Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Das Leistungsgebot vom 29. Januar 2020 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. November 2020 wird aufgehoben, soweit für den Vorauszahlungsbetrag für den Monat Februar 2016 Säumniszuschläge von mehr als ... € geltend gemacht worden sind.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Der Kläger ist Insolvenzverwalter in dem über das Vermögen der A GmbH (Schuldnerin) eröffneten Insolvenzverfahren. Die Schuldnerin betrieb ein Unternehmen.
3Die Schuldnerin gab beim beklagten Hauptzollamt jährlich Stromsteueranmeldungen ab. Mit Bescheid vom 2. Februar 2015 setzte das beklagte Hauptzollamt gegen die Schuldnerin für das Kalenderjahr 2015 monatliche Vorauszahlungen von ... € fest, die jeweils bis zum 25. Kalendertag des folgenden Kalendermonats, beginnend am 25. Februar 2015 für den Monat Januar 2015, zu entrichten waren. Die Schuldnerin entrichtete die Vorauszahlungen bis zum 25. Mai 2015 für den Monat April 2015. Ab dem 25. Juni 2015 leistete sie keine Zahlungen mehr an das beklagte Hauptzollamt. Dieses leitete daraufhin das Vollstreckungsverfahren ein, das nicht mehr zu Zahlungen der Schuldnerin führte.
4Die Schuldnerin beantragte am 5. Juni 2015 beim Amtsgericht (AG) Z-Stadt, das Insolvenzverfahren über ihr Vermögen zu eröffnen. Das AG Z-Stadt bestellte den Kläger zum vorläufigen Insolvenzverwalter und ordnete unter anderem an, dass Verfügungen der Schuldnerin über Gegenstände ihres Vermögens nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam seien.
5Das beklagte Hauptzollamt setzte gegen die Schuldnerin mit Bescheid vom 2. Februar 2016 für das Kalenderjahr 2016 monatliche Vorauszahlungen von ... € fest, die jeweils bis zum 25. Kalendertag des folgenden Kalendermonats, beginnend am 25. Februar 2016 für den Monat Januar 2016, zu entrichten waren. Auch hierauf leistete die Schuldnerin keine Zahlungen mehr.
6Das AG Z-Stadt eröffnete mit Beschluss vom 15. Februar 2016 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Diese übertrug ihren Geschäftsbetrieb mit Wirkung ab dem 19. Februar 2016 auf die B GmbH.
7Auf die von dem Kläger für die Schuldnerin am 22. April 2016 abgegebene Steueranmeldung für das Kalenderjahr 2015 setzte das beklagte Hauptzollamt ihm gegenüber mit Bescheid vom 1. Juni 2016 Stromsteuer von ... € fest. Diesen Steuerbetrag verrechnete das beklagte Hauptzollamt mit der Schuldnerin für das Kalenderjahr 2015 zu gewährenden Steuerentlastungen von insgesamt ... €, so dass sich noch eine Zahlungsverpflichtung in Höhe von ... € ergab.
8Auf die von dem Kläger für die Schuldnerin am 19. August 2016 abgegebene Steueranmeldung für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 19. Februar 2016 setzte das beklagte Hauptzollamt ihm gegenüber mit Bescheid vom 29. August 2016 Stromsteuer von ... € fest. Diesen Steuerbetrag verrechnete das beklagte Hauptzollamt mit der Schuldnerin für das Kalenderjahr 2016 zu gewährenden Steuerentlastungen von insgesamt ... €, so dass sich noch eine Zahlungsverpflichtung in Höhe von ... € ergab.
9Das beklagte Hauptzollamt forderte den Kläger als Insolvenzverwalter in dem über das Vermögen der Schuldnerin eröffneten Insolvenzverfahren mit einem Leistungsgebot vom 11. Juli 2017 auf, insgesamt ... € Säumniszuschläge zur Stromsteuer zu zahlen. Hinsichtlich des Vorauszahlungsbescheids vom 2. Februar 2015 seien für den Zeitraum vom 26. Juni 2015 bis zum 25. Juni 2016 Säumniszuschläge von ... € entstanden. Bezüglich des Vorauszahlungsbescheids vom 2. Februar 2016 seien für den Zeitraum vom 26. Februar bis zum 25. August 2016 Säumniszuschläge von ... € entstanden. Hinsichtlich des Steuerbescheids vom 1. Juni 2016 seien für den Zeitraum vom 26. Juni 2016 bis zum 25. Juni 2017 Säumniszuschläge von ... € entstanden. Das beklagte Hauptzollamt stellte die Berechnung der Säumniszuschläge in einer Anlage zu dem Leistungsgebot dar, auf die Bezug genommen wird.
10Mit seinem hiergegen eingelegten Einspruch trug der Kläger vor: Die geltend gemachten Säumniszuschläge seien keine Masseverbindlichkeiten. Säumniszuschläge würden zudem nicht von § 55 Abs. 4 der Insolvenzordnung vom 5. Oktober 1994 (BGBl I, 2866), zuletzt geändert durch Art. 19 des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 (BGBl. I, 2854) (InsO), erfasst. Im Übrigen sei § 55 Abs. 4 InsO verfassungswidrig. Durch die Regelung werde der Fiskus im Vergleich zu den anderen ungesicherten Gläubigern systemwidrig bevorzugt. Hierfür gebe es keine sachliche Rechtfertigung. § 55 Abs. 4 InsO gelte zudem nicht in den Fällen der vorläufigen Eigenverwaltung. Für diese Privilegierung gebe es keinen sachlichen Grund, weil die vorläufige Eigenverwaltung kostenintensiv sei und regelmäßig zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens führe. Sowohl in den Fällen der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners nicht übergegangen sei, als auch in den Fällen der vorläufigen Eigenverwaltung würden die Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis durch den Schuldner begründet. Da § 55 Abs. 4 InsO nicht für die vorläufige Eigenverwaltung gelte, stünden dem Schuldner in diesen Fällen Umsatzsteuerbeträge als zusätzliches Finanzierungsinstrument zur Verfügung. Dies stelle eine verbotene Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) dar.
11Das beklagte Hauptzollamt änderte mit Bescheid vom 29. Januar 2020 das angefochtene Leistungsgebot dergestalt, dass davon nicht mehr Säumniszuschläge erfasst sein sollen, die vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden seien und deshalb keine Masseverbindlichkeiten seien. Demgemäß verringerte es die Summe der angeforderten Säumniszuschläge um ... € und ... € auf noch ... €.
12Mit Entscheidung vom 12. November 2020 wies das beklagte Hauptzollamt den Einspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte es aus: Die Säumniszuschläge seien gemäß § 55 Abs. 4 InsO Masseverbindlichkeiten. Da die Schuldnerin während des Insolvenzeröffnungsverfahrens über die Gegenstände ihres Vermögens nur noch mit Zustimmung des Klägers habe verfügen können, seien die Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis mit seiner Billigung begründet worden. Einer Festsetzung der Hauptforderungen gegenüber dem Kläger habe es nicht bedurft. Die Vorauszahlungsbeträge seien vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam gegenüber der Schuldnerin festgesetzt worden. Die im Insolvenzeröffnungsverfahren begründeten Verbindlichkeiten hätten nach der Eröffnung des Verfahrens ihre ursprünglichen Fälligkeiten beibehalten. Das Erlöschen der Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis durch die erklärten Aufrechnungen habe nach § 240 Abs. 1 Satz 5 der Abgabenordnung (AO) die entstandenen Säumniszuschläge unberührt gelassen. Von der Behörde sei nicht zu entscheiden, ob § 55 Abs. 4 InsO verfassungswidrig sei.
13Mit seiner Klage trägt der Kläger vor: Mit § 55 Abs. 4 InsO werde der Fiskus ungerechtfertigt privilegiert. Es sei nicht ersichtlich, warum der Fiskus vor der Einführung der Vorschrift systemwidrig benachteiligt gewesen sei. Der Fiskus könne Außenprüfungen und Liquiditätsprüfungen bei dem Steuerschuldner durchführen. Ferner könne er seine Forderungen mit einem von ihm selbst geschaffenen Titel durchsetzen. Darüber hinaus gelte § 55 Abs. 4 InsO nicht in den Fällen der vorläufigen Eigenverwaltung, was zu einer Subventionierung des Schuldners in diesen Fällen führe, der die Masse zu Lasten des Steuergläubigers mit vereinnahmter Umsatzsteuer anreichern könne. Der Gesetzgeber habe mittlerweile erkannt, dass die Vorschrift deshalb zu massiven Steuerausfällen und Fehlanreizen bei der Verfahrenswahl führe.
14Der Kläger beantragt,
151. das Leistungsgebot vom 29. Januar 2020 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. November 2020 aufzuheben;
2. hilfsweise die Revision zuzulassen.
Das beklagte Hauptzollamt beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Zur Begründung trägt es vor: Im Unterschied zu einem Schuldner in einem Insolvenzeröffnungsverfahren mit einem vorläufigen Insolvenzverwalter, auf den die Verfügungsbefugnis nicht übergegangen sei, stünden einem Schuldner in den Fällen der vorläufigen Eigenverwaltung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse über sein Vermögen aus eigenem Recht zu. Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis, die allein vom Schuldner begründet worden seien und nicht im Zusammenhang mit der Tätigkeit eines vorläufigen Insolvenzverwalters stünden, würden daher von § 55 Abs. 4 InsO nicht erfasst.
21E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
22Die Klage ist nur zu einem geringen Teil begründet. Das Leistungsgebot vom 29. Januar 2020, das gemäß § 365 Abs. 3 Satz 1 AO Gegenstand des Einspruchs- und damit des Klageverfahrens geworden ist, in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. November 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit für den Vorauszahlungsbetrag für den Monat Februar 2016 Säumniszuschläge von mehr als ... € geltend gemacht worden sind. Im Übrigen ist das Leistungsgebot vom 29. Januar 2020 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. November 2020 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
23Rechtsgrundlage für das angefochtene Leistungsgebot ist § 254 Abs. 1 Satz 1 AO. Werden Säumniszuschläge – wie im Streitfall – nicht zusammen mit der Steuer beigetrieben, bedarf es für den Beginn der Vollstreckung abweichend von § 254 Abs. 2 Satz 1 AO eines Leistungsgebots (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Randnr. 83).
24Das angefochtene Leistungsgebot ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Finanzbehörde bei Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit der Erhebung von Säumniszuschlägen durch Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 Satz 1 AO) zu entscheiden hat (vgl. hierzu etwa BFH, Urteil vom 19. März 2019 VII R 27/17, BFHE 263, 483). Das berührt nicht die Rechtmäßigkeit eines Leistungsgebots als Voraussetzung für die Vollstreckung von Säumniszuschlägen (vgl. Oberverwaltungsgericht – OVG – für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. April 2022 14 B 403/22, NVwZ 2022, 1231).
25Das beklagte Hauptzollamt hat die in Rede stehenden Säumniszuschläge dem Grunde nach zu Recht als Masseverbindlichkeiten vom Kläger angefordert.
26Nach § 55 Abs. 4 InsO in der im Streitfall anzuwendende Fassung des Art. 19 des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 (BGBl. I, 2854) gelten Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründet worden sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit. Zu den Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis in diesem Sinne gehören nach den §§ 37 Abs. 1, 3 Abs. 4 Nr. 5 AO auch Säumniszuschläge, die das Schicksal der Hauptforderung teilen (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Randnr. 97). Unter § 55 Abs. 4 InsO fallen als Hauptforderungen auch Verbrauchsteuern (vgl. Senat, Urteil vom 5. August 2020 4 K 2524/19 VE, EFG 2021, 2078). Der Kläger war im Insolvenzeröffnungsverfahren zudem ein vorläufiger Insolvenzverwalter im Sinne des § 55 Abs. 4 InsO. Auf ihn ist auf Grund des Beschlusses des AG Z-Stadt vom 5. Juni 2015 nicht die Verfügungsbefugnis über das Vermögen der Schuldnerin gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO übergegangen, so dass die Bestimmung des § 55 Abs. 2 InsO im Streitfall nicht gilt.
27Die den Säumniszuschlägen zugrunde liegenden Verbindlichkeiten der Schuldnerin aus dem Steuerschuldverhältnis sind im Wesentlichen mit Zustimmung des Klägers als vorläufiger Insolvenzverwalter entstanden. Der Begriff der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters ist weit auszulegen und umfasst jede aktive oder konkludente Billigung. Diese liegt insbesondere bei einem tatsächlichen Einverständnis des vorläufigen Insolvenzverwalters mit der Fortführung des Geschäftsbetriebs des Schuldners durch diesen vor (vgl. Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Auflage, § 55 Randnr. 245; Erdmann in Recht/Fridgen/Geiwitz/Göpfert, BeckOK InsO, 28. Lfg., § 55 Randnr. 72). Der Kläger hat nicht bestritten, mit der Fortführung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin einverstanden gewesen zu sein. Insbesondere hat er nicht die Ausführungen des beklagten Hauptzollamts in seiner Einspruchsentscheidung angegriffen, die Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis seien mit seiner Billigung begründet worden. Auf Grund der Fortführung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin ist es auch zu der Festsetzung der Vorauszahlungsbeträge mit den Bescheiden vom 2. Februar 2015 und 2. Februar 2016 sowie der Stromsteuer für das Kalenderjahr 2015 mit dem Bescheid vom 1. Juni 2016 gekommen.
28Von einer Zustimmung des Klägers als vorläufiger Insolvenzverwalter mit der Fortführung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin kann allerdings nicht mehr ab dem 19. Februar 2016 ausgegangen werden, nachdem die Schuldnerin ihren Geschäftsbetrieb auf die B GmbH übertragen hatte. Das beklagte Hauptzollamt hat zwar zu Recht noch Säumniszuschläge von ... € für den bis zum 25. Februar 2016 für den Monat Januar 2016 zu zahlenden Vorauszahlungsbetrag von ... € angefordert. Hinsichtlich des für den Monat Februar 2016 bis zum 25. März 2016 zu zahlenden Vorauszahlungsbetrags hätte das beklagte Hauptzollamt jedoch nur noch für den Zeitraum vom 1. bis zum 18. Februar 2016 Säumniszuschläge anfordern dürfen. Dies entspricht einem Betrag von ... € (...).
29Soweit das beklagte Hauptzollamt Säumniszuschläge noch für den Zeitraum nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 15. Februar 2016 angefordert hat, ist dies zu Recht geschehen. Die den Säumniszuschlägen zugrunde liegenden Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis in Gestalt der Vorauszahlungsbeträge und der Stromsteuer für das Kalenderjahr 2015 sind mit Zustimmung des Klägers als vorläufiger Insolvenzverwalter begründet worden. Es handelt sich mithin insoweit um Masseverbindlichkeiten im Sinne des § 55 Abs. 4 InsO. Die Säumniszuschläge teilen das Schicksal der Hauptforderungen (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 240 AO Randnr. 97). Unbeschadet dessen handelt es sich bei den nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO entstandenen Säumniszuschlägen nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 2. Fall InsO („in anderer Weise“) durch die Verwaltung der Insolvenzmasse begründete Verbindlichkeiten, weil sie nicht im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO auf Forderungen eines Insolvenzgläubigers (§ 38 InsO), sondern eines Massegläubigers entstanden sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. September 2011 OVG 10 S 48.10, NZI 2011, 954; Pape/Schaltke in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 92. Lfg., § 55 Randnr. 73; Bungart in Kraemer/Vallender/Vogelsang, Handbuch zur Insolvenz, 104. Lfg., Kap. 1 Formelles Insolvenzsteuerrecht Randnr. 211.2; Henckel in Jaeger, InsO, 15. Auflage, § 55 Randnr. 36; Bundessozialgericht, Urteil vom 4. März 1999 B 11/10 AL 5/98 R, BSGE 83, 292 – zur alten Rechtslage –).
30Die vom beklagten Hauptzollamt mit dem Steuerbescheid für das Kalenderjahr 2015 vom 1. Juni 2016 erklärte Aufrechnung gegen Steuerentlastungsansprüche der Schuldnerin lässt die entstandenen Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 5 AO unberührt.
31§ 55 Abs. 4 InsO in der im Streitfall anzuwendenden Fassung des Art. 19 des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 (BGBl. I, 2854) ist nicht verfassungswidrig. Das Vorbringen des Klägers vermag nicht die Überzeugung der Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung zu vermitteln, so dass der Senat nicht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) verpflichtet ist, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einzuholen.
32Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen. Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282 Randnr. 110). Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282 Randnr. 111).
33Anders als der Kläger meint, besteht für die Begrenzung des Anwendungsbereichs des § 55 Abs. 4 InsO auf Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis ein sachlicher Grund. Der Gesetzgeber hat zur Begründung der Einführung des § 55 Abs. 4 InsO ausgeführt, dass sich die Erwartung, durch § 55 Abs. 2 InsO würden Personen, die Geschäfte mit einem vorläufigen Insolvenzverwalter abschließen oder ihm gegenüber Dauerschuldverhältnisse erfüllen, die sie mit dem Schuldner vereinbart hätten, besonders geschützt, nicht erfüllt habe. Denn die Gerichte bestellten regelmäßig vorläufige Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 2. Fall InsO), auf welche die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners nicht gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO übergehe. Das führe dazu, dass die im Eröffnungsverfahren mit Zustimmung des Insolvenzverwalters begründeten Verbindlichkeiten ganz überwiegend Insolvenzforderungen darstellten. Diese Rechtslage wirke sich besonders nachteilig zu Lasten der Steuerverwaltung aus. Durch die Umsatztätigkeit eines „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters entstünden im Insolvenzeröffnungsverfahren weitere Steuerrückstände, ohne dass die Finanzbehörde hierauf Einfluss nehmen könne. Insofern sei der Fiskus gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt, die im Eröffnungsverfahren Vorkehrungen gegen drohende Verluste durchsetzen könnten. Es sei zudem zu beobachten, dass manche „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter ihre Rechtsstellung gezielt ausnutzten, um die Masse durch aktive Gestaltungen zu Lasten des Fiskus weiter anzureichern. Dieser Praxis werde durch § 55 Abs. 4 InsO ein Riegel vorgeschoben (Bundestags-Drucks. 17/3030, S. 42 f.).
34Diese Erwägungen des Gesetzgebers können nicht als sachfremd angesehen werden. Dies gilt auch für die Stromsteuer. Nach § 8 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 7 des Stromsteuergesetzes (StromStG) hat der Steuerschuldner bei jährlicher Anmeldung auf die Steuerschuld monatliche Vorauszahlungen zu leisten, die für den einzelnen Kalendermonat jeweils erst bis zum 25. Kalendertag des folgenden Kalendermonats zu entrichten sind. Der Steuergläubiger gewährt dem Steuerschuldner mithin einen ungesicherten Kredit. Das rechtfertigt die Erwägung des Gesetzgebers, derartige Verbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 4 InsO als bevorrechtigte Masseverbindlichkeiten zu behandeln, wenn sie von einem vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines solchen Insolvenzverwalters begründet wurden. Das Hauptzollamt kann nach § 8 Abs. 10 StromStG zwar im Voraus eine Sicherheit verlangen, wenn Anzeichen für eine Gefährdung der Steuer erkennbar sind. In den Fällen, in denen für die Finanzbehörde Anzeichen für eine Gefährdung der Steuer nicht erkennbar sind, kann es jedoch zu dem vom Gesetzgeber befürchteten Anfallen weiterer Steuerrückstände im Insolvenzeröffnungsverfahren kommen, ohne dass die Finanzbehörde hierauf Einfluss nehmen kann. Jedenfalls ist diese Erwägung des Gesetzgebers nicht sachfremd. Die Finanzverwaltung kann zwar Außenprüfungen beim Steuerpflichtigen anordnen. Für die Durchführung dieser Prüfungen muss indessen Personal zur Verfügung stehen. Ferner müssten derartige Prüfungen zeitnah beim Steuerpflichtigen stattfinden.
35Die Klägerin hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass § 55 Abs. 4 InsO in der im Streitfall anzuwendenden Fassung des Art. 19 des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 (BGBl. I, 2854) nicht in den Fällen der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung (§ 270b InsO) galt. Auch eine analoge Anwendung der Vorschrift in diesen Fällen schied aus (vgl. Bundesgerichtshof – BGH –, Urteil vom 22. November 2018 IX ZR 167/16, BGHZ 220, 243). Diese Ungleichbehandlung der Fälle der Bestellung eines „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters und der Fälle der Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung war gleichfalls nicht willkürlich, sondern sachlich gerechtfertigt.
36Die Begründung von Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis in den Fällen der Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung war mit den in § 55 Abs. 4 InsO geregelten Fällen nicht vergleichbar. Mit dieser Regelung sollte im Interesse des Fiskus erreicht werden, dass im Eröffnungsverfahren begründete Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht nur dann Masseverbindlichkeiten sind, wenn sie auf der Tätigkeit eines „starken“ (§ 22 InsO) oder eines gesondert ermächtigten vorläufigen Insolvenzverwalters beruhen und deshalb § 55 Abs. 2 InsO gilt, sondern auch dann, wenn sie von einem nicht verfügungsbefugten „schwachen“ vorläufigen Verwalter oder vom Schuldner mit dessen Zustimmung begründet werden (Bundestags-Drucks. 17/3030, S. 42 f). Dabei wurde maßgebend auf die Tätigkeit des vorläufigen Insolvenzverwalters und dessen Befugnisse abgestellt. Demgegenüber wurden Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis, die allein vom Schuldner begründet worden sind und nicht im Zusammenhang mit einer Tätigkeit des vorläufigen Insolvenzverwalters stehen, von der Bestimmung des § 55 Abs. 4 InsO nicht erfasst, weil der Schuldner bei der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung regelmäßig autonom handelt und nur der Überwachung durch einen vorläufigen Sachwalter unterliegt (BGH, Urteil vom 22. November 2018 IX ZR 167/16, BGHZ 220, 243).
37Zwar wurde § 55 Abs. 4 InsO durch Art. 5 des Gesetzes vom 22. Dezember 2020 (BGBl. I, 3256) mit Wirkung ab dem 1. Januar 2021 (Art. 25 des Gesetzes) dergestalt geändert, dass nunmehr auch die Fälle erfasst werden, in denen ein vorläufiger Sachwalter bestellt worden ist. Dies geschah, nachdem sich der BFH mit seinem Urteil vom 7. Mai 2020 V R 14/19 (BFHE 268, 512) der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 22. November 2018 IX ZR 167/16, BGHZ 220, 243) angeschlossen hatte. Der Gesetzgeber wollte mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 55 Abs. 4 InsO auf die Fälle der vorläufigen Eigenverwaltung falschen Anreizen und wirtschaftlichen Ungleichbehandlungen entgegenwirken. Dabei wies er darauf hin, dass der eigenverwaltende Schuldner die Masse nach der bisherigen Fassung der Vorschrift bewusst dadurch anreichern könne, dass er die von seinen Kunden erhaltene Umsatzsteuer vereinnahme, aber nicht an den Fiskus abführe. Führe er die Umsatzsteuer dennoch an das Finanzamt ab, könne dies nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Anfechtung unterliegen (Bundestags-Drucks. 19/25353, S. 13).
38Es ging dem Gesetzgeber bei der Neuregelung des § 55 Abs. 4 InsO mithin nicht um eine Korrektur einer nachträglich für verfassungswidrig erachteten Vorschrift. Vielmehr sollte mit der Neuregelung der Anwendungsbereich einer als unvollkommen angesehenen Regelung im Interesse des Fiskus erweitert werden.
39Der auf vorläufige Insolvenzverwalter beschränkte Anwendungsbereich des § 55 Abs. 4 InsO in der im Streitfall anzuwendenden Fassung des Art. 19 des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 (BGBl. I, 2854) unter Ausschluss der vorläufigen Eigenverwaltung stellte auch keine nach Art. 107 Abs. 1 AEUV unzulässige Beihilfe dar (vgl. BFH, Urteil vom 7. Mai 2020 V R 14/19 (BFHE 268, 512).
40Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
41Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.