Seite drucken Entscheidung als PDF runterladen
Der Ablehnungsbescheid vom 01.07.2021 sowie die Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob die Beklagte für eine Entscheidung über den Kindergeldanspruch des Klägers für seinen Bruder Z (geboren am ...) zuständig ist.
3Z leidet mit einem Grad der Behinderung von 100 unter Trisomie 21. Er lebt im Wohnheim ... in A-Stadt und arbeitet entsprechend seinen Möglichkeiten ...in B-Stadt – Kreis C-Stadt in A-Stadt.
4Bis zu ihrem Versterben am 01.05.2021 bezog die Mutter (M) von Z und dem Kläger, für Z laufend Kindergeld (letzte Festsetzung mit Bescheid vom 04.05.2015). Frau M erhielt nach dem Versterben ihres Ehemanns und Vaters von Z und dem Kläger eine Pension, die sich aufgrund der aktiven Dienstzeit des Ehemanns bei der Stadt B ergab. Ihre Kindergeldangelegenheit wurde seit Januar 2020 von der Beklagten bearbeitet. Diese hielt bei der Erst-Speicherung der Kindergeldsache den Vermerk „Maschinelle Übernahme des Kindergeldfalls von der Familienkasse ...-Stadt B“ fest und speicherte das Schutzkennzeichen „T - Behindertes Kind“.
5Am 09.06.2021 beantragte der Kläger, der als Manager in der freien Wirtschaft tätig ist, gegenüber der Bundesagentur für Arbeit – Familienkasse B (nachfolgend Familienkasse B) in eigenem Namen für Z ab Juni 2021 Kindergeld. Da die Familienkasse B die Beklagte (Familienkasse A) für die Bearbeitung des Kindergeldantrags zuständig hielt, wurde dieser an die Beklagte weitergleitet und von ihr mit Bescheid vom 01.07.2021 abgelehnt. Sie verwies darauf, dass der Kläger seinen Bruder niemals in seinen Haushalt aufgenommen habe.
6Dagegen legte der Kläger bei der Beklagten Einspruch ein und monierte, dass die Beklagte ausschließlich auf eine Haushaltszugehörigkeit abgestellt habe. Sie habe, ohne weitere Auskünfte und Nachweise von ihm eingeholt zu haben, eine Prüfung eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch das Vorliegen einer Verbundenheit aufgrund eines familienähnlichen und auf Dauer berechneten Bandes unterlassen.
7Mit Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, eine räumliche Trennung stehe einer Haushaltsaufnahme zwar nicht entgegen. Die auswärtige Unterbringung dürfe jedoch nur von vorübergehender Natur sein. Davon könne im Allgemeinen ausgegangen werden, wenn das Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten regelmäßig in den Haushalt der Pflegeperson zurückkehre. Z sei jedoch nicht im Haushalt des Klägers. Er lebe durchgehend in einem Wohnheim. Das Wort durchgehend sei an dieser Stelle maßgeblich.
8Dagegen hat der Kläger am 06.12.2021 Klage erhoben. Zur Begründung weist er auf die von ihm – auch schon vor dem Versterben der Mutter – übernommene tatsächliche Betreuung seines Bruders, insbesondere an den Wochenenden, hin. Zudem sei er bereits seit dem Jahr 1995 der gesetzliche Betreuer von Z. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Klagebegründung Bezug genommen.
9Aus welchem Grund die Familienkasse B davon ausgegangen sei, für seinen Kindergeldantrag unzuständig zu sein und diesen an die Beklagte übermittelt habe, entziehe sich seiner Kenntnis.
10Der Kläger beantragt,
11den Ablehnungsbescheid vom 01.07.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen zur Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG nicht vorlägen bzw. nicht hinreichend dargetan und belegt worden seien. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Klageerwiderung Bezug genommen.
15Hinsichtlich ihrer Zuständigkeit trägt sie vor, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA) mit Beschluss Nr. 23/2018 vom 20.09.2018 (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit – ANBA –, Monatsheft Oktober 2018, veröffentlicht im Internet unter www.Statistik.Arbeitsagentur.de >Statistiken >Statistiken aktuell >Monatsbericht) gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Familienkassen ab dem 01.06.2019 neu geregelt habe. Für Personen mit besonderem Schutzbedürfnis sei sie seitdem zuständig. Das gelte grundsätzlich für alle Fälle, die mit einem Schutzkennzeichen versehen seien. So fielen hierunter auch Fälle, in denen das von einer Klärung betroffene Kind kein Kind mit Behinderung sei (der gesamte Fall mit Geschwisterkindern sei vom Schutz umfasst), sowie Mitarbeiter*innen-Fälle, die ebenfalls ein besonderes Schutzkennzeichen hätten. Hintergrund sei, dass solche Fälle eines personell eingeschränkten Bearbeitungsumfangs bedürften. Außerdem führten die Schutzkennzeichen dazu, eine unberechtigte telefonische Auskunft durch die Servicecenter zu verhindern. Mit der Konzentration der betroffenen Fälle bei ihr und der Zusammenfassung von Auskunftserteilung und Sachbearbeitung könne eine besondere Sensibilisierung der Bearbeiter erfolgen. Durch die Verringerung der Anzahl zugriffsberechtigter Bearbeiter werde dem Schutzbedürfnis der betroffenen Kindergeldberechtigen bzw. der Kinder Rechnung getragen.
16Zudem seien nach einer Weisung vom 20.03.2021 Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderungen und Bezug zum öffentlichen Dienst aufgrund der in der Akte enthaltenen Gesundheitsdaten nach Art. 9 der Datenschutz-Grundverordnung besonders schützenswert.
17Darüber hinaus werde durch die Zentralisierung bei ihr dem Erfordernis eines zentralen Ansprechpartners gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 5 FVG vollständig entsprochen. Zweck der Konzentrierung sei die Gewährleistung einer serviceorientierten Ansprechpartnerfunktion für die kindergeldberechtigten Personen. Dabei sei der Bezug zum öffentlichen Dienst lediglich exemplarisch aufgeführt und keinesfalls abschließend. Dies ergebe sich bereits aus der Formulierung, die stets offen und keinesfalls abschließend auf Fälle mit Bezug zum öffentlichen Dienst Bezug nehme.
18Im Übrigen obliege ihr die Steuerung und Führung der regionalen Familienkassen. Dies beinhalte vor allem die fachliche Sicherstellung einer einheitlichen und richtigen Rechtsanwendung. Somit obliege ihr die Gesamtverantwortung für die zugewiesene Aufgabe des Familienleistungsausgleiches in Form des Kindergeldes. Bereits aus dieser Gesamtverantwortung lasse sich ableiten, dass sie zumindest auch fachlich zuständig sei und anstelle der regionalen Familienkasse entscheiden könne. Insoweit handele es sich bei der Zuordnung zu ihr nicht um eine Zuordnung zu einer anderen (regionalen) Familienkasse, der die Zuständigkeit aufgrund eines Vorstandsbeschlusses zuzuweisen wäre.
19Des Weiteren weist die Beklagte auf den Vorstandsbeschluss der BA Nr. 12/2022 vom 27.01.2022 (ANBA, Monatsheft Mai 2020) hin. In diesem Beschluss werde der Zentrale Kindergeldservice (ZKGS) zum 01.02.2022 formal gegründet und die Beklagte zu einer 15. Familienkasse bestimmt. Die derzeit als ZKGS bestehende operative Organisationseinheit der Familienkasse Direktion gehe künftig hierin auf. Der ZKGS sei unabhängig vom Wohnortprinzip für diejenigen Kindergeldfälle zuständig, deren Daten besonderen Schutzbedarfen unterlägen. Die vorliegende Kindergeldsache falle nach Ziff. 2.1.5 der Anlage 1 zum Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 in ihren sachlichen Zuständigkeitsbereich. Das Beschäftigungsverhältnis des Klägers sei dabei nicht relevant.
20Die Beklagte ist zudem der Ansicht, dass durch den Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 jedenfalls eine Heilung eingetreten sei, weshalb ohne weitere zeitliche Verzögerung eine Entscheidung in der Sache über den Kindergeldanspruch des Klägers getroffen werden könne. Darüber hinaus vertritt sie die Auffassung, dass der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung schlicht mit neuem Datum erlassen werden müssten, wenn es bei der Aufhebung durch das Gericht bliebe.
21Das Gericht hat die Kindergeldakte zum Verfahren beigezogen. Auf den übersandten Verwaltungsvorgang und auf die Schriftsätze der Beteiligten wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.
22Entscheidungsgründe
23Die Klage ist begründet.
24I. Der ablehnende Bescheid vom 01.07.2021 und die Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 waren aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Denn der ablehnende Bescheid und die Einspruchsentscheidung wurden von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen und sind deshalb verfahrensfehlerhaft und rechtswidrig (vgl. dazu auch § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Abgabenordnung – AO –).
25Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG wird das Kindergeld von den Familienkassen durch Bescheid festgesetzt (und ausgezahlt). Die sich daraus ergebende Zuständigkeit umfasst zugleich die Befugnis, die Kindergeldfestsetzung abzulehnen, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.
261. Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich gemäß § 16 AO, soweit nichts anderes bestimmt ist, nach den einschlägigen Regelungen des FVG. Insoweit sieht § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG in der im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 01.07.2021 geltenden Fassung vor, dass dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG obliegt. Die BA stellt dem BZSt zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG). Entsprechend bestimmt § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO, dass auch die Familienkassen Finanzbehörden im Sinne der AO sind.
27Der Vorstand der BA kann darüber hinaus innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG).
28Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG in der beim Erlass des Ablehnungsbescheides vom 01.07.2021 gültigen Fassung benennt die BA für die besonderen Belange der Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst-, Amts- oder Ausbildungsverhältnis zum Bund stehen oder Versorgungsbezüge nach bundesbeamten- oder soldatenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen erhalten oder Arbeitnehmer des Bundes oder einer sonstigen Körperschaft, einer Anstalt oder einer Stiftung des öffentlichen Rechts im Bereich des Bundes sind, als Familienkasse zentrale Ansprechpartner.
292. Die sachliche Zuständigkeit beschreibt gegenständlich den Tätigkeitsbereich einer Behörde, also die Zuordnung einer bestimmten Aufgabe des materiellen Sachrechts an eine Verwaltungseinheit. Sie bestimmt Gegenstand, Inhalt und Umfang der zugewiesenen Aufgaben; dabei kann es sich um die Zuordnung einer bestimmten Aufgabe oder eines beschränkten oder umfassenden Aufgabenbereichs an eine Behördenart oder an eine einzelne Behörde handeln. Aus der sachlichen Zuständigkeit folgen das Recht und die Pflicht einer Behörde, innerhalb des ihr zugewiesenen Aufgabenbereichs tätig zu werden. Eine Behörde ist nur für den ihr zugewiesenen Aufgabenkreis zuständig und darf nur im Rahmen ihrer sachlichen Zuständigkeit tätig werden (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 25.02.2021 – III R 36/19, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2021, 712 m.w.N.).
30Die sachliche Zuständigkeit muss wegen des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes – GG –) und als wesentliche Regelung des Verwaltungsverfahrens in einem grundrechtlich geschützten Bereich – wie er im Fall des Familienleistungsausgleichs vorliegt – durch Gesetz i.S. des § 4 AO geregelt werden (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712 m.w.N.).
31Demgegenüber ergibt sich aus den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche von mehreren sachlich zuständigen Behörden der gleichen hierarchischen Stufe eines Verwaltungsträgers die Verwaltungstätigkeit durchzuführen hat. Die örtliche Zuständigkeit ist die Kompetenz, in einem räumlich begrenzten Wirkungsbereich (Bezirk) tätig werden zu dürfen und zu müssen, wobei sich die konkret örtlich zuständige Finanzbehörde erst anhand der Regelungen über den Sitz und den Bezirk der jeweiligen Finanzbehörde feststellen lässt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712 m.w.N.).
323. Es ist bereits zweifelhaft, ob es sich bei der Beklagten in organisationsrechtlicher Hinsicht um eine Familienkasse handelt.
33Zwar sieht § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG vor, dass die BA dem BZSt zur Durchführung der diesem obliegenden Aufgaben des Familienleistungsausgleichs ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung stellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit zugleich eine Familienkasse darstellt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712).
34Vielmehr hat die BA mit Beschluss des Vorstands vom 18.04.2013 (21/2013, ANBA, Monatsheft Mai 2013) im Rahmen der Neuorganisation der Familienkassen 14 Familienkassen am Sitz bestimmter Agenturen für Arbeit bestimmt. In diesem Beschluss wurde der Beklagten dagegen keine Funktion als Familienkasse zugewiesen. Sie wurde dort nicht einmal benannt. Nach der Neuorganisation wurde sie als besondere Dienststelle i.S. des § 367 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch (SGB III) fortgeführt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712).
35Auch in dem Vorstandsbeschluss vom 20.09.2018, in dem die Beklagte erstmals als zuständige Behörde überhaupt aufgeführt wurde, oder in dem diesen teilweise ändernden Vorstandsbeschluss vom 24.10.2019 (33/2019, ANBA, Monatsheft April 2020), der wiederum inzwischen durch den Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 weitestgehend aufgehoben wurde, wird der Beklagten nicht die Funktion einer Familienkasse zugewiesen, sondern diese lediglich gleichsam vorausgesetzt.
36Darüber hinaus vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass mit den vorgenannten Beschlüssen vom 20.09.2018 oder vom 24.10.2019 eine Benennung der Beklagten als Familienkasse i.S. des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG einhergegangen ist. Denn die Beklagte wird schlicht als zuständige Behörde aufgeführt. Ein Verweis auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG oder auf eine Stellung als Ansprechpartner nennen die Vorstandsbeschlüsse nicht.
37Daran ändert auch der Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 nichts. Durch diesen mag eine 15. Familienkasse geründet worden sein. Dies ist aber nicht die Beklagte; denn nach Ziff. 1 des Anhangs zum Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 wurde zum 01.02.2022 der „Zentrale Kindergeldservice (ZKGS) mit Hauptstandort in D-Stadt (Agentur für Arbeit E-Stadt)“ gegründet. Eine Verknüpfung mit der Beklagten findet nicht statt. Dass bei der Beklagten (auch) eine Abteilung, Referat, Dezernat o.ä. mit dem Namen „Zentraler Kindergeldservice“ eingerichtet ist, macht weder die Beklagte als gesamte Behörde noch die bei ihr eingerichtete Abteilung „Zentraler Kindergeldservice“ durch den Beschluss vom 27.01.2022 zu einer Familienkasse.
384. Ungeachtet einer zweifelhaften Eigenschaft als Familienkasse mangelt es aber jedenfalls an einer Regelung, die der Beklagten die sachliche Zuständigkeit für die streitgegenständliche Kindergeldsache zuweist.
39Nach der Neuorganisationsentscheidung der BA bestanden im Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 14 Familienkassen. Diese waren deshalb sachlich zuständig (vgl. BFH-Urteil vom 19.01.2017 – III R 31/15, BStBl II 2017, 642). Die Beklagte stellt keine dieser 14 Behörden dar.
40Eine sachliche Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich auch nicht infolge der Ermächtigung zur Benennung zentraler Ansprechpartner nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG. Es kann dahinstehen, ob durch Ziff. 2.1.3 des Beschlusses vom 24.10.2019 die Beklagte i.S. des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG (wirksam) als zentraler Ansprechpartner benannt wurde und ob dies bejahendenfalls zur Begründung einer sachlichen Zuständigkeit führte. Denn die Regelung der Ziff. 2.1.3 des Beschlusses vom 24.10.2019 findet auf den streitigen Kindergeldanspruch jedenfalls deshalb keine Anwendung, weil der Kläger als potenzieller Kindergeldberechtigter bereits nicht im öffentlichen Dienst, sondern als Manager in der freien Wirtschaft beschäftigt ist. Der Bezug zum öffentlichen Dienst ergab sich seinerzeit, weil der Vater des Klägers bei der B-Stadt beschäftigt war und aufgrund dieser Tätigkeit die Mutter nach dem Versterben ihres Ehemanns bis zu ihrem Tod Altersbezüge erhielt (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 1 EStG). Mit dem Versterben der Mutter entfiel ihre Kindergeldberechtigung und konnte als Anknüpfung für eine etwaige sachliche Zuständigkeit der Beklagten nicht (länger) dienen.
41Auch ergibt sich durch den Beschluss vom 27.01.2022 keine sachliche Zuständigkeit der Beklagten. Die Kindergeldsache des Klägers mag möglichweise unter Ziff. 2.1.5 des Anhangs 1 zum Beschluss vom 27.01.2022 zu subsumieren sein. Als zuständige Familienkasse ist dort aber nicht die Beklagte aufgeführt, sondern der Zentrale Kindergeldservice in E-Stadt. Selbst wenn eine Identität der Beklagten mit dem Zentralen Kindergeldservice in E-Stadt oder eine Rechtsnachfolge anzunehmen wäre, wäre die Zuständigkeit frühestens zum 01.02.2022 begründet worden (vgl. Ziff. 1 des Anhangs 1 zum Beschluss vom 27.01.2022), also nach Erlass des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 und der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021.
42Es kann darüber hinaus dahinstehen, ob § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG der BA abschließend die Ermächtigung einräumt, für diejenigen Kindergeldangelegenheiten, in denen besondere Belange von Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst-, Amts- oder Ausbildungsverhältnis zum Bund stehen oder Versorgungsbezüge nach bundesbeamten- oder soldatenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen erhalten oder Arbeitnehmer des Bundes oder einer sonstigen Körperschaft, einer Anstalt oder einer Stiftung des öffentlichen Rechts im Bereich des Bundes sind, als Familienkasse einen zentralen Ansprechpartner zu benennen oder ob § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG – wie die Beklagte vertritt – auch eine Ermächtigung zur Benennung eines zentralen Ansprechpartners für weitere Kindergeldfälle, wie dem vorliegenden, in dem der Kindergeldanspruch für ein Kind mit Behinderung streitig ist, enthält. Denn die BA hat für den Fall eines Kindergeldanspruchs für ein Kind mit Behinderung von einer etwaigen Ermächtigung durch § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 5 FVG jedenfalls im Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 sowie der Einspruchsentscheidung keinen Gebrauch gemacht. Weder mit Vorstandsbeschluss vom 20.09.2018 noch dem diesen teilweise ändernden Beschluss vom 24.10.2019 wird der Beklagten die Zuständigkeit für Fälle, die Kindergeldansprüche für ein Kind mit Behinderung betreffen, zugewiesen.
43Im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids und der Einspruchsentscheidung sind keine anderen förmlichen Regelungen ersichtlich und wurden von der Beklagten auch nicht angeführt, durch die die BA von der Ermächtigung zur Benennung eines zentralen Ansprechpartners für Fälle, die Kindergeldansprüche für ein Kind mit Behinderung betreffen, Gebrauch gemacht haben könnte. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass interne Weisungen der BA (z.B. die interne Weisung vom 20.03.2021 „202103022 – Änderung der Zuständigkeit für Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderung und Bezug zum öffentlichen Dienst“, die im Klageverfahren von der Beklagten nicht vorgelegt wurde, dem Gericht aber aus anderen Kindergeldverfahren bekannt ist) zur wirksamen Benennung eines zentralen Ansprechpartners ausreichend wären, so können solche Weisungen jedenfalls nur zu einer internen Organisation und Aufgabenverteilung führen. Für die Ausübung hoheitlicher Befugnisse – wie vorliegend der Kindergeldfestsetzung bzw. deren Ablehnung – bedarf es im Bereich der Eingriffsverwaltung einer förmlichen, also insbesondere nach außen bekannt gemachten Zuständigkeitsregelung (so auch Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 28.09.2021 – 9 K 273/21 Kg, juris).
44Andere Umstände, die eine sachliche Zuständigkeit der Beklagten begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere der Verzicht der B-Stadt gemäß § 72 Abs. 1 Satz 3 EStG zum 01.01.2020 (vgl. Bekanntmachung des BZSt vom 13.10.2020 St II 2 - S 2479-PB/19/00002) begründet keine Zuständigkeit der Beklagten. Die Zuständigkeit für die Festsetzung und Auszahlung des Kindergeldes geht durch den Verzicht auf die Familienkassen der BA über, zu denen die Beklagte wie dargestellt nicht zählt.
45Eine sachliche Zuständigkeit kann auch nicht – wie die Beklagte meint – aus einer fachlichen Gesamtverantwortung infolge der Steuerung und Führung der regionalen Familienkassen abgeleitet werden. Eine derartige Rechts- oder Fachaufsicht führt nicht per se zu einem sog. Selbsteintrittsrecht, also dem Recht, die Befugnisse der nachgeordneten Behörden selbst auszuüben. Unter Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) muss das eine außerordentliche sachliche Zuständigkeit begründende Selbsteintrittsrecht gesetzlich geregelt sein. Einer solchen Regelung entbehrt es jedoch vorliegend.
46Der Beklagten mag zuzustimmen sein, dass für Kindergeldfälle mit besonderem Schutzbedürfnis das Bedürfnis nach einer zentralen Bearbeitung (bei ihr) besteht. Dieses Bedürfnis vermag aber eine fehlende Regelung der sachlichen Zuständigkeit nicht überwinden.
475. Da somit für Kindergeldangelegenheiten im Allgemeinen mehrere sachlich zuständige Behörden gleicher hierarchischer Stufe vorhanden waren, bestimmen die Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche die für den Kläger im Speziellen zuständige Familienkasse ist. Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Familienkasse, in deren Bezirk der Kindergeldberechtigte seinen Wohnsitz hat (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO; BFH-Urteil vom 25.09.2014 – III R 25/13, BStBl II 2015, 847). Im Streitfall ist dies wegen des klägerischen Wohnsitzes in A-Stadt, also im Bezirk der Agentur für Arbeit F-Stadt, die Familienkasse B (vgl. Vorstandsbeschluss vom 18.04.2013, 21/2013, ANBA, Monatsheft Mai 2013).
48Nichts anderes ergibt sich aus dem auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gestützten und im Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 01.07.2021 und der Einspruchsentscheidung maßgeblichen Beschluss des Vorstands der BA vom 24.10.2019. In Ziff. 2.1.3 des Beschlusses vom 24.10.2019 ist die Beklagte zwar – wie bereits dargestellt – als zuständige Behörde aufgezählt, die dort genannten Voraussetzungen liegen aber wegen der Beschäftigung des Klägers in der freien Wirtschaft bereits nicht vor.
496. Der Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit führt nicht zur Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsakte nach § 125 Abs. 1 AO. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b AO können Verwaltungsakte aufgehoben oder geändert werden, wenn sie von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden sind. Da die Aufhebbarkeit einen wirksamen Verwaltungsakt voraussetzt, folgt aus den Vorschriften, dass sachlich unzuständiges Handeln grundsätzlich nicht zur Nichtigkeit führt (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712). Auch sind im Streitfall keine Umstände ersichtlich, die für einen besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler sprechen.
507. Auch ist durch den Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 (12/2022, ANBA, Monatsheft Mai 2020) keine (nachträgliche) Heilung eingetreten. Selbst wenn – wie bereits erwähnt – die Kindergeldsache des Klägers unter Ziff. 2.1.5 des Anhangs 1 zum Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 zu subsumieren wäre und unter der Annahme der Identität der Beklagten mit dem Zentrale Kindergeldservice in E-Stadt oder zumindest einer Rechtsnachfolge, konnte keine Heilung eintreten.
51Eine Heilung von Fehlern sieht das Gesetz in § 126 AO vor. Die Norm enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z.T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.
52Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Fälle sind damit von einer Heilungswirkung ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 126 AO Rn. 16; von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, § 126 AO Rn. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 126 AO Rn. 3).
53Vorliegend ist zum einen zu beachten, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit in § 126 AO nicht aufgeführt ist. Zum anderen ist die für eine Heilung in Betracht kommende Handlung – hier ein konstituierender Vorstandsbeschluss – in § 126 AO nicht aufgeführt. Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO sieht vielmehr Handlungen einer Behörde (oder eines Ausschusses) oder des Steuerpflichtigen vor, die zu einer Heilung führen können. Konstituierende Handlungen z.B. eines Normgebers sind nicht benannt.
54Für eine Extension im Wege der Analogie ist darüber hinaus grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
558. Der Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte steht auch § 127 AO nicht entgegen. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Vorschrift erwähnt nur die Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit, nicht dagegen den Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit. Die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit fallen auch nicht unter die in § 127 AO genannten Verfahrensvorschriften (BFH-Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BStBl II 2021, 712 m.w.N.).
56II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 21.03.2022 klarstellend zum Ausdruck gebracht, dass es ihm entgegen der möglichweise anders auszulegenden Formulierung in der Klageschrift entscheidend allein um die Aufhebung des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung ging, womit er obsiegt hat.
57Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
58III. Die Revision war nicht zuzulassen. Die Frage, ob die Beklagte in gesetzmäßiger Weise zur Familienkasse bestimmt und ihre Zuständigkeit klar und eindeutig geregelt wurde und – falls dies zu bejahen sein sollte – die streitgegenständliche Entscheidung rechtfertigt, ist zwar höchstrichterlich nicht geklärt. Aufgrund des Vorstandsbeschluss vom 27.01.2022 ist jedoch davon auszugehen, dass derartige Fälle künftig vom Zentrale Kindergeldservice in E-Stadt bearbeitet werden, mit der Folge, dass die dargestellte Fragestellung keine Breitenwirkung entfaltet.