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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 8.07.2020
in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2020 verpflichtet,
der Klägerin einen rückständigen Kindergeld-Rückforderungsbetrag in Höhe von 12.834 € sowie die Hälfte der bis zum 26.08.2019 berechneten Säumniszuschläge, also 1.200 €, aus Billigkeitsgründen zu erlassen.
Hinsichtlich der verbleibenden Hälfte der bis zum 26.08.2019 berechneten Säumniszuschläge wird die Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Die weitergehende Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin, eine kosovarische Staatsangehörige, lebt mit ihrem Ehemann und drei Kindern (geboren 1991, 1992 und 1995) seit 1998 in Deutschland. Sie verfügt über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (verlängert im Juli 2014; gültig bis April 2022). Die Familie bezog in 2012 zeitweise Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und zeitweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die damals zuständige Familienkasse A-Stadt (im folgenden: A) hatte zunächst zu Gunsten der Klägerin für die 3 Kinder Kindergeld festgesetzt, im Hinblick darauf, dass die Klägerin eine Erwerbstätigkeit (auf 400 € - Basis) ausübte und damit die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erfüllte. Der Kindergeldantrag war damals insbesondere auf Initiative der B-Stadt (im folgenden: B) gestellt worden, die bei der Familienkasse einen Erstattungsanspruch geltend gemacht hatte [vgl. Bl. 198, 229, 266, 273, 291 der Kg-Akte in der jetzigen Nummerierung].
3Anlässlich einer Überprüfung des Kindergeldanspruchs bat die Familienkasse A wiederholt um den Nachweis der Beschäftigung. Schließlich teilte die Klägerin ohne weitere Erläuterung mit (Schreiben vom 12.11.2012): „Es wird keine Erwerbstätigkeit ausgeübt und es liegt auch keine Selbständigkeit vor (nur Hausfrau)“. Daraufhin hob die Familienkasse A die Kindergeldfestsetzung für die 3 Kinder rückwirkend ab Januar 2010 auf und forderte seitdem bis Juli 2012 gezahltes Kindergeld von der Klägerin zurück (Bescheid vom 29.11.2012).
4Im Einspruchsverfahren erfuhr die Familienkasse A schließlich durch Rückfrage bei der Arbeitgeberin, dass die Klägerin dort bis Juli 2010 beschäftigt gewesen war. Seitdem waren (nach eigenem Bekunden) weder die Klägerin noch ihr Ehemann erwerbstätig. Die Klägerin äußerte, ihr sei der Zusammenhang zwischen Kindergeldbezug und eigener Erwerbstätigkeit nicht bekannt gewesen, was die Familienkasse als glaubhaft [vgl. früher Bl. 58, nunmehr Bl. 75 der Kg-Akte – die elektronische Kg-Akte ist zum jetzigen Verfahren ungeordnet übermittelt worden], aber hinsichtlich der Rückforderung als unerheblich erachtete. Die Familienkasse A änderte den Rückforderungsbescheid insoweit ab, als sich die Aufhebung auf die Monate ab August 2010 beschränkte und die Rückforderung auf gewährtes Kindergeld für August 2010 bis Juli 2012 in Höhe von 13.392 € (Änderungsbescheid vom 29.01.2013). Den aufrechterhaltenen Einspruch wies die Beklagte (im folgenden: Familienkasse) als Rechtsnachfolgerin der Familienkasse A zurück (bestandskräftige Einspruchsentscheidung vom 15.09.2016).
5Bereits im Februar 2013 hatte die Klägerin einen ersten Stundungsantrag gestellt, worauf ihr die Familienkasse Inkasso-Service schließlich mit Bescheid vom 11.04.2014 ratenfreie Stundung bis 30.04.2015 gewährte. Auf anschließende weitere Stundungsanträge (vom 20.05.2015, vom 10.08.2015, anwaltlich vom 10.09.2015, anwaltlich vom 16.03.2016) reagierte die Familienkasse Inkasso-Service nicht. Auf ein Protestschreiben der Tochter der Klägerin vom 15.08.2016 antwortete die Familienkasse sinngemäß [Bl. 290 der Kg-Akte], alle Vorgänge seien bestandskräftig abgeschlossen, für die Behörde sei nichts zu veranlassen.
6Ende Januar 2017 beantragte die Klägerin den Erlass der Rückforderung aus Billigkeitsgründen; sie trug vor, sie habe nicht nachvollziehen können, dass und warum ihr Kindergeld nicht zugestanden habe; außerdem könne sie die Rückforderung beim besten Willen nicht entrichten. Es werde auch um Prüfung gebeten, ob ggf. ein Erlass oder Teilerlass der Säumniszuschläge in Betracht komme. Mit Bescheid vom 13.04.2017 lehnte die Familienkasse Inkasso-Service einen Billigkeitserlass der Rückforderung nebst Nebenleistungen ab, indem der Inkasso-Service eine Ratenzahlungsvereinbarung (vom 21.04.2017) bewilligte, nämlich bis 1.05.2019 auf die Rückforderung monatliche Raten in Höhe von 10 € zu entrichten. Somit sei wegen dieser Bewilligung die weitere Einziehung der Forderung nicht unbillig.
7Nach Auslaufen dieser Vereinbarung beantragte die Klägerin im Juli 2019 die Verlängerung der Ratenzahlung und bot an, künftig monatliche Raten in Höhe von 50 € zu zahlen. Sie habe inzwischen eine (Teilzeit-) Beschäftigung gefunden (monatlicher Nettoverdienst: 529 €). Allerdings würden die Raten alleine durch hinzukommende Säumniszuschläge aufgezehrt. Deshalb werde zusätzlich ein Erlass beantragt.
8Die Familienkasse Inkasso-Service lehnte den Stundungsantrag ab (Bescheid vom 19.08.2019). Zur Begründung wurde angegeben, für eine Stundung aus persönlichen Gründen fehle es an der Stundungswürdigkeit der Klägerin. Denn die bestehende Forderung sei dadurch entstanden, dass die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht verletzt und damit die Rückforderung verschuldet habe. Auf die Stundungsbedürftigkeit der Klägerin brauche daher nicht weiter eingegangen zu werden.
9Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch und nach ablehnender Einspruchsentscheidung (der Familienkasse vom 7.10.2019) Klage zum Finanzgericht (Aktenzeichen 9 K 2980/19 AO). Der Senat hat im PKH-Beschluss vom 6.03.2020 deutlich gemacht, dass die Erwägungen der Familienkasse in mehreren Punkten rechtswidrig und ermessensfehlerhaft gewesen seien; insbesondere wird ausgeführt:
10„ 2. Im Streitfall hat die Familienkasse im Verfahren bei ihrer Ermessensentscheidung den verwirklichten Sachverhalt nicht zutreffend zur Kenntnis genommen und damit nicht hinreichend gewürdigt.
11Die Familienkasse hat bei ihrer Stundungsablehnung maßgeblich darauf abgestellt, dass die Klägerin infolge einer schuldhaften Mitwirkungspflichtverletzung die Rückforderung selbst verschuldet habe. Diese Einschätzung ist nicht vertretbar und wird durch den Akteninhalt widerlegt:
12Der Antrag auf Kindergeld wurde von der Stadt B erstmals im Herbst 2008 im berechtigten Interesse gestellt, im Hinblick auf einen Erstattungsanspruch [Bl. 150, 152 Kg-Akte]. Die Klägerin wurde dabei zur Mitwirkung (Antragstellung) verpflichtet und hat dabei nach bestem Wissen mitgewirkt. Auf den Zusammenhang zwischen Kindergeldanspruch und der Erwerbstätigkeit der Klägerin wurde sie weder hingewiesen noch konnte sie das von sich aus erkennen [vgl. auch Bl. 189 Kg-Akte]. Die ausführliche Würdigung im strafrechtlichen Abschlussvermerk [Bl. 58 Kg-Akte] würdigt den Sachverhalt zutreffend und spricht für sich. (…)
134. Darüber hinaus hat die Familienkasse übersehen, dass im Streitfall ernstlich ein Erlass der Rückforderung aus sachlichen Billigkeitsgründen in Frage kommt, und zwar wegen der Anrechnung des Kindergelds auf die der Klägerin gewährten Sozialleistungen (grundlegend DA-KG 2019 Abschn. V 26.2 Abs. 2).
14Dabei wurde das (später von der Klägerin zurückgeforderte) Kindergeld teilweise sogar (in Erfüllung eines vermeintlichen Erstattungsanspruchs) direkt an die Stadt B ausgezahlt, so für August 2010 [Bl. 232, 234, 239 Kg-Akte]. Warum die Familienkasse diesen Betrag nicht von der solventen Stadt zurückgefordert hat (inzwischen dürfte Verjährung eingetreten sein, § 113 Abs. 1 Satz 2 SGB X), sondern die bedürftige Klägerin in Anspruch nimmt, ist nicht nachvollziehbar.
15Der bestandskräftige Ablehnungsbescheid vom 13.04.2017 steht nicht entgegen, weil hierin nicht über sachliche Billigkeitsgründe entschieden worden ist. Vielmehr ging es nur um persönliche Billigkeitsgründe; außerdem wurde die Erlassablehnung darauf gestützt, dass die Gewährung einer Stundung ausreiche – eine Situation, die sich inzwischen erledigt hat, so dass der Ablehnungsbescheid vom 13.04.2017 obsolet ist.
16Im Zusammenhang mit dem geltend gemachten Erlassanspruch kommt eine Stundung als technische Stundung in Betracht, solange über einen nicht aussichtslosen Erlassanspruch nicht abschließend entschieden ist. Diese Erwägung wäre bei einer erneuten Ermessensentscheidung der Familienkasse einzubeziehen. “
17In der mündlichen Verhandlung in der Stundungssache (vgl. Protokoll vom 11.03.2020) hat die Familienkasse eine Verrechnungsstundung (technische Stundung ohne Ratenzahlung) bis zur endgültigen Entscheidung über den Erlassanspruch der Klägerin gewährt; der Rechtsstreit wurde sodann in der Hauptsache für erledigt erklärt.
18Inzwischen hatte die Klägerin (nach ihrem unbearbeiteten Antrag vom Juli 2019), fachkundig vertreten, bei der Behörde am 30.10.2019 einen neuen Erlassantrag gestellt; sie trug vor, sie habe während des Rückforderungszeitraums Sozialleistungen bezogen, auf die das gewährte Kindergeld angerechnet worden sei. Dieser Antrag wurde an die Familienkasse Inkasso-Service C-Stadt abgegeben. Diese lehnte einen Billigkeitserlass mit Bescheid vom 8.07.2020 ab. Zur Begründung heißt es:
19„Laut Mitteilung der Familienkasse (..) ist die Forderung aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht entstanden, daher ist eine Erlasswürdigkeit im vorliegenden Fall zu verneinen. (…)
20Mit Ihrem Antrag zielen Sie hauptsächlich auf einen Erlass der Kindergeldforderung aufgrund sachlicher Unbilligkeit ab, da Kindergeld auf die Sozialleistung angerechnet wurde. Bei der Entscheidung über den Antrag ist jedoch auch das Verhalten des Kindergeldberechtigten abzuwägen.
21Nach vorliegenden Erkenntnissen beruht die entstandene Überzahlung, wie bereits erwähnt, auf einer Verletzung der Mitwirkungspflichten.
22Neben der bereits oben dargelegten fehlenden Erlasswürdigkeit kann auch die teilweise erfolgte Anrechnung des Kindergelds auf Sozialleistungen nicht als sachliche Unbilligkeit anerkannt werden:
23Aus den vorliegenden Unterlagen (Bescheid über die Leistungen nach dem SGB II vom 26.07.2010) ist nicht zu entnehmen, dass im Monat August 2010 eine Anrechnung des Kindergelds auf die Sozialleistungen erfolgte. Eine sachliche Unbilligkeit ist nicht gegeben. …“
24Den hiergegen erhobenen Einspruch wies die Familienkasse als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 26.10.2020). Sie führte aus, die Überzahlung des Kindergelds (in Höhe von 12.992 €) sei allein auf das Verhalten der Klägerin zurückzuführen. Diese habe das Ende ihrer Beschäftigung nicht unverzüglich angezeigt. Sie habe mit ihrer Unterschrift auf dem Kindergeldantrag bestätigt, dass sie jede Änderung, die für den Kindergeldanspruch bedeutsam sei, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen habe, dass sie das Kindergeld-Merkblatt erhalten und dessen Inhalt zur Kenntnis genommen habe. Ihr habe deutlich sein müssen, dass ihr Kindergeldanspruch von ihrer Beschäftigung abhängig sei. Die Familienkasse treffe dagegen kein Verschulden. Deshalb liege eine sachliche Unbilligkeit nicht vor. Säumniszuschläge (in Höhe von 2.400 €, berechnet bis 26.08.2019) seien ebenfalls nicht, auch nicht teilweise, zu erlassen. Vorliegend sei die Kindergeldforderung noch nicht getilgt, so dass deren Druckmittelcharakter weiterhin gegeben sei und eine sachliche Unbilligkeit nicht vorliege.
25Hiergegen richtet sich die Klage. Der Prozessvertreter meint, bereits die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung sei rechtswidrig gewesen. Denn die Klägerin habe stets die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit gehabt. Außerdem sei sie durch die Anrechnung des Kindergelds auf ihre Sozialleistungen entreichert, so dass auch die Rückforderung des Kindergelds rechtswidrig sei. Deshalb sei der Rückforderungsbetrag zu erlassen. Abgesehen davon seien ihr keinerlei Vorwürfe zu machen: sie sei stets mit sämtlichen Unterlagen bei der Familienkasse gewesen und dort hätten die Sachbearbeiter mit ihr zusammen die Anträge ausgefüllt. Außerdem sei es um spezielle rechtliche Erwägungen gegangen, die scheinbar seitens der Familienkasse falsch bewertet worden seien.
26Die Klägerin beantragt,
27die Familienkasse unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 8.07.2020 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.10.2020 zu verpflichten, ihr den Rückforderungsbetrag (12.992 €) nebst Säumniszuschlägen (2.400 €) aus Billigkeitsgründen zu erlassen.
28Die Familienkasse beantragt,
29die Klage abzuweisen;
30hilfsweise: die Revision zuzulassen.
31Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten im Klageverfahren und die dem Gericht übermittelten Akten (elektronische Kindergeldakte/ in Papier nachgereichte Erhebungsakte) Bezug genommen.
32E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
33Die Klage ist weitgehend begründet.
34Die Familienkasse ist verpflichtet, den rückständigen Rückforderungsbetrag fast vollständig, nämlich in Höhe von 12.834 €, sowie die Hälfte der Säumniszuschläge (berechnet bis 26.08.2019), also 1.200 € aus Billigkeitsgründen zu erlassen; über einen Billigkeitserlass hinsichtlich der verbleibenden Hälfte der Säumniszuschläge hat die Familienkasse erneut eine Entscheidung zu treffen. Eine Verpflichtung der Familienkasse zum vollständigen Erlass der Säumniszuschläge kann der Senat angesichts eines verbleibenden Ermessensspielraums der Behörde nicht aussprechen.
351. Die Verpflichtungsklage richtet sich -- wie auch tatsächlich so erhoben -- zulässigerweise gegen die Familienkasse, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat, nicht gegen die Familienkasse Inkasso-Service, die den Ausgangsbescheid gefertigt hat. Dies entspräche im Streitfall auch einer rechtsschutzgewährenden Auslegung.
36Die Familienkasse ist nämlich richtige Beklagte, weil die Vorschrift des § 63 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hier analog anzuwenden ist. Zwar hat die sachlich unzuständige Familienkasse Inkasso-Service (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, juris, Rz 27 ff.) den Ausgangsbescheid gefertigt, aber die Familienkasse, die sachlich und örtlich zuständig ist, hat die Einspruchsentscheidung erlassen. Rechtlich ist nie ein Zuständigkeitswechsel eingetreten, was die direkte Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO ausschließt; aber da die wirklich zuständige Behörde über den Einspruch entschieden hat, ist die Vorschrift entsprechend anzuwenden (BFH-Beschluss vom 28.01.2002 VII B 83/01, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs -- BFH/NV -- 2002, 934, Rz 15 m. w. N.; BFH-Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, Bundessteuerblatt -- BStBl -- II 2017, 642 Rz 20 a. E.). Dabei können die Motive, die die Verwaltung zum Zuständigkeitswechsel bewogen haben, keine Rolle spielen; auch die „zufällige“ Übertragung des Einspruchsverfahrens (hier wegen einer vermeintlichen Sonderzuständigkeit) auf die tatsächlich zuständige Behörde löst die analoge Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO aus. Ansonsten wäre die Entscheidung der Familienkasse ohne sachliche Prüfung aufzuheben, mit der Maßgabe, dass dieselbe Behörde eine (im Zweifel dieselbe) Entscheidung erneut trifft – ein weder wünschenswertes noch rechtlich gebotenes Ergebnis.
372. Die Entscheidung der Familienkasse ist nicht bereits wegen der Unzuständigkeit der Familienkasse Inkasso-Service, die den Ausgangsbescheid erlassen hat, aufzuheben. Die durch die sachlich unzuständige Ausgangsbehörde getroffene und bereits deshalb rechtswidrige Entscheidung (vgl. BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, juris, Rz 42) ist durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung, die von der sachlich und örtlich zuständigen Behörde erlassen worden ist, gemäß § 126 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) geheilt worden. Denn die Ermessensausübung und Ermessensbegründung in der Einspruchsentscheidung sind für die gerichtliche Überprüfung maßgebend: für die gerichtliche Beurteilung kommt es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung an (vgl. Drüen in Tipke/ Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 5 AO Rz 31 und 77). Ermessenserwägungen können in der Einspruchsentscheidung erstmals vorgenommen, nachgeholt, präzisiert, richtig gestellt werden – insofern überlagert und ersetzt der Verwaltungsakt „Einspruchsentscheidung“ den (aus welchen Gründen auch immer) rechtswidrigen, aber nicht nichtigen Ausgangsbescheid (so auch bereits FG Düsseldorf Urteil vom 22.01.2020 9 K 2688/19 KV, AO, juris, Rz 34; a. A. FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, Rz 28). Damit ist der Weg frei für die inhaltliche Überprüfung der von der Familienkasse erlassenen Einspruchsentscheidung.
383. Die gerichtliche Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung (Entscheidung über einen Billigkeitserlass) orientiert sich an § 102 FGO. Hintergrund ist das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 des Grundgesetzes): Die Verwaltung entscheidet, das Gericht überprüft – das Gericht ist keine übergelagerte Verwaltungsbehörde, sondern Rechtsschutzorgan. Hiernach ist die gerichtliche Prüfung des den Erlass ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 GmS OGB 3/70, BStBl II 1972, 603; BFH-Urteil vom 29.08.1991 V R 78/86, BStBl II 1991 I, 906). Die Anforderungen an eine rechtmäßige Ermessensentscheidung sind in § 5 AO grundgelegt: Die Behörde hat ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die gerichtliche Überprüfung hat dabei grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung) abzustellen (vgl. Drüen in Tipke/ Kruse, § 5 AO Rz 77 m.w.N.).
39Dabei sind auch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften zu beachten (vgl. zuletzt BFH-Urteile vom 26.09.2019 V R 36/17, BFH/NV 2020, 86, Rz 22 f. und vom 31.05.2017 I R 92/15, BStBl II 2019, 14, Rz 11 ff.): Sofern diese ihrerseits die gesetzlichen Grenzen der Ermessensausübung einhalten, ist für ihre Auslegung nicht maßgeblich, wie das Gericht die Verwaltungsanweisung gerne interpretieren würde oder verstehen könnte, sondern wie die Verwaltung selbst ihre Anweisung verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das Gericht darf daher Verwaltungsanweisungen nicht nach den allgemeinen Auslegungsmethoden selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist. Im vorliegenden Fall liegt eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift vor (Abschn. V 26 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz -- DA-KG -- in der Fassung des Jahres 2019, BStBl I 2019, 654 ff., 748 f. und des Jahres 2020, BStBl I 2020, 703 ff, 798 f.).
40Die Ausübung des Ermessens setzt zunächst voraus, dass die Behörde den Sachverhalt vollständig und einwandfrei ermittelt (vgl. hierzu näher Drüen in Tipke/ Kruse, § 5 AO Rz 30 a m.w.N.; BFH-Urteile vom 15.06.1983 I R 76/82, BStBl II 1983, 672 und vom 22.04.1988 III R 269/84, BFH/NV 1989, 428). Hierzu gehört selbstverständlich, dass die Behörde die betreffenden Kindergeld-Akten beizieht und einsieht, so dass sie aus der Kenntnis des Akteninhalts eine eigene (Ermessens-) Entscheidung treffen kann.
414. Im Streitfall hat die Familienkasse diese Verfahrensgrundsätze nicht beachtet, insbesondere bei ihrer Ermessensentscheidung über einen Billigkeitserlass der Hauptschuld den verwirklichten Sachverhalt nicht zutreffend zur Kenntnis genommen und damit nicht hinreichend gewürdigt.
42a) Der Ablehnungsbescheid beruht offensichtlich gar nicht auf eigener Aktenkenntnis der Bearbeiterin, sondern geschah zur Arbeitsersparnis „auf Zuruf“. Heißt es doch: „Laut Mitteilung der Familienkasse (..) ist die Forderung aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht entstanden“ – mit „laut Mitteilung“ gemeint ist regelmäßig das Ankreuzen auf einem Formblatt. Dass dies die Rechtswidrigkeit einer Ermessensentscheidung bewirkt, hat das Gericht der Familienkasse in den letzten 10 Jahren wiederholt verdeutlicht. An der Arbeitsweise der Behörde hat sich nichts geändert.
43b) Im Rahmen der Einspruchsentscheidung hat die Familienkasse bei der Erlassablehnung maßgeblich darauf abgestellt, dass die Klägerin infolge einer schuldhaften Mitwirkungspflichtverletzung die Rückforderung selbst verschuldet habe. Diese Einschätzung ist so nicht vertretbar und wird durch den Akteninhalt widerlegt:
44Der Antrag auf Kindergeld wurde von der Stadt B erstmals im Herbst 2008 im berechtigten Interesse gestellt, im Hinblick auf einen Erstattungsanspruch [Bl. 150, 152 Kg-Akte in der früheren Heftung; nunmehr Bl. 198, 200]. Die Klägerin wurde dabei zur Mitwirkung (Antragstellung) verpflichtet und hat dabei nach bestem Wissen mitgewirkt. Auf den Zusammenhang zwischen Kindergeldanspruch und der Erwerbstätigkeit der Klägerin wurde sie weder hingewiesen noch konnte sie das von sich aus erkennen [vgl. auch Bl. 189 Kg-Akte in der früheren Heftung; nunmehr Bl. 75]. Die ausführliche Darlegung im strafrechtlichen Abschlussvermerk [Bl. 58 Kg-Akte, nunmehr Bl. 97 des übersandten Aktenauszugs] würdigt den Sachverhalt zutreffend und spricht für sich; hierin heißt es:
45„Die Berechtigte handelte nicht vorsätzlich bezüglich einer Steuerhinterziehung, da davon auszugehen ist, dass sie ihre Mitteilungspflicht nicht kannte. Ihre Einlassung im Einspruchsverfahren, dass ihr nicht bewusst war, dass der Anspruch auf Kindergeld von ihrer Erwerbstätigkeit abhängig war, ist nachvollziehbar. Sie wurde durch die Familienkasse weder darauf hingewiesen, dass der Anspruch von einer Erwerbstätigkeit abhängig ist noch dass sie diesbezüglich eine besondere Mitteilungspflicht trifft. Auch dem Merkblatt Kindergeld hätte sie dies nicht entnehmen können. Ein solcher Hinweis wäre in diesem rechtlich nicht einfach gelagerten Fall jedoch erforderlich gewesen.“
46Die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung beinhalten dagegen Unterstellungen (sog. „Tatbestandsquetsche“), die dem tatsächlich erkennbaren und aktenkundigen Sachverhalt nicht gerecht werden. Der Begriff des Verschuldens erfordert ein Abstellen auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Betroffenen und die Berücksichtigung der näheren Sachverhaltsumstände. Dies beinhaltet der strafrechtliche Abschlussvermerk. Darüber hinaus lässt die Familienkasse in ihren ablehnenden Erlassentscheidungen außer Acht, dass die Klägerin durch die Sozialbehörde unter Druck gesetzt und zur Mitwirkung bei der Stellung des Kindergeldantrags gedrängt worden ist, dass sie die rechtlichen Besonderheiten ihres Kindergeldanspruchs nicht absehen konnte [vgl. hierzu bereits Bl. 254 Kg-Akte] und dass die Sozialbehörde ihrerseits, die alleine von der Kindergeldgewährung profitiert und den Wegfall der Arbeitsstelle der Klägerin erfahren hat, sehenden Auges das Kindergeld weiter angerechnet hat, ohne die Klägerin auf den weggefallenen Kindergeldanspruch, ihre Pflicht zur Information der Familienkasse und die ansonsten absehbaren Probleme hinzuweisen. Dabei wird nicht verkannt, dass die Sozialbehörde (schon aus datenschutzrechtlichen Gründen) nicht berechtigt und erst recht nicht verpflichtet ist, die Familienkasse von sich aus über Änderungen zu informieren (BFH-Urteile vom 13.09.2018 III R 19/17, BStBl II 2019, 187, Rz 18 f. und vom 27.05.2020 III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 29 f.). Die Sozialbehörde war aber auch nicht berechtigt, die unbedarfte Klägerin, deren Kindergeldantrag sie selbst erzwungen hat, aus wirtschaftlichem kommunalem Eigeninteresse „ins Messer laufen“ zu lassen. Es wäre durchaus geboten gewesen, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass durch den Wegfall der Arbeitsstelle ihr Kindergeldanspruch entfallen war und dass die Klägerin dies deshalb der Familienkasse mitzuteilen habe.
475. Der dargelegte Ermessensfehler i. S. d. § 102 Satz 1 FGO bewirkt nicht nur die erneute Bescheidung der Klägerin durch die Familienkasse, sondern führt zur Verpflichtung der Familienkasse, den beantragten Erlass der Hauptschuld zu gewähren. Denn die Sache ist insoweit spruchreif i. S. d. § 101 Satz 1 FGO.
48a) Legt man die vom Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) veröffentlichte DA-KG 2020 zugrunde, kommt in Fällen wie dem vorliegenden (Kindergeld wurde beim Arbeitslosengeld II als Einkommen i. S. d. § 11 SGB II berücksichtigt, bei einer Rückforderung des Kindergeldes war die nachträgliche Korrektur der Leistungen in Höhe des angerechneten Kindergeldes nicht möglich) ein Billigkeitserlass in Frage (V 26.2 Abs. 2 Satz 3 DA-KG 2020), aber nicht ohne weiteres und automatisch (V 26.2 Abs. 2 Satz 4 DA-KG 2020). Ein wesentliches Kriterium dabei ist (gemäß V 26.2 Abs. 2 Satz 6 DA-KG 2020), ob die Rückforderung auch auf das Fehlverhalten oder die Versäumnis des Schuldners zurückzuführen ist (z. B. bei Verletzung der Mitwirkungspflicht). In diesem Falle ist der Grad des Verschuldens, insbesondere die im Einzelfall zum Fehlverhalten führenden näheren Umstände, bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen. Gemäß V 26.2 Abs. 2 Satz 7 DA-KG 2020 ist die Forderung zumindest insoweit zu erlassen, als die Überzahlung des Kindergeldes, unabhängig vom Verhalten des Schuldners, nicht vermeidbar war (z. B. für den Überzahlungsmonat, der sich auch bei rechtzeitiger Mitteilung ergeben hätte).
49b) Im Streitfall ist folgende Situation aktenkundig: Die Klägerin hatte seit 1.08.2007 auf 400 €-Basis als Aushilfskraft in einem Hotel gearbeitet [Bl. 223 Kg-Akte]. Seit September 2008 wurde sie durch die Sozialbehörde zur Stellung des Kindergeldantrags gedrängt, allerdings ohne hierbei Unterstützung zu erhalten; hiermit war die Klägerin ersichtlich überfordert. Immer wieder wurden Unterlagen angefordert oder waren Formulare nicht vollständig ausgefüllt. Regelmäßig ergaben sich Änderungen: die sich verändernden Verhältnisse der volljährigen Kinder waren zu aktualisieren. Die Klägerin musste sich bei der Familienkasse rechtfertigen, warum sie nicht bereits früher Kindergeld beantragt hatte [Bl. 252, 254 Kg-Akte]. Dazu kamen Verzögerungen, weil sich Rückfragen wegen der hinreichenden Substantiierung des Erstattungsanspruchs ergeben hatten [Bl. 229, 266, 273, 291 Kg-Akte]. Im August 2010 setzte die Familienkasse schließlich das Kindergeld fest. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin ihren Arbeitsplatz gerade verloren; sie war nämlich nur bis 31.07.2010 beschäftigt [vgl. Bl. 76 Kg-Akte]. Die anschließenden Versuche der Klägerin, mit Unterstützung ihrer Kinder mit den Behörden ins Reine zu kommen, schildert anschaulich das von der Tochter verfasste Schreiben vom 15.08.2016 [Bl. 42 f. Kg-Akte], das deren subjektiven Eindruck wiedergibt und worin diese ausführt: Uns wurde gesagt, da meine Mama als Aushilfe gearbeitet hat, würde uns das Kindergeld zustehen. So haben wir das Kindergeld beantragt, weil wir das angeblich mussten, wurde uns gesagt. Als meine Mama als Aushilfe nicht mehr gearbeitet hat, waren wir persönlich da und haben alle Unterlagen abgegeben und ausgefüllt und unterschrieben, alles was nötig war, damit keine Missverständnisse entstehen. Wir haben alle 6 Monate bei der Arbeitsagentur Unterlagen erhalten, ob meine Eltern arbeitslos sind oder ob die arbeiten würden, was wir Kinder im Moment machen, ob wir zur Schule gehen, woher wir Leistungen beziehen. All diese Unterlagen haben wir ausgefüllt, mit den Bestätigungen, dass meine Eltern nicht arbeiten und von wem wir unsere Leistungen erhalten. Trotzdem war die Arbeitsagentur nicht in der Lage, dies zu korrigieren.
50Insgesamt ergibt sich das Bild, dass die Klägerin mit ihren Mitwirkungspflichten gegenüber der Familienkasse überfordert war - auch mit Hilfe ihrer Kinder war ihr nicht klar, dass sie nicht nur alle regelmäßig vorgelegten Unterlagen auszufüllen und Anfragen zu beantworten hatte, sondern die Familienkasse auch über aktuell nicht nachgefragte rechtserhebliche Umstände von sich aus informieren musste. Ersichtlich hat sie nicht begriffen, dass die Information, die eine Behörde (Sozialagentur, Jobcenter oder Berufsberatung der Kinder) erhält, damit nicht auch der anderen Behörde (Familienkasse der Agentur für Arbeit) zur Verfügung steht, sondern dass die Klägerin ggf. jeder Behörde dieselbe Information übermitteln muss. Ihre Überforderung wird aus der Kindergeldakte hinreichend deutlich [z. B. auch Bl. 86]; die Akte belegt zudem die Schwierigkeit, hier den Überblick zu behalten.
51Eine Unterstützung seitens der städtischen Sozialagentur hat die Klägerin ersichtlich nicht erhalten. Diese Behörde konnte von ihr die Beantragung des Kindergelds (zur Erzielung eines zumutbaren Einkommens) verlangen und hat deshalb Druck ausgeübt; sie hatte notwendigerweise einen Überblick über die laufenden wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin, ohne dieser aber erforderliche Hilfestellung zu leisten.
52c) Nach alledem ist der Klägerin kein Vorsatz vorzuwerfen, keine grobe Fahrlässigkeit, nach ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten wohl nicht einmal leichte Fahrlässigkeit. Insofern stimmt der Senat mit der Würdigung der Familienkasse im strafrechtlichen Abschlussvermerk überein. Unter der weiteren Berücksichtigung, dass nur die Sozialagentur der Stadt von der Kindergeldgewährung profitiert hat, ergibt sich anhand der o. g. Kriterien der DA-KG V 26.2 Abs. 2 die grundsätzliche Verpflichtung zum Erlass der Hauptschuld.
53d) Ausgenommen von der Erlassverpflichtung ist allerdings das Kindergeld für August 2010 (558 €); dieser Betrag wurde im Rahmen eines geltend gemachten (vermeintlichen) Erstattungsanspruchs an die Stadt B ausgezahlt. Die Bedienung des Erstattungsanspruchs bewirkte keine Auszahlung des Kindergelds an die Klägerin, sondern dokumentierte nur die Rechtsfolge des § 107 Abs. 1 SGB X, also das Erlöschen des ihr gegenüber festgesetzten Kindergeldanspruchs bereits mit Auszahlung der ungekürzten Sozialleistung. Insofern war der Rückforderungsbescheid rechtswidrig, weil die Klägerin nicht Leistungsempfängerin i.S.d. § 37 Abs. 2 AO und nicht Rückzahlungsverpflichtete gewesen ist. Nachdem die Klägerin den Rückforderungsbescheid in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 29.01.2013 und der Einspruchsentscheidung vom 15.09.2016 hat bestandskräftig werden lassen, kann sie die Rechtswidrigkeit der Rückforderung und die unterlassene Klage gegen die Einspruchsentscheidung vom 15.09.2016 nicht im Erlasswege korrigieren (vgl. BFH-Urteil vom 11.08.1987 VII R 121/84, BStBl II 1988, 512; BFH-Beschluss vom 11.05.2020 V B 99/19, BFH/NV 2020, 851, Rz 6 m.w.N.).
546. Soweit die Familienkasse den Erlass der Säumniszuschläge (2.400 €) aus sachlichen Billigkeitsgründen abgelehnt hat, ist diese Entscheidung ebenfalls ermessensfehlerhaft. Der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung sind insoweit rechtswidrig, weil sie untaugliche (Ablehnungsbescheid) oder unsachgemäße Ermessenserwägungen (Einspruchsentscheidung) enthalten. Die Familienkasse ist vielmehr verpflichtet, die hälftigen Säumniszuschläge zu erlassen und über die Frage des Erlasses der verbleibenden Säumniszuschläge erneut zu entscheiden (vgl. § 101 Satz 2 FGO).
55a) Hinsichtlich der Begründung von Ermessensentscheidungen sind die Grundsätze zu beachten, die der BFH im Urteil vom 8.11.2018 III R 31/17, BFH/NV 2019, 557 unter Rz 27 ff. zusammengefasst hat: Gemäß § 121 AO ist ein Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist. Dies gilt insbesondere für Ermessensentscheidungen, denn die maßgebenden Erwägungen bei der Ermessensausübung müssen aus der Entscheidung erkennbar sein (BFH-Urteile vom 13.06.1991 V R 44/87, BFH/NV 1992, 78, Rz 14 und vom 2.09.2010 VI R 3/09, BStBl II 2011, 233, Rz 18). Eine nicht begründete Ermessensentscheidung der Verwaltung ist im Regelfall rechtsfehlerhaft (z.B. BFH-Urteil vom 1.07.2008 II R 2/07, BStBl II 2008, 897; Klein/ Gersch, AO-Kommentar, 14. Aufl., § 5 Rz 13, jeweils m.w.N.).
56b) Im Streitfall hat die Familienkasse zwei nicht tragfähige Begründungen gegeben, den Erlass der Säumniszuschläge vollumfänglich zu versagen:
57Im angefochtenen Ablehnungsbescheid heißt es: „Werden fällige Beträge nicht rechtzeitig gezahlt, entstehen Säumniszuschläge in Höhe von 1 % pro Monat (§ 240 AO). Die weitere Einziehung der Forderung ist somit nicht unbillig.“
58Nur weil Säumniszuschläge kraft Gesetzes entstehen, bedeutet dies doch nicht, dass die Möglichkeit eines Billigkeitserlasses ausscheidet. Gerade weil Säumniszuschläge ohne Festsetzung sozusagen automatisch entstehen, ergibt sich das Bedürfnis, dass die Finanzbehörde bei Streitigkeiten über die Höhe ihrer Berechnung (auch über Erlöschenstatbestände wie Tilgung, Verjährung) im Wege eines Verwaltungsakts (sog. Abrechnungsbescheids) rechtsbindend entscheidet und dass im Falle der Unbilligkeit ihrer Erhebung, insbesondere wenn die Säumniszuschläge im Einzelfall ihren Sinn als Druckmittel verloren haben, ein Billigkeitserlass aus sachlichen Gründen in Frage kommt, worüber die Finanzbehörde durch Bescheid (als Ermessensentscheidung) zu entscheiden hat.
59In der Einspruchsentscheidung heißt es hierzu: „Vorliegend ist die Kindergeldforderung noch nicht getilgt, so dass deren Druckmittelcharakter weiterhin gegeben ist und eine sachliche Unbilligkeit zum Erlass der Säumniszuschläge nicht vorliegt.“ Auch diese Begründung ist nicht haltbar.
60Die Absurdität der Begründung (die offenbar als Textbaustein Verbreitung gefunden hat), zeigt sich, wenn man sie ernst nähme: Erst nach Tilgung der Hauptschuld käme ein (Teil-) Erlass der Säumniszuschläge in Frage – in diesem Fall hätte sich aber durch die tatsächliche Tilgung gezeigt, dass die Säumniszuschläge als Druckmittel erfolgreich gewesen wären, also ihren Sinn und Zweck erfüllt hätten. Damit bestünde kein Grund für einen Erlass. Vor Tilgung der Hauptschuld gäbe es für den Mittellosen ebenfalls keinen Billigkeitserlass, denn die Druckmittelfunktion müsse weiter aufrechterhalten werden.
61Säumniszuschläge sind ein Druckmittel eigener Art (vgl. nur BFH-Beschluss vom 2.03.2017 II B 33/16, BStBl II 2017, 646, Rz 32), die nach § 240 Abs. 1 Satz 4 AO unberührt bleiben, wenn die Festsetzung der Hauptforderung aufgehoben oder geändert wird. In Ansehung dieser Funktion sind Säumniszuschläge nach der ständigen Rechtsprechung regelmäßig zur Hälfte zu erlassen, wenn ihre Funktion als Druckmittel ihren Sinn verliert (BFH-Urteile vom 30.03.2006 V R 2/04, BStBl II 2006, 612, unter II.2.b; vom 17.07.2019 III R 64/18, BFH/NV 2020, 7, Rz 28 und vom 8.11.2018 III R 31/17, BFH/NV 2019, 557, Rz 29), z. B. wenn der Schuldner ersichtlich nicht leistungsfähig ist, weil er Sozialleistungen am Existenzminimum bezieht.
62c) Dies ist hier der Fall: Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, was auch aus der Inkasso-Akte deutlich wird, nämlich dass sie im Entstehungszeitraum der Säumniszuschläge durchgehend (ggf. ergänzende) Leistungen nach dem SGB II bezogen hat. Soweit sie ungeachtet dessen geringe Ratenzahlungen tatsächlich regelmäßig erbracht hat, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Denn auch eine Ratenzahlung an der Grenze der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, erst Recht aber über diese Grenze hinaus („vom Mund absparen“), verpflichtet zum hälftigen Erlass von Säumniszuschlägen (vgl. BFH-Urteile vom 22.06.1990 III R 150/85, BStBl II 1991, 864 und vom 17.10.2001 II R 67/98, BFH/NV 2002, 610).
63d) Die Familienkasse ist darüber hinaus verpflichtet, über den Erlass der verbleibenden Hälfte der Säumniszuschläge erneut zu entscheiden, weil die Ablehnungsentscheidung mangels tragfähiger Begründung ermessensfehlerhaft ist.
64e) Insoweit besteht allerdings keine Spruchreife i. S. d. § 101 FGO. Ein weitergehender Erlass der Säumniszuschläge ist nicht bereits aus Rechtsgründen geboten, weil angesichts der derzeitigen Niedrigzinsphase die Höhe der Nachzahlungszinsen von 0,5 Prozent für jeden vollen Monat schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln begegnet (so BFH-Beschluss vom 25.04.2018 IX B 21/18, BStBl II 2018, 415) und damit auch die „Zinsersatzfunktion“ der Säumniszuschläge nicht mehr zu rechtfertigen wäre. Zwar lassen sich die für Zinsen geltenden Erwägungen und Bedenken wohl auch auf Säumniszuschläge übertragen (vgl. BFH-Beschluss vom 14.04.2020 VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177; a. A. FG Münster Beschluss vom 29.05.2020 12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053; nunmehr Beschwerde zugelassen: FG Münster Beschluss vom 27.01.2021 12 V 3395/20 AO, EFG 2021, 526; zweifelnd FG Hamburg Urteil vom 1.10.2020 2 K 11/18, EFG 2020, 1815, Rz 34 ff.). Allerdings wären verfassungsrechtliche Einwendungen gegen die Höhe der Säumniszuschläge (Rechtswidrigkeit ihrer Erhebung infolge eines systemischen Mangels) wohl vorrangig im Wege der Beantragung eines Abrechnungsbescheides, nicht im (auf den Einzelfall bezogenen) Erlassverfahren geltend zu machen (FG Hamburg, Urteil vom 30.07.2020 2 K 192/18, EFG 2020, 1813).
65f) Darüber hinaus hat die Familienkasse einen vollständigen Erlass der Säumniszuschläge auch (ungeachtet § 240 Abs. 1 Sätze 4 und 5 AO) unter Folgenbeseitigungsgesichtspunkten in Betracht zu ziehen, soweit bei ihrer Entstehung bereits ein Erlass der Hauptschuld aus Billigkeitsgründen geboten gewesen wäre, also eine Erlasslage bestand.
667. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
678. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).