift die Einspruchsentscheidung (Anlage K 2; Bl. 3 GA) beigefügt, die sich sowohl auf den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 als auch auf den einen Antrag nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO ablehnenden Bescheid vom 16. April 2019 bezieht. Daneben hat sie zwar nur den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 als Anlage K 1 (Bl. 16 GA) übersandt. Den Bescheid vom 16. April 2019 hat sie mit ihrer Klageschrift nicht übersandt. Dies spricht indes nicht dagegen, dass die Klägerin ihren Hilfsantrag bereits mit der Einreichung ihrer Klageschrift verfolgt hat. Vielmehr ergibt sich aus dem Umstand, dass die Klägerin der Klageschrift die Einspruchsentscheidung beigefügt hat, die sich sowohl auf den Steuerbescheid vom 20. Juni 2018 als auch auf den Bescheid vom 16. April 2019 bezieht, dass sie ihren Hilfsantrag schon bei der Erhebung der Klage hat stellen wollen. Das lässt nämlich die Annahme zu, dass ihre Prozesserklärung unter Berücksichtigung der ausdrücklich formulierten Klageanträge nicht zweifelsfrei und eindeutig war. Zudem ist bei der Auslegung einer Klageschrift auch auf die aus den Steuerakten erkennbaren Umstände abzustellen (vgl. BFH, Beschluss vom 5. Februar 2014 XI B 73/13, BFH/NV 2014, 872). Aus der Einspruchsakte ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Klägerin ihr Begehren bezüglich ihres Antrags nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr weiter verfolgen wollte. Eine solche Annahme wäre vor dem Hintergrund der Argumentation der Klägerin im Einspruchsverfahren unverständlich. Der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung gebietet es daher, das Hinzufügen der Einspruchsentscheidung dahingehend auszulegen, dass die Klägerin bereits mit ihrer Klageschrift auch ihren Hilfsantrag verfolgen wollte.
41Der Hilfsantrag ist begründet. Der Bescheid vom 16. April 2019 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. März 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Da die Sache nicht spruchreif ist, ist das beklagte Hauptzollamt zu verpflichten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (§ 101 FGO).
42Sachlich unbillig im Sinne von § 163 Abs. 1 Satz 1 AO ist die Festsetzung einer Steuer, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. Das ist der Fall, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage, wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte, im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH, Urteil vom 27. Februar 2019 VII R 34/17, BFHE 264, 563). Dies wiederum kann seinen Grund entweder in Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder in einem Widerspruch zu dem der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegenden Zweck haben. Allerdings dürfen Billigkeitsmaßnahmen nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem sich lediglich in einem Einzelfall zeigenden ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestands abhelfen. Bei der Billigkeitsprüfung müssen solche Umstände außer Betracht bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt in der Regel keine Billigkeitsmaßnahme. Insbesondere kann § 163 Abs. 1 Satz 1 AO nicht als Rechtsgrundlage für eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Steuerbefreiungsvorschrift dienen (BFH, Urteil vom 27. Februar 2019 VII R 34/17, BFHE 264, 563).
43Hiervon ausgehend läuft im Streitfall eine Besteuerung der Herstellung des Luttermethanols durch die Klägerin gemäß § 143 Abs. 1 und 2 Nr. 2 BranntwMonG den Wertungen des Gesetzgebers derart zuwider, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. An die Herstellung des Luttermethanols hat sich eine gewerbliche Verwendung angeschlossen, die steuerfrei gewesen wäre, wenn das Erzeugnis mit einem zugelassenen Vergällungsmittel vergällt worden wäre und Verwendungserlaubnisse erteilt worden wären (§§ 152 Abs. 1 Nr. 4, 153 Abs. 1 Satz 1 BranntwMonG). Wie die Klägerin zu Recht vorgetragen hat, wäre eine Vergällung des Luttermethanols wegen der toxischen Wirkungen des Methanols überflüssig gewesen, zumal Methanol als Vergällungsmittel unionsrechtlich anerkannt ist (Anhang zur VO Nr. 3199/93). Das beklagte Hauptzollamt hat in seinem Bescheid vom 7. Oktober 2020 nachvollziehbar dargelegt, dass die Steuerentstehung für die Klägerin nicht vermeidbar war und die Besteuerung des nicht zum menschlichen Genuss geeigneten Luttermethanols den Wertungen des Gesetzgebers widerspreche (Bl. 65 GA). Es ist nicht ersichtlich, warum dies in dem hier fraglichen Zeitraum vom 2. Januar bis zum 11. Dezember 2017 anders zu beurteilen sein sollte. Daher ist das beklagte Hauptzollamt nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes an seine Beurteilung gebunden.
44Anders als das beklagte Hauptzollamt meint, scheitert eine Billigkeitsmaßnahme im Streitfall nicht an einem Verschulden der Klägerin. Wenn es auch im Rahmen der Prüfung des Vorliegens einer sachlichen Unbilligkeit nicht auf eine Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen ankommt (vgl. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO § 227 AO Randnr. 235), so kann doch ein Verschulden des Steuerpflichtigen an der Entstehung der Steuer berücksichtigt werden (BFH, Urteil vom 17. Juni 2004 IV R 9/02, BFH/NV 2004, 1505). Gleichwohl ist nicht verständlich, warum die Klägerin – wie das beklagte Hauptzollamt ausgeführt hat – in dem nachfolgenden Zeitraum die Steuerentstehung trotz ihrer Anstrengungen nicht vermeiden konnte, dies allerdings in dem hier fraglichen Zeitraum anders zu beurteilen sein soll. Die verspätete Anzeige des Vorgangs mit dem Schreiben vom 15. Mai 2017 änderte nichts daran, dass die Steuerentstehung auch nach Einschätzung des beklagten Hauptzollamts für die Klägerin nicht zu vermeiden war. Zudem ist auf Grund des Schreibens der Klägerin vom 15. Mai 2017, auf das das beklagte Hauptzollamt erst mit Schreiben vom 6. November 2017 geantwortet hat, davon auszugehen, dass ihr die zutreffende branntweinsteuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts nicht bekannt war. Es kann ihr daher nicht vorgeworfen werden, in dem Zeitraum vom 2. Januar bis zum 11. Dezember 2017 keine Maßnahmen ergriffen zu haben, um eine Steuerentstehung zu vermeiden.
45Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 136 Abs. 1 Satz 1, 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Streitwert für den Hilfsantrag der Klägerin, mit dem sie nur eine Neubescheidung begehrt, 50 % der festgesetzten Steuer beträgt (vgl. BFH, Beschluss vom 1. Dezember 2000 II E 2, 3, 4, 5/00, juris).
46Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.