Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Unter Änderung des Bescheids vom 31.03.2015 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16.06.2015 und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 18.06.2015 wird die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin Kindergeld für das Kind A für die Monate Juli bis September 2014 sowie für das Kind B für die Monate August und September 2014 festzusetzen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Tatbestand:
2Streitig ist, ob die Klägerin für Zeiträume vor Oktober 2014 Anspruch auf Kindergeld hat.
3Die Klägerin stellte am 05.08.2014 einen Antrag auf Kindergeld für ihre am 24.08.2011 geborene Tochter A. Unter „Staatsangehörigkeit“ wurde in dem Kindergeldantrag sowohl für die Kindesmutter als auch für den Kindesvater „Ausland“ eingetragen. Dem Antrag war eine Anmeldebestätigung der Stadt Z beigefügt, wonach sich die Familie im 00.07.2014 mit Wohnsitz in Z-Stadt angemeldet hat.
4Am 12.08.2014 wurde der Sohn B geboren. Für dieses Kind stellte die Klägerin am 24.08.2014 einen weiteren Kindergeldantrag.
5Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde die Klägerin gebeten, eine Kopie ihres Aufenthaltstitels einzureichen. Sie reichte daraufhin eine am 21.10.2014 ausgestellte Bescheinigung nach § 15 des Bundesvertriebenengesetzes -BVFG- bei der Beklagten ein, worin es heißt, dass die Klägerin Abkömmling eines Spätaussiedlers nach § 7 Abs. 2 BVFG sei, sie die Aussiedlungsgebiete am 13.07.2014 verlassen habe und sie seit dem 13.07.2014 ihren ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet habe. Zudem reichte die Klägerin eine am 02.10.2014 ausgestellte „Fiktionsbescheinigung“ ein.
6Mit Bescheid vom 31.03.2015 setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin Kindergeld für die beiden Kinder fest. Es heißt in dem Bescheid wie folgt:
7„1. Ihrem Antrag auf Kindergeld vom 05.08.2014 wird entsprochen.
8Kindergeld wird für das Kind A, geboren am 24.08.2011, für den Zeitraum von Oktober 2014 bis einschließlich August 2029 i.H.v. 184,00 € festgesetzt.
92. Ihrem Antrag auf Kindergeld vom 05.08.2014 wird entsprochen.
10Kindergeld wird für das Kind B, geboren am 12.08.2014, für den Zeitraum von Oktober 2014 bis einschließlich August 2032 i.H.v. 184,00 € festgesetzt.“
11Einen Hinweis darauf, dass hinsichtlich früherer Zeiträume noch eine Entscheidung erfolgen werde, enthält der Bescheid nicht.
12Die Klägerin legte gegen den Bescheid Einspruch ein und beanstandete, dass erst ab Oktober 2014 und nicht schon ab August 2014 Kindergeld festgesetzt worden sei.
13Die Familienkasse wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 16.06.2015 ausweislich des auf der Titelseite enthaltenen Tenors „als unbegründet“ zurück. Auf Seite 2 der Einspruchsentscheidung heißt es, der Einspruch sei „zulässig, sachlich jedoch nicht begründet“. Auf der nächsten, nicht nummerierten Seite der Einspruchsentscheidung heißt es sodann, dass der Einspruch mangels Beschwer als unzulässig zu verwerfen sei. Mit dem angefochtenen Bescheid sei lediglich Kindergeld ab Oktober 2014 festgesetzt worden, nicht aber eine rechtsbehelfsfähige Entscheidung für frühere Zeiträume ergangen.
14Zudem erließ die Familienkasse am 18.06.2015 einen weiteren Bescheid, mit dem die Anträge auf Kindergeld für beide Kinder für den Zeitraum August 2014 bis September 2014 abgelehnt wurden. Als Begründung heißt es lediglich pauschal, dass die Klägerin nicht die Voraussetzungen des § 62 EStG erfülle.
15Mit Schriftsatz vom 03.07.2015 stellte die Klägerin einen isolierten Antrag auf Prozesskostenhilfe. Dem Prozesskostenhilfeantrag wurde mit Beschluss vom 28.08.2015 stattgegeben, soweit er die Kindergeldfestsetzung für A für die Monate Juli bis September 2014 und für B für die Monate August und September 2014 betraf. Die Klägerin - vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte - erhob daraufhin mit Schriftsatz vom 03.09.2015 Klage, mit der sie die Festsetzung von Kindergeld „für den Sohn B für die Monate Juli bis September 2014 sowie die Tochter A für die Monate August und September 2014“ begehrte.
16Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 06.10.2015 nach § 74 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt und mit Beschluss vom 31.10.2022 wieder aufgenommen. Die Beteiligten haben übereinstimmend auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
17Die Klägerin trägt vor, dass sie durch den Bescheid vom 31.03.2015 beschwert sei, weil dieser auch die Versagung von Kindergeld für Zeiträume vor Oktober 2014 enthalte. Sie sei schon seit ihrer Einreise im Juli 2014 kindergeldberechtigt.
18Die Klägerin beantragt wörtlich (Schriftsatz vom 03.09.2015),
19die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 31.03.2015 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16.06.2015 zu verpflichten, der Klägerin Kindergeld für den Sohn B für die Monate Juli bis September 2014 sowie die Tochter A für die Monate August und September 2014 zu bewilligen.
20Die Beklagte beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Sie verweist auf A 2.1.1 Abs. 2 Satz 4 DA-KG 2022 (Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz), wonach Spätaussiedler erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung durch das Bundesverwaltungsamt Anspruch auf Kindergeld hätten. Da die Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG im Streitfall am 21.10.2014 ausgestellt worden sei, erfülle die Klägerin erst ab Oktober 2014 die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG.
23Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die vorgelegte Kindergeldakte Bezug genommen.
24Entscheidungsgründe:
25I. Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).
26II. Das Gericht legt die Klage entgegen dem Wortlaut des Schriftsatzes vom 03.09.2015 dahingehend aus, dass die Klägerin die Festsetzung von Kindergeld für ihre Tochter A ab Juli 2014 (nicht „August“) und für den Sohn B ab August 2014 (nicht „Juli“) begehrt. Denn es steht nach Aktenlage außer Zweifel, dass die Namen der Kinder bei Abfertigung des Schriftsatzes verwechselt worden sind. Bei der Auslegung war zu beachten, dass das Gericht dem früheren isolierten Antrag auf Prozesskostenhilfe teilweise stattgegeben hatte und nichts darauf hinweist, dass die anschließend erhobene Klage einen von der Bewilligung abweichenden Umfang haben sollte. Dafür, dass die Namen der Kinder verwechselt wurden, spricht zudem, dass B erst im August geboren wurde und eine Antragstellung schon ab Juli 2014 für dieses Kind daher keinen Sinn ergibt.
27III. Die so verstandene Klage ist zulässig und begründet.
28Der Bescheid vom 31.03.2015 ist rechtswidrig, soweit damit die Festsetzung von Kindergeld für die Juli bis September 2014 (A) bzw. August bis September 2014 (B) abgelehnt wurde. Denn die Klägerin hat für diese Monate Anspruch auf Kindergeld für ihre beiden Kinder (hierzu unter 3). Infolgedessen ist auch der Ablehnungsbescheid vom 18.06.2015 rechtswidrig, der gem. § 68 FGO Gegenstand des Verfahrens geworden ist (hierzu unter 2).
291) Entgegen der Auffassung der Beklagten enthält der Bescheid vom 31.03.2015 nicht nur die Regelung, dass ab Oktober 2014 Kindergeld festgesetzt wird, sondern zugleich auch die Regelung, dass der Kindergeldantrag für Zeiträume vor Oktober 2014 abgelehnt wird.
30Ein Verwaltungsakt wird gegenüber dem Betroffenen mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird (§ 124 Abs. 1 Satz 2 Abgabenordnung -AO-). Lässt sich der Inhalt dem Bescheid nicht eindeutig entnehmen, ist maßgebend auf seinen durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB analog) zu ermittelnden objektiven Erklärungsinhalt abzustellen. Bei der Auslegung sind der erklärte Wille der Behörde und der sich daraus ergebende objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte, entscheidend. Es können auch außerhalb des Bescheids liegende Umstände zu berücksichtigen sein.
31Der von der Klägerin im August 2014 gestellte Kindergeldantrag bezog sich erkennbar auch auf vor Oktober 2014 liegende Zeiträume. Der Umstand, dass erst ab Oktober 2014 Kindergeld festgesetzt worden ist, konnte von einem objektiven Empfänger daher nur so verstanden werden, wie die Klägerin den Bescheid auch tatsächlich verstanden hat, nämlich dahingehend, dass der Antrag für frühere Zeiträume abgelehnt worden ist. Anhaltspunkte, die dieser Auslegung entgegenstehen, enthält der Bescheid nicht. Sofern die Beklagte mit dem Bescheid von 31.03.2015 keine Ablehnung für Zeiträume vor Oktober 2014 aussprechen wollte, lag es ihn ihrem Verantwortungsbereich, dies in dem Bescheid hinreichend deutlich zum Ausdruck zu bringen, wie z.B. durch den Zusatz, dass über die vor Oktober 2014 liegenden Zeiträume zu einem späteren Zeitpunkt entschieden werde. Etwaige Auslegungszweifel gehen zu ihren Lasten.
322) Dass am 18.06.2015 ein gesonderter Ablehnungsbescheid für die Monate August und September 2014 ist für die Auslegung des Bescheids vom 31.03.2015 ohne Bedeutung. Denn es ist auf die Umstände bei Bekanntgabe des auszulegenden Bescheids abzustellen. Da die Frage, ob ein Anspruch auf Kindergeld für die Monate vor Oktober 2014 bestand, Gegenstand des Einspruchsverfahrens war, ist der Ablehnungsbescheid vom 18.06.2015 allerdings gem. § 68 Satz 1 FGO Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Infolgedessen war auch über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids zu entscheiden. Da die Klägerin Anspruch auf Kindergeld hat (hierzu unter 3), war der Ablehnungsbescheid aufzuheben.
333) Die Klägerin hat ab Juli 2014 (A) bzw. ab August 2014 (B) Anspruch auf Kindergeld. Insbesondere erfüllte sie die Voraussetzungen des § 62 EStG.
34Einen Anspruch auf Kindergeld haben nur Personen, die die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfüllen. Nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer müssen zusätzlich die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG erfüllen. Ausländer ist gem. § 1 Abs. 2 Ausländergesetz - AuslG - jeder, der nicht Deutscher i.S.d. Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ist. Nach Art. 116 Abs. 1 GG ist Deutscher vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des deutschen Reiches nach dem Stande vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat. Die Eigenschaft des Vertriebenen i.S.d. § 116 GG wird durch die Vorschriften des Bundesvertriebenengesetzes bestimmt. Danach zählen zu den Vertriebenen auch Spätaussiedler (§ 4 BVFG) bzw. deren Ehegatten und Abkömmlinge (§ 7 Abs. 2 BVFG). Gem. § 15 BVFG stellt das Bundesverwaltungsamt zum Nachweis der Spätaussiedlereigenschaft Bescheinigungen aus, und zwar dem Spätaussiedler selbst gem. § 15 Abs. 1 BVFG und dessen Ehegatten/Abkömmlingen gem. § 15 Abs. 2 BVFG.
35Erst mit der Ausstellung dieser Bescheinigung erwerben der Spätaussiedler und die in den Aufnahmebescheid einbezogenen Familienangehörigen die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 7 Staatsangehörigkeitsgesetz -StAG-). Dies bedeutet jedoch keinesfalls - anders als dies der Senat noch im Prozesskostenhilfebeschluss beurteilt hat -, dass ein Kindergeldanspruch vor dem Ausstellen der Bescheinigung nur unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG gegeben ist. Denn § 7 StAG regelt lediglich den Beginn der deutschen Staatsangehörigkeit i.S.d. Art. 116 Abs. 1 Alt. 1 GG, ändert aber nichts daran, dass die betreffende Person vorher bereits Statusdeutscher i.S.d. Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 GG war, und zwar losgelöst davon, wann die Bescheinigung nach § 15 BVFG ausgestellt wird. Denn die Bescheinigung nach § 15 BVFG hat – wie das Bundesverfassungsgericht bereits mit Beschluss vom 12.02.1964 1 BvR 253/63, BVerfGE 17, 224 klargestellt hat – nur deklaratorische Bedeutung, d.h. sie lässt die Eigenschaft als Vertriebener (Statusdeutscher) nicht entstehen, sondern stellt deren Bestehen lediglich fest.
36Spätaussiedler, denen diese Eigenschaft gemäß § 15 BVFG durch das Bundesverwaltungsamt bescheinigt wird, erfüllen deshalb nicht erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 BVFG die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG, sondern vielmehr sind sie - die Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts vorausgesetzt - als Statusdeutsche i.S.d. Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 GG schon ab dem Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG kindergeldberechtigt (so auch Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 11.01.2022 – 10 K 148/21, juris; FG Münster, Urteil vom 07.02.2019 – 8 K 2476/17 Kg, juris).
37Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG seit Juli 2014 vor. Die Klägerin ist – wie sich aus der Bescheinigung nach § 15 BVFG ergibt - Abkömmling eines Spätaussiedlers nach § 7 Abs. 2 BVFG und damit Statusdeutsche i.S.d. Art. 116 Abs. 1 Alt. 2 GG und sie hat - wie sich aus der Meldebescheinigung der Stadt Z ergibt - im Juli 2014 einen Wohnsitz im Inland begründet.
38Darüber, dass übrigen Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch erfüllt sind, besteht kein Streit. Insbesondere erfüllen die ebenfalls in Deutschland wohnhaften minderjährigen Kinder A und B die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 EStG.
39IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.