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Der Beklagte wird unter Aufhebung seiner ablehnenden Entscheidungen vom 4. Juni 2021 verpflichtet, die Einfuhrabgaben, die mit den Einfuhrabgabenbescheiden vom 21. November 2018 (Fallpaket 4), vom 23. November 2018 (Fallpaket 5), vom 29. November 2018 (Fallpaket 6), vom 29. November 2018 (Fallpaket 7), vom 4. Dezember 2018 (Fallpaket 8), vom 29. November 2018 (Fallpaket 9) und vom 22. November 2018 (Fallpaket 10) festgesetzt und nicht durch die Erlassbescheide vom 6. März 2019 für den Vorgang der Fallakte 90 (Fallpaket 9), vom 3. Juni 2020 für den Vorgang der Fallakte 15 (Fallpaket 4) und vom 15. Juli 2020 für die Vorgänge der Fallakten 10 und 11 (Fallpaket 9) schon erlassen worden sind,
zu erlassen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Das Landgericht W-Stadt (LG) stellte in seinem rechtskräftig gewordenen Urteil vom 28.09.2018, ..., mit dem ... (A) wegen gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Schmuggels in 127 Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, Folgendes fest:
32009 plante A mit ... (B) die Gründung einer Gesellschaft, deren Gegenstand u.a. der Warenhandel mit der VR China sein sollte. Gesellschafter der sodann gegründeten ... GmbH (G) mit Sitz auf der ...straße 1 in Y-Stadt wurden B und die Ehefrau des A. Offizieller Geschäftsführer war (bis 2015) B, tatsächlich führte A jedoch von Beginn an die Geschäfte und war damit faktischer Geschäftsführer. Mitarbeiter der G waren u.a. die gesondert Verfolgten C und D sowie (seit 2011) der inzwischen verstorbene ... (E).
4A war mit der von ihm gelenkten G eingebunden in einen über Jahre laufenden Schmuggel von chinesischen Textilwaren.
5Diese Textilwaren wurden in der VR China von chinesischen Firmen produziert und von diesen - teilweise unter Einschaltung von besonderen Exportagenturen, unter anderem der von A gegründeten (chinesischen) G in Shenzhen (VR China) in Containern über den Seeweg exportiert.
6Käufer der Waren waren die von Chinesen geleiteten italienischen Firmen F, H und J, sämtlich mit Sitz in Italien. Diese tätigten ihre Bestellungen unmittelbar bei verschiedenen chinesischen Herstellern von Textilwaren, u.a. der gleichnamigen Firma J.
7Die von A übernommene Aufgabe bestand darin, gegen Entgelt als Importeur der Textilwaren in Deutschland aufzutreten und diese über Rotterdam weiter nach Italien zu verbringen. Dabei sollten durch Manipulationen und Fälschungen in erheblichem Umfang Einfuhrabgaben verkürzt werden.
8Mit den chinesischen Firmen war vereinbart, dass A bzw. die G für diese Leistungen insgesamt für jeden Container einen Betrag von 9.500-10.500 € erhalten sollten, womit Zölle, Steuern, Frachtkosten und der Gewinn der Firma G GmbH abgedeckt werden sollten.
9Spätestens im Jahre 2011 beschlossen A und E dementsprechend, bei einer Vielzahl von Importen, welche über die G abgewickelt werden sollten und für Abnehmer in Italien bestimmt waren, gegenüber der Zollbehörde die transportierte Warenmenge und deren Wert erheblich niedriger als tatsächlich anzugeben und so entsprechend zu wenig Einfuhrumsatzsteuer (EUSt) und Zoll zu bezahlen.
10E stand im Kontakt mit dem bei dem Zollamt X-Stadt (ZA) tätigen Zollbeamten ... (L). Dieser hatte sich bereit erklärt, bei der Hinterziehung der Einfuhrabgaben mitzuhelfen, indem ег das sogenannte Zollversandverfahren ohne Vornahme der erforderlichen Kontrollmaßnahmen erledigte und die Zollabfertigung mit den zu niedrigen Warenwerten, mit deren Angabe ег zumindest rechnete und die ег billigend in Kauf nahm, bestätigte.
11Nach diesem Plan kam es dann in der Zeit vom 30.08.2011 bis zum 07.05.2014 in 129 einzelnen Fallen zur Einfuhr und Abfertigung von Containerlieferungen mit – ganz überwiegend – Kleidung.
12Die Container wurden jeweils рег Schiff aus der VR China in den Hafen nach Rotterdam gebracht, dort auf Lastkraftwagen umgeladen und nach Y-Stadt gefahren, von wo aus die Waren nach Italien weitertransportiert wurden.
13Gemäß den offiziellen Zollpapieren, den sogenannten T1-Formularen, hatten die Container von Rotterdam aus zunächst nach X-Stadt zum dortigen Zollamt gefahren, dort zollrechtlich gestellt und anschließend abgefertigt werden sollen. Tatsächlich wurden jedoch nur wenige der Container beim ZA gestellt, in einer Vielzahl von Fällen fuhren die Lastkraftwagen mit den Containern direkt von Rotterdam nach Y-Stadt.
14Auf der Basis der ihm von den chinesischen Lieferanten überlassenen Seefrachtpapiere und zutreffender Packlisten legten A und E angebliche Inhalte, Warenmengen und Warenwerte fest, die sodann der Zollabfertigung zugrunde gelegt werden sollten. Um die Festsetzung von Zoll und Einfuhrumsatzsteuer in einer bestimmten Höhe zu erreichen, wählten sie hierbei regelmäßig Mengen und Beträge, aus denen sich ein angeblicher Gesamtwert des Containerinhalts zwischen 20.000€ und 35.000€ ergab, wodurch Einfuhrabgaben nur in einer solchen Höhe entstanden, dass neben den übrigen Kosten für A und seine Mittäter ein Gewinn übrig blieb.
15A war bekannt, dass die tatsächlichen Warenwerte deutlich darüber lagen; die genaue Höhe und die sich aus der abweichenden Wertangabe ergebende Hinterziehung von Zoll und Umsatzsteuer nahm ег der Höhe nach jedenfalls billigend in Kauf.
16Zum Nachweis dieser angeblichen - tatsächlich deutlich zu geringen – Warenmengen und Warenwerte erstellte A für die Zollabfertigung Rechnungen (und Packlisten), die als Aussteller entweder eine Firma M oder eine Firma L erkennen ließen, beide mit angeblichem Sitz in Hongkong. Tatsächlich handelte es sich hierbei jedoch nicht um die wahren Lieferanten, sondern lediglich um sogenannte Briefkastenfirmen ohne tatsächliche Geschäftstätigkeit.
17Als Besteller der Waren war aus den Zollpapieren und den Rechnungen eine Firma O GmbH mit angeblichem Sitz auf der Straße 00 in X-Stadt am Rhein vermerkt. Diese hatte A am 19.01.2011 durch seinen Freund P und seine Ehefrau als anteilsgleiche Gesellschafter gründen lassen; offizieller Geschäftsführer war der P. Spätestens ab August 2011 entfaltete diese Gesellschaft, deren faktischer Geschäftsführer A war, keinerlei Geschäftstätigkeit mehr. Vielmehr erfolgte die Organisation der Lieferungen durch den A und E in den Räumen der G in Y-Stadt.
18Auf Rechnungspapieren der O GmbH wurde die Lieferung der angeblichen Warenmengen - auf Zuruf durch die tatsächlichen Abnehmerfirmen in Italien – an verschiedene Firmen weiter berechnet, u.a. ап die Firmen Q und R S.R.L. in Italien oder die Firmen S GmbH und T in Z-Stadt. Die in diesen Rechnungen ausgewiesenen Kaufpreise wurden von den jeweiligen Firmen auf das Geschäftskonto der Firma O überwiesen, von dort entsprechend den Scheinrechnungen der Firmen M Limited und N Limited auf deren Geschäftskonten. Von dort aus wurden sie an die tatsächlichen Verkäufer weitergeleitet.
19Wie die Differenzbeträge zu den tatsächlich zwischen den italienischen und chinesischen Firmen vereinbarten Kaufpreisen beglichen wurden, konnte in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden.
20Die nicht von den Ausgangsrechnungen der O GmbH erfassten, aber tatsächlich nach Italien gelieferten Waren wurden dort - wie A bekannt war - „schwarz“ verkauft.
21In Absprache mit dem Angeklagten stellte E (oder im Falle von dessen Verhinderung ein sonstiger Mitarbeiter der G) die für die Zollabfertigung erforderlichen (falschen) Unterlagen zusammen und reichte diese über den Zolldienstleister, die U GmbH, beim ZA ein. Dort half L (im Falle von dessen Verhinderung ggf. auch weitere Zollbeamte) mit, die Waren jeglicher Zollkontrolle zu entziehen, die Zollverfahren auf unzulässige Weise zu beenden und die Taten gegen Entdeckung zu schützen. Sie erledigten das sogenannte Zollversandverfahren im Zusammenhang mit dem T1-Formular und bestätigten die Zollabfertigung mit den zu niedrigen Warenwerten, obwohl sie wussten, dass die Container in den allermeisten Fällen gar nicht beim ZA vorgeführt wurden. In den wenigen Fällen, in denen die Container tatsächlich beim ZA waren, nahmen die Beamten nicht die erforderlichen Kontrollmaßnahmen vor.
22Im Urteil folgt eine Aufstellung der Tattage, Containernummern, tatsächlichen Warenwerte, Zölle und Einfuhrumsatzsteuern (EUSt), gemeldeten Warenwerte, entstandenen Zölle und Einfuhrumsatzsteuern sowie der verkürzten Zölle, Einfuhrumsatzsteuern und Gesamtabgaben, die den Angaben zu einzelnen Containern der Datei „Auswertetabelle O_AH_China_10_18 – 73%“ des ZFA entspricht.
23Mit weiterem rechtskräftig gewordenen Urteil vom 24.01.2020, .Az… verurteilte das LG den L wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Schmuggel in 230 Fällen, davon in 174 Fällen in Tateinheit mit Untreue, sowie wegen der Verletzung des Dienstgeheimnisses und einen weiteren Beamten des ZA wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in 31 Fällen, davon in 26 Fällen in Tateinheit mit Untreue zu Freiheitsstrafen. Die Verurteilungen betrafen auch hier streitige Vorgänge.
24Mit der Eröffnung der Versandverfahren für die einzelnen Container beauftragte die G die Klägerin, mit der Überführung der Waren in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr beim ZA die U GmbH, die sich hierfür des ihr bewilligten vereinfachten Verfahrens bediente.
25Nach Ankunft der Waren in Rotterdam wurden diese von der Klägerin als Hauptverpflichtete zur Überführung in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren angemeldet, wobei als Versender und Empfänger die G und als Bestimmungsstelle das ZA angegeben waren. Für ihre Tätigkeit erhielt die Klägerin 27 oder 28 € je Sendung.
26Dennoch wies die G die ausschließlich von ihr beauftragten Frachtführer an, bis auf wenige Ausnahmen die Container nicht beim ZA zu gestellen, sondern sogleich ohne weiteren Halt zu ihr nach Y-Stadt zu befördern, indem sie den Frachtführer im schriftlichen Transportauftrag „Direktanlieferung in Y-Stadt – Ware muss nicht beim Zoll gestellt werden (kein Multistopp)“ oder „Container wird in Y-Stadt mit T-1 gestellt!“ angab. Ganz selten wies sie die Frachtführer auch nur per E-Mail an, sie direkt zu beliefern. Zudem gab die G in den schriftlichen Frachtaufträgen an, dass die Leercontainer wieder zu bestimmten Orten in den Niederlanden zurückzubringen seien.
27Sofern in anderen, hier mit Ausnahme des Falls 77 nicht streitgegenständlichen Sendungen eine Gestellung beim ZA bestimmt wurde, erging eine ausdrückliche schriftliche Weisung an die Frachtführer wie beispielsweise „Container muss beim Zoll in X-Stadt (... Str. 1 Herr L) gestellt werden.“
28Die Container wurden nach den von der G erteilten Frachtaufträgen zu ihr nach Y-Stadt gefahren. Dort wurden die Container entladen (s. Vermerk des A nach seiner Vernehmung, Bl. 16, SH 5 Vernehmungen Bd. 3) und der G das Versandbegleitdokument übergeben. E oder ein anderer Mitarbeiter der G übermittelten L sodann die für die systemtechnische Beendigung erforderlichen Daten, insbesondere die Versandreferenznummer (MRN). Damit konnten die Versandverfahren ohne Gestellung beim ZA von L, bei dessen Abwesenheit von seinem Vertreter beendet und im IT-System-Atlas eingetragen werden, so dass die Abgangsstelle in Rotterdam von einer ordnungsgemäßen Beendigung des Versandverfahrens ausgehen konnte.
29In der Folgezeit meldete die U GmbH im Namen der O die Waren zur Überführung in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr an, dem das ZA antragsgemäß stattgab und auf Grund der vorgelegten unterfakturierten Rechnungen Zoll und Einfuhrumsatzsteuer (EUSt) festsetzte.
30Auf Grund von Hinweisen aus eigenen früheren Ermittlungsverfahren stieß das Zollfahndungsamt V-Stadt (ZFA) auf die G und deren Aktivitäten, mit denen im Wesentlichen auf zunächst drei, später sechs verschiedenen Lieferschienen Waren aus der VR China in die EU unter weitgehender Vermeidung der gesetzlich geschuldeten Einfuhrabgaben an unterschiedliche Empfänger in der EU gelangten.
31Die im März 2013 vom ZFA über die Staatsanwaltschaft W-Stadt beantragten Durchsuchungsbeschlüsse wurden mit Vorgängen des späteren Ermittlungskomplexes Steuermann I sowie mit Importen über die Niederlande, an denen die Firmen des späteren Ermittlungskomplexes Steuermann III nicht beteiligt waren, begründet. Am 13.05.2014 fanden die Durchsuchungsmaßnahmen statt. Auf Vorschlag des ZFA verfügte die Staatsanwaltschaft W-Stadt am 09.06.2015, dass das zuvor gemeinsam betriebene Ermittlungsverfahren in drei verschiedene Ermittlungskomplexe (EK Steuermann I bis III) geteilt und jeder der Komplexe getrennt verfolgt werden sollte. Der dem Streitfall zu Grunde liegende Ermittlungskomplex EK Steuermann III, in dem die O die Waren zur Überführung in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr anmeldete, musste am 09.06.2015 noch in seinen wesentlichen Teilen aufgeklärt werden. Im Rahmen dieser Ermittlungen wirkte A an der Aufklärung mit und sagte schon vor seiner Hauptverhandlung vor dem Landgericht W-Stadt am 29.05.2018 gegenüber dem ZFA umfassend aus.
32Einfuhrabgabenbescheide
33Der Beklagte nahm wegen der Einfuhren, die Gegenstand es o.a. Strafurteils des LG gegen A waren, u.a. die Klägerin mit Einfuhrabgabenbescheiden
34vom 21.11.2018 (Fallpaket 4) auf 193.354,36 € Zoll und 346.348,43 € EUSt,
35vom 23.11.2018 (Fallpaket 5) auf 16.025,67 € Zoll und 28.418,85 € EUSt,
36vom 29.11.2018 (Fallpaket 6) auf 92.398,92 € Zoll und 163.854,09 € EUSt,
37vom 29.11.2018 (Fallpaket 7) auf 13.686,20 € Zoll und 24.270,02 € EUSt,
38vom 04.12.2018 (Fallpaket 8) auf 624.031,77 € Zoll und 1.730.648,17 € EUSt,
39vom 29.11.2018 (Fallpaket 9) auf 420.264,01 € Zoll und 747.280,31 € EUSt und
40vom 22.11.2018 (Fallpaket 10) auf 53.510,69 € Zoll und 94.892,30 € EUSt
41in Anspruch.
42Dazu führte er aus, die Klägerin sei für bestimmte, in der jeweiligen Anlage des Bescheids aufgeführte Sendungen vom 30.08.2011 bis zum 06.05.2014, die in das interne gemeinschaftliche Versandverfahren übergeführt worden seien, als Hauptverpflichtete Schuldnerin der Abgaben geworden, da die der Klägerin überlassenen Waren weder der Bestimmungsstelle, dem ZA, noch sonst gestellt worden seien, sondern zur G nach Y-Stadt verbracht worden seien. Gleichwohl sei durch einen Bediensteten des ZA die Beendigung des Versandverfahrens bestätigt worden, obwohl die Ware nicht auf dem Amtsplatz des ZA gestellt worden sei. Dadurch seien die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Ein früherer Zeitpunkt einer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung habe nicht festgestellt werden können.
43Die Zollschuld sei in Deutschland entstanden, da dort die Entziehungshandlung, die Vortäuschung der Gestellung durch Beendigung der Versandverfahren, geschehen sei.
44Neben der Klägerin seien die handelnden Zollbeamten, die beteiligten Mitarbeiter der G und der jeweilige Frachtführer als Gesamtschuldner in Anspruch genommen worden.
45Einspruch gegen Einfuhrabgabenbescheide
46Zur Begründung ihrer gegen diese Bescheide fristgerecht eingelegten Einsprüche trug die Klägerin vor, tatsächliche Feststellungen zur Nichtgestellung habe das ZFA nicht getroffen. Die Fallakten zu den Fällen 4, 14, 20, 25, 43 und 45 (Fallpaket 4), 77, 80, 85, 88, 93, 100, 102, 103, 108, 111, 113, 120 (Fallpaket 8) enthielten in den ATLAS-Ausdrucken ein Wiedergestellungsdatum mit Angaben zu Befunden und die Dauer von Kontrollmaßnahmen. Daher sei insoweit von einer Gestellung auszugehen.
47Das ZFA habe auch nicht festgestellt, dass sie, die Klägerin, an den kriminellen Aktivitäten der G oder weiterer Personen beteiligt gewesen sei oder davon gewusst habe. Der Beklagte sei für den Erlass der Einfuhrabgabenbescheide nicht zuständig gewesen, weil die Zollschuld nach Art. 215 Abs. 1, 203 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2913/92 (EWG) des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ZK) in den Niederlanden mit der Anmeldung zum Versandverfahren entstanden sei. Die Waren seien nach der Darstellung des Beklagten bereits vor der ordnungswidrigen Beendigung der Versandverfahren durch L der zollamtlichen Überwachung entzogen worden. Nach dem Plan der Täter um die G sei es von Anfang an nur darum gegangen, eine Gestellung zu vermeiden, so dass eine zollamtliche Überwachung zu keinem Zeitpunkt gegeben gewesen sei. Die von L (und seinem Vertreter) vorgetäuschte Gestellung sei auch nach dem Schlussbericht des ZFA (zu EK Steuermann I) nur der letztmögliche Zeitpunkt für eine Entziehung der Ware aus der zollamtlichen Überwachung. Auch zuvor habe nur theoretisch die Möglichkeit einer Gestellung bestanden.
48In Deutschland sei allenfalls eine Zollschuld durch die Anmeldung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr entstanden. Deren Schuldner sei aber nur die Anmelderin. Die für die Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung erforderlichen Realakte seien nicht festgestellt worden. Allein die Weisung an den Frachtführer, die Ware von Rotterdam nach Y-Stadt zu befördern, stelle keinen derartigen Realakt dar, denn die Beteiligten seien frei, den Transportweg nach ihren wirtschaftlichen Interessen festzulegen.
49Zudem sei die Nacherhebung nach Art. 221 Abs. 4 ZK in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) verjährt, denn nach Sinn und Zweck der Verlängerung der Verjährung gelte dies nur für die Beteiligten, die an der strafbaren Handlung beteiligt gewesen seien. Im Hinblick auf Regelungen wie in Art. 210 Abs. 3 2. Anstrich ZK sei die Vorschrift unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Verlängerung der Verjährungsfrist nur für Personen gelte, die Täter seien. Folge man dem nicht, sei sie nach § 169 Abs. 2 Satz 3 2. Halbsatz AO exkulpiert, denn sie habe durch die Tat weder einen Vermögensvorteil erlangt noch fahrlässig gehandelt.
50Mit Erlassbescheid vom 06.03.2019 erließ der Beklagte der Klägerin für den Vorgang der Fallakte 90 (Fallpaket 9), für den mit Einfuhrabgabenbescheid vom 29.11.2018 Abgaben erhoben worden waren, 69.317,71 € Zoll und 122.923,41 € EUSt.
51Erlassanträge wegen besonderer Umstände
52Am 03. und 04.04.2019 beantragte die Klägerin für die streitgegenständlichen Einfuhrabgabenbescheide den Erlass der Einfuhrabgaben, da die Voraussetzungen für einen Erlass nach Art. 239 ZK bzw. Art. 120 Abs. 1 UZK wegen besonderer Umstände vorlägen. Hierbei wiederholte sie zum einen ihren Vortrag gegen die Entstehung der Einfuhrabgabenschuld und führte zum anderen aus, dass das ZFA eine Beteiligung von ihr oder nur eine Kenntnis der kriminellen Aktivitäten der G nicht festgestellt habe.
53Besondere Umstände seien darin zu sehen, dass das ZFA sie nicht über die kriminellen Aktivitäten der G informiert habe und dass die ordnungsgemäße Beendigung der Versandverfahren durch Zollbeamte in betrügerischer Absicht herbeigeführt worden sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts (EuG) stelle die ordnungswidrige Beendigung eines Versandverfahrens in betrügerischer Absicht einen besonderen Umstand dar. Sie sei im ATLAS-System über die Beendigung der Versandverfahren informiert worden. Die Eintragungen dort lägen außerhalb ihres Verantwortungs- und Einflussbereichs. Vielmehr habe sie auf ein ordnungsgemäßes Verhalten der Zollbeamten vertrauen können.
54Schließlich stelle auch ihre Inanspruchnahme mehr als fünf Jahre seit der Entstehung der Einfuhrabgabenschuld einen besonderen Umstand dar.
55Sie habe auch nicht mit betrügerischer Absicht oder offensichtlich fahrlässig gehandelt.
56Einspruchsentscheidungen – Einfuhrabgabenbescheide
57Mit Einspruchsentscheidung vom 03.06.2020 wies der Beklagte die Einsprüche der Klägerin gegen die angefochtenen Einfuhrabgabenbescheide hinsichtlich der Fallpakete 4 bis 8 und 10 als unbegründet zurück, mit Einspruchsentscheidung vom 15.07.2020 den Einspruch der Klägerin gegen den Einfuhrabgabenbescheid vom 29.11.2020 (Fallpaket 9): Die Zollschuld sei, da eine Gestellung nicht stattgefunden habe, durch die fingierte Beendigung des Versandverfahrens in Deutschland entstanden. Dadurch seien die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden, weil spätestens von diesem Zeitpunkt an der tatsächliche Aufenthaltsort und Verbleib der Waren für die Zollbehörden nicht mehr zu ermitteln gewesen sei. Ihrer Verpflichtung als Hauptverpflichtete, die Waren unverändert der Bestimmungsstelle zu gestellen, sei die Klägerin nicht nachgekommen.
58Eine Information über die Betrugsgefahr sei ihm schon wegen seiner Pflicht, das Steuergeheimnis zu wahren, nicht möglich gewesen. Zudem seien die Ermittlungen erst im Februar 2014 aufgenommen worden. Zu diesem Zeitpunkt seien schon die meisten der streitgegenständlichen Versandverfahren beendet gewesen.
59Soweit eine E-Mail von E an L mit dem Versandpapier festgestellt worden sei, sei nach Angaben des L in seiner Vernehmung vom 11.12.2014 davon auszugehen, dass keine tatsächliche Gestellung beim ZA stattgefunden habe. Selbst in den Fällen, in denen in ATLAS ein Befund und eine Bearbeitungsdauer eingetragen gewesen seien, habe keine tatsächliche Gestellung stattgefunden. L habe insoweit angegeben, dass E Warenmuster zur Dienststelle gebracht habe, da keine Probenziehung von Amts wegen erfolgt sei. Zudem sei in den Transportaufträgen immer ausdrücklich der Zielort angegeben worden und nur dann, wenn der Container nach X-Stadt habe gefahren werden sollen, sei es so ausdrücklich angeordnet worden.
60Auch seien die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Festsetzungsfrist gegeben. Die Inanspruchnahme der Klägerin sei im Hinblick auf ihre besondere Garantenstellung als Hauptverpflichtete erfolgt und diene mit allen in Betracht kommenden Schuldnern der Sicherstellung einer raschen und sicheren Abgabenerhebung.
61Schließlich seien die Abgaben in zutreffender Höhe festgesetzt worden. Insoweit habe von den Zollanmeldungen ausgegangen werden müssen. Daneben habe eine im Kern zutreffende Benennung der Zolltarifposition durch E angenommen werden können, weil damit die Gefahr zumindest einer groben Sichtung der jeweiligen Container durch nicht in das System der G eingebundene Zollbeamte habe vermieden werden können. Zudem sei das LG im Strafurteil gegen A von den angenommenen Warenmengen und –werten überzeugt gewesen.
62Für die Erhebung der EUSt seien die Vorschriften für Zölle entsprechend anwendbar.
63Mit Erlassbescheid vom 03.06.2020 erließ der Beklagte die Einfuhrabgabenfestsetzung für den Fall 15 des Fallpakets 4 (16.008,09 € Zoll und 28.387,68 € EUSt), da insoweit eine Gestellung beim ZA aufgrund ausdrücklicher Weisung anzunehmen sei.
64Mit Erlassbescheid vom 15.07.2020 erließ der Beklagte der Klägerin für die Fälle 10 und 11 (Fallpaket 9), für den mit Einfuhrabgabenbescheid vom 29.11.2018 Abgaben erhoben worden waren, 89.218,37 € Zoll und 158.213,91 € EUSt, da insoweit eine eindeutige Anweisung zur Gestellung beim ZA vorgelegen habe.
65Klageverfahren gegen Einfuhrabgabenbescheide
66Gegen die Einfuhrabgabenbescheide in der Gestalt der Einspruchsentscheidungen und ermäßigt durch Erlassbescheide vom 03.06.2020 und vom 15.07.2020 erhob die Klägerin fristgerecht Klagen, die unter den Aktenzeichen 4 K 1645/20 Z,EU und 4 K 2060/20 Z,EU anhängig sind und über die noch nicht entschieden worden ist.
67Zur Begründung der Klageverfahren wiederholte sie ihr bisheriges Vorbringen und trug ergänzend vor, sie sei von den Zollbehörden nicht über die von der G ausgehende Betrugsgefahr unterrichtet worden, obwohl die Zollbehörden spätestens seit 2013 gewusst hätten, dass die G in krimineller Absicht über das ZA Warenlieferungen abgewickelt habe. Nur deshalb sei sie in Anspruch genommen worden.
68Die Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung habe schon in den Niederlanden stattgefunden, da schon dort die wirtschaftlich sinnvolle Route von Rotterdam nach X-Stadt verlassen worden sei, als die LKW nach Y-Stadt gefahren seien und dabei eine wesentlich südlicher gelegene Route genommen hätten.
69Zudem habe der Beklagte unberücksichtigt gelassen, dass ihr die Einfuhrabgaben mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Art. 239 ZK zu erlassen seien, weil an den Zuwiderhandlungen Zollbeamte beteiligt gewesen seien.
70Darüber hinaus habe der Beklagte sein Auswahlermessen nach Art. 213 ZK unzutreffend ausgeübt, weil sie anders als die Straftäter an den Straftaten unbeteiligt gewesen sei und weil auch die Bundesrepublik Deutschland durch die Taten des L (und seines Vertreters) Einfuhrabgabenschuldnerin geworden sei.
71In den Klageverfahren hielt der Beklagte an den Ausführungen in seinen Einspruchsentscheidungen fest.
72Ablehnung der Erlassanträge
73Mit Bescheiden vom 04.06.2021 lehnte der Beklagte die Erlassanträge für den Erlass der Einfuhrabgaben aus der Inanspruchnahme für Fälle der Fallpakete 4-8 und 10 einerseits und für Fälle des Fallpakets 9 andererseits ab und führte dazu aus: Der Klägerin stehe ein Erlass nicht zu, weil sie offensichtlich fahrlässig gehandelt habe. Die Vorschriften über die Durchführung von Versandverfahren seien nicht komplex und die Klägerin sei als ein europaweit aktives Zolldienstleistungsunternehmen eine erfahrene Wirtschaftsbeteiligte. Sie habe aber nicht mit einer ihrer Erfahrung angemessenen Sorgfalt in Bezug auf die Beachtung der zollrechtlichen Bestimmungen gehandelt. Sie habe die Frachtführer für die Beförderung der Ware nicht selbst ausgewählt. Zwar wäre es hinzunehmen, dass sie, wenn sie die Beförderung der Ware nicht selbst durchführe, die Ware durch von ihr beauftragte Subunternehmen befördern lasse. Hier aber habe die Klägerin die Auswahl des Frachtführers vollständig aus den Händen gegeben. Insoweit sei noch nicht einmal gesichert, ob sie die Frachtführer, die tatsächlich die Beförderung der Waren übernommen hätten, überhaupt gekannt habe. Sie habe jedes von der G beauftragte Unternehmen akzeptiert. Wie die G den Transport der Waren organisiert habe, sei der Klägerin nicht mitgeteilt worden. Da sie faktisch keine Einwirkung- und Kontrollmöglichkeiten gehabt habe, könne nicht mehr von einem sorgfältigen Verhalten ausgegangen werden.
74Die Klägerin habe auch keine sonstigen Maßnahmen ergriffen, mithilfe derer sie die Erfüllung der ihr obliegenden Gestellungspflicht hätte sicherstellen können. Sofern ihr die Frachtführer bekannt gewesen wären, hätte sie diese auf die sich aus der Art der Waren ergebende Pflicht einer unmittelbaren Gestellung bei einer Zollstelle hinweisen können und zudem noch stichprobenartig Kontrollen vornehmen können. Zudem hätte sie sich beim Frachtführer selbst über den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens rückversichern können.
75Insoweit werde auf das EuGH-Urteil vom 29.04.2004, C-222/01, Rz. 71 und die Urteile des Senats vom 13. Juni 2007,4 K 4456/05, und des Hessischen Finanzgerichts vom 23. Januar 2007, 7 K 4445/03 hingewiesen. Wenn danach bei einem Hauptverpflichteten, der die Frachtführer selbst auswähle, eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Frachtführer für das Fehlen offensichtlicher Fahrlässigkeit vorausgesetzt werde, so müssten die Anforderungen an einen Hauptverpflichteten, der die Auswahl der Frachtführer aus den Händen gegeben habe, nochmals höher angesetzt werden. In diesem Fall hätte die Klägerin Vorkehrungen treffen und Kontrollinstrumente zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Gestellung durch den Warenführer einrichten müssen.
76Zudem seien in den Versandbegleitdokumenten keine Eintragungen der Kennzeichen der befördernden Kraftfahrzeuge eingetragen worden, obwohl diese Eintragungen verpflichtend seien, Art. 341 ZKDVO i.V.m. Anhang 37. Darauf habe auch nicht verzichtet werden können, sodass die Klägerin gegen ihre Pflichten als Hauptverpflichtete verstoßen habe. Aus dem Urteil des EuG vom 13.09.2005, T-53/02, Rz. 120 ergebe sich, dass auch ein derartiger Verstoß einen Umstand darstellen könne, der die offensichtliche Fahrlässigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers begründe.
77Bei der Beurteilung der Sorgfalt, die die Klägerin als Hauptverpflichtete hätte anwenden müssen, sei auch die Art der zu befördernden Ware von besonderer Bedeutung (EuGH Urteil vom 29.04.2004, C-222/01). Die in den eröffneten Versandverfahren beförderten Waren hätten ganz überwiegend aus Textilien mit Ursprung in der VR China bestanden, für die ein Zollsatz von 12 % gegolten habe. Damals sei auch bekannt gewesen, dass dieser Warenkreis zollrechtlich risikobehaftet gewesen sei, sodass der tatsächlichen Begutachtung der Waren eine besondere Bedeutung zugekommen sei.
78Zudem gebe es eine Ursächlichkeit zwischen den Pflichtverletzungen und dem Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung. Hierfür genüge es, wenn die Fahrlässigkeit dazu beigetragen oder es erleichtert habe, dass eine Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sei. Bei ordnungsgemäßer Verhaltensweise hätte die Klägerin auf die tatsächliche Gestellung der Waren beim ZA hinwirken können und so entweder die Entziehung der Waren aus der zollamtlichen Überwachung verhindern oder zumindest eine frühere Aufdeckung der Missstände bewirken können. Alternativ hätte sich die Klägerin zumindest durch Übergabebescheinigungen an die Frachtführer, mit denen ein Pflichtenübergang zur Gestellung der Ware bei der Bestimmungsstelle dokumentiert worden wäre, exkulpieren können.
79Zur Begründung ihrer fristgerecht erhobenen Sprungklagen, denen der Beklagte auch fristgerecht zugestimmt hat und die in der mündlichen Verhandlung zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden sind, trägt die Klägerin vor: Sie habe Anspruch auf Erlass der Einfuhrabgaben nach Art. 120 UZK. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebe sich, dass ein Zusammenhang zwischen der dem Wirtschaftsteilnehmer vorgeworfenen Fahrlässigkeit und dem festgestellten besonderen Fall bestehen müsse. Diesen tatsächlich nicht gegebenen Zusammenhang müsse der Beklagte darlegen und beweisen.
80Ein Versandverfahren sei nur dann nicht schwierig zu handhaben, wenn es ein funktionierendes System gebe. Dazu gehöre auch ein Vertrauen in die Richtigkeit der in dem System enthaltenen Daten, insbesondere in Bezug auf die von der Zollverwaltung stammenden Daten. Wenn ein Hauptverpflichteter nicht davon ausgehen könne, dass die zollamtlichen Eintragungen über die Wiedergestellung über jeden Zweifel erhaben seien, sei das Versandverfahren sehr schwierig zu handhaben. Nur dann müsse sich der Hauptverpflichtete in jedem Fall von der Wiedergestellung überzeugen. Praktisch müsse er jedes Versandverfahren hinsichtlich des Transports persönlich begleiten. Dann wäre auch die Praktikabilität dieses Verfahrens nicht mehr gewährleistet. Nur in diesem Fall könne man, wie es der Beklagte als Fahrlässigkeitsvorwurf fordere, an eine Pflicht des Hauptverpflichteten denken, den Frachtführer zu kontrollieren und sich der Wiedergestellung zu vergewissern.
81Nachdem die G nach der Ankunft der Ware in Y-Stadt dem L das Versandbegleitdokument übermittelt habe, habe dieser im System eine ordnungsgemäße Wiedergestellung beim ZA eingetragen. Damit sei nicht nur die Abgangsstelle in Rotterdam, sondern auch sie von einer ordnungsgemäßen Beendigung des Verfahrens ausgegangen.
82Insoweit sei es gleichgültig gewesen, welcher Frachtführer das Versandgut befördert habe. Das System des L habe bei jedem Frachtführer funktioniert. Daher sei die Auswahl des Frachtführers nicht ursächlich für den ihr vorgeworfenen zollrechtlichen Verstoß. Sie habe gegenüber dem Frachtführer kein Weisungsrecht gehabt. Das wäre nur dann der Fall gewesen, wenn sie selbst den Transport organisiert hätte. Tatsächlich aber sei dies durch die G geschehen. Wenn diese den Frachtführer angewiesen habe, die Ware nach Y-Stadt zu bringen, habe der Frachtführer dies zivilrechtlich zu tun. Auch insoweit sei ihr Verhalten für die Pflichtverletzung nicht ursächlich.
83Anders als im Streitfall habe der Hauptverpflichtete im Fall des EuGH-Urteils vom 29.04.2004, C-222/01, selbst den Transport dem Frachtführer übergeben. Das sei auch Gegenstand des Senatsurteils vom 13. Juni 2007, 4 K 4456/05 und des Urteils des Hessischen Finanzgerichts vom 23. Januar 2007, 7 K 4445/03. Die als Frachtführer beauftragte Firma AA sei ein etabliertes Unternehmen gewesen, das seit 1974 tätig gewesen sei und seinen Stammsitz wie sie in Rotterdam gehabt habe. Auch sei die AA als AEO von der niederländischen Zollverwaltung zertifiziert. Zudem kenne diese Firma die Vorschriften des Versandverfahrens genau.
84Die betrügerische Tätigkeit des L und der G habe unabhängig davon funktioniert, ob in den Versandbegleitdokumenten ein LKW-Kennzeichen eingetragen gewesen sei oder nicht. Insoweit wäre diese Pflichtverletzung nicht ursächlich gewesen. Tatsächlich sei auch die Eintragung eines LKW-Kennzeichens bei Containertransporten nicht zwingend, denn das Versandgut sei bereits durch den Container umschlossen und jeder Container könne anhand seiner Containernummer zweifelsfrei identifiziert werden.
85Textilien aus der VR China gehörten nicht zu den Risikogütern (Anhang 71-02 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union – UZK-DVO). L – die Klägerin – habe auch nicht offensichtlich fahrlässig gehandelt. Üblicherweise wende sich ein Auftraggeber wie die G an einen Spediteur, der die gewünschte Beförderung nicht selbst und mit eigenem Personal durchführe, sondern nur organisiere. So sei es hier gewesen. Eine direkte Kommunikation zwischen Hauptverpflichteten und Frachtführern gebe es üblicherweise nicht. Daher sei es nicht offensichtlich fahrlässig gewesen, dass sie den Auftrag zur Eröffnung von Versandverfahren von der G bekommen habe und die G den Frachtführer beauftragt habe. Anders als der Beklagte meine, hätte sie jederzeit die Eröffnung eines Versandverfahrens für einen von der G vorgesehenen Frachtführer ablehnen können, wenn dieser aus ihrer Sicht unzuverlässig erschienen wäre. Dies entspreche auch ihren seinerzeitigen internen Abläufen.
86Sie habe auch immer auf die von der Bestimmungsstelle stammenden Daten vertraut. Alles andere sei für sie abwegig gewesen. Insoweit könne dieses Vertrauen nicht als offensichtlich fahrlässig beurteilt werden. Eine Verpflichtung, den Frachtführer nochmals gesondert auf seine Pflichten hinzuweisen und sich über den ordnungsgemäßen Ablauf zu versichern, gebe es nicht. Schließlich habe L die ordnungsgemäße Gestellung verhindert, aber gleichwohl eine ordnungsgemäße Verfahrensbeendigung in das System eingetragen. Alle Teilnehmer am Versandverfahren müssten darauf vertrauen können, dass die Zollbehörden keine vorsätzlichen falschen Beurkundungen und keine vorsätzlich falschen Eintragungen in das System vornähmen. Anders könne das Versandverfahren nicht funktionieren. Daher gebe es auch keine Organisations- und Überwachungspflichten eines Hauptverpflichteten in dieser Hinsicht. Tatsächlich sei die dauerhafte Hinterziehung von Einfuhrabgaben den Mitarbeitern der G und den Zollbeamten wie L nur deshalb möglich gewesen, weil sie die Hauptverpflichteten nicht über ihr tatsächliches Vorgehen in Kenntnis gesetzt hätten.
87Die Beförderung von Textilien aus der VR China habe nicht zu höheren Anforderungen an ihr Tätigwerden geführt, da täglich enorme Mengen dieser Waren in die EU eingeführt würden, ohne dass insoweit ein Generalverdacht bestehe.
88Hier lägen besondere Umstände vor, da Zuwiderhandlungen gegen Unionszollverfahren von Zollbehörden selbst begangen worden seien.
89Ein Anspruch auf Erlass ergebe sich auch aus Art. 119 Abs. 1 UZK. Ein Irrtum im Sinne dieser Vorschrift liege auch dann vor, wenn ein Zollbeamter wie L wissentlich und willentlich einen unzutreffenden Sachverhalt dokumentiert habe, indem er fälschlich die Wiedergestellung der Waren im System eingetragen habe.
90Sie habe nicht gewusst, dass die Waren nicht gestellt und unterfakturiert gewesen seien. Beide Umstände seien ihr auch nicht erkennbar gewesen. Sie habe gutgläubig gehandelt, da sie auf die Angaben des Zolls im Versandverfahren habe vertrauen können, dass die Waren ordnungsgemäß gestellt worden seien und dass das Versandverfahren ordnungsgemäß erledigt worden sei.
91Das Gericht sei auch berechtigt, in der Sache selbst zu entscheiden und nicht nur den Beklagten zu verurteilen, den Rechtsstreit zur Entscheidung über den Erlassantrag der Kommission vorzulegen. Die Kommission habe nämlich mit Entscheidungen vom 18.02.1998, REM 14/1997 und vom 12.12.1997, REM 07/1997 entschieden, dass in dem Fall, in dem ein Zollbediensteter vorsätzlich falsche Angaben mache, eine Erstattung möglich sei.
92Die Klägerin beantragt,
93den Beklagten unter Aufhebung seiner ablehnenden Entscheidungen vom 4. Juni 2021 zu verpflichten, die Einfuhrabgaben, die mit den Einfuhrabgabenbescheiden vom 21. November 2018 (Fallpaket 4), vom 23. November 2018 (Fallpaket 5), vom 29. November 2018 (Fallpaket 6), vom 29. November 2018 (Fallpaket 7), vom 4. Dezember 2018 (Fallpaket 8), vom 29. November 2018 (Fallpaket 9) und vom 22. November 2018 (Fallpaket 10) festgesetzt und nicht durch die Erlassbescheide vom 6. März 2019 für den Vorgang der Fallakte 90 (Fallpaket 9), vom 3. Juni 2020 für den Vorgang der Fallakte 15 (Fallpaket 4) und vom 15. Juli 2020 für die Vorgänge der Fallakten 10 und 11 (Fallpaket 9) schon erlassen worden sind, zu erlassen.
94Der Beklagte beantragt,
95die Klage abzuweisen,
96und verweist zur Begründung auf seine ablehnenden Bescheide.
97Entscheidungsgründe
98Die Klage ist begründet.
99Die Klägerin hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Erlass der Einfuhrabgaben, die mit den im Klageantrag genannten Einfuhrabgabenbescheiden vom 21.11.2018 bis zum 04.12.2018 festgesetzt und nicht bereits durch die Erlassbescheide vom 06.03.2019 und vom 03.06. und 15.07.2020 erlassen worden sind. Die ablehnenden Bescheide des Beklagten vom 04.06.2021 waren daher aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, den Erlass auszusprechen, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
1001. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind Verfahrensvorschriften grundsätzlich auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar, während materiell-rechtliche Vorschriften gewöhnlich so ausgelegt werden, dass sie nicht für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte gelten (s. EuGH Urteil v. 07.11.2018, C-432/17, Rz. 26). Daher richtet sich das Verfahren der Erhebung der streitigen Abgaben nach dem zum 01.05.2016 in Kraft getretenen UZK, während sich die Entstehung des Zolls und der Einfuhrumsatzsteuer, die Verjährung und die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Erlass dieser Abgaben aus den zuvor geltenden Vorschriften des ZK ergeben.
1012. Die Klägerin hat hinsichtlich der Festsetzung der Einfuhrabgaben im Bescheid vom 29. November 2018 (Fallpaket 9) für den Fall 77 Anspruch auf einen Erlass der Einfuhrabgaben nach Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 2 ZK in Verbindung mit § 14 Abs. 1 der Einfuhrumsatzsteuer-Befreiungsverordnung (EUStBV), denn diese Einfuhrabgaben (20.521,01 € Zoll und 36.390,60 € EUST) waren im Zeitpunkt ihrer buchmäßigen Erfassung nicht gesetzlich geschuldet.
102Der Beklagte hat mit den im Klageantrag genannten Bescheiden – bis auf den Fall 77 – die darin angeforderten Einfuhrabgaben nach Art. 101 Abs. 1 UZK zu Recht festgestellt und nach Art. 102 Abs. 3 UZK der Klägerin zu Recht mitgeteilt.
103Zwar waren im Streitfall die Einfuhrabgaben nach Art. 203 Abs. 1, Abs. 3 4. Anstrich, 216 Abs. 1 2. Anstrich ZK in Verbindung mit § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in Deutschland entstanden, denn die in den streitgegenständlichen Containern enthaltenen Waren wurden nach ihrer Überführung in das Versandverfahren der zollamtlichen Überwachung entzogen, indem sie auf dem Gelände der G in Y-Stadt aus den Containern entnommen und im Lager der G eingelagert wurden. Die Klägerin war als Hauptverplichtete eine Person, der aus der Inanspruchnahme der von ihr beantragten Versandverfahren Pflichten entstanden waren, die nicht erfüllt wurden. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den zwischen den Beteiligten ergangenen Senatsbeschluss vom 23.10.2020, 4 V 1645/20 Z,EU hingewiesen.
104Eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung hat grundsätzlich auch in den Fällen stattgefunden, in denen L die Versandverfahren nicht nur durch die Angabe der Wiedergestellung, sondern auch mit den weiteren Angaben eines Befundes und gegebenenfalls der Dauer einer Beschaumaßnahme erledigt hatte. In diesen Fällen stellte sich die Abwicklung der Geschäfte durch die G regelmäßig derart dar, dass sie den jeweiligen Frachtführer vor Freigabe der Waren im Versandverfahren mit einem Transportauftrag aufforderte, die Waren ihr unmittelbar und ohne Gestellung beim ZA mit T-1 nach Y-Stadt zu liefern, sie dort mit der Übernahme der Waren das Versandbegleitdokument nach Art. 358 Abs. 2 ZKDVO vom Fahrer erhielt und dann erst (sofort oder Tage später) an L per Mail schickte. Erst daraufhin konnte L die Versandverfahren erledigen. Da die Waren bereits entladen waren, konnten sie dem ZA nicht mehr gestellt werden. Die Container nahmen die Fahrer nämlich entsprechend dem zuvor erteilten Transportauftrag, der ausnahmslos die Rücknahme der Container und deren Transport nach Rotterdam oder zu genau bestimmten Abgabestellen vorsah, wieder mit.
105Hiervon abweichend steht nur im Fall 77 nicht fest, dass der Container nicht beim ZA gestellt wurde. Im Fall 77 wies die G den Frachtführer mit E-Mail vom 02.07.2013 an, den Container zur Beschau nach X-Stadt zu fahren, übersandte aber am gleichen Tag einen Frachtauftrag, in dem sie mitteilte, der Container sei ihr am 05.07.2013 um 08:00 Uhr in Y-Stadt zuzustellen und in Y-Stadt mit T-1 zu gestellen. Welcher Weisung der Frachtführer folgte, steht nicht sicher fest. Da der Container im Versandverfahren am 04.07.2013 um 16:55 Uhr in Rotterdam freigestellt wurde und das Versandverfahren am folgenden Tag beim ZA von L um 07:27 Uhr in ATLAS erledigt wurde, spricht mehr dafür, dass der Container erst nach der Gestellung beim ZA nach Y-Stadt befördert wurde. Dort dürfte er zwar nicht schon um 08:00 Uhr, sondern erst etwas später eingetroffen sein. Zudem liegt für diese Sendung keine E-Mail des E an L vor, mit der dieser L das Versandbegleitdokument nach dem Eintreffen in Y-Stadt übersandt hat. Bei der Annahme einer Gestellung beim ZA stellt das Fehlen dieser E-Mail ein Indiz für einen insoweit ordnungsgemäßen Verfahrensablauf dar, der nicht zu einer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung geführt hat.
1063. Die Klägerin hat weiter Anspruch auf einen Erlass der Einfuhrabgaben nach Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 2 ZK in Verbindung mit § 14 Abs. 1 EUStBV, soweit der Abgabenbetrag entgegen Art. 220 Abs. 2 ZK buchmäßig erfasst worden ist. Nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK erfolgt keine buchmäßige Erfassung, wenn der gesetzlich geschuldete Abgabenbetrag auf Grund eines Irrtums der Zollbehörden nicht buchmäßig erfasst worden ist, sofern dieser Irrtum vom Zollschuldner vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte und dieser gutgläubig gehandelt hat und alle geltenden Vorschriften über die Zollanmeldung eingehalten hat.
107Insoweit ist davon auszugehen, dass die im Streitfall von L und seinem Vertreter gepflegte Praxis, bestimmte Versandverfahren auch dann zu beenden, wenn die versandte Ware beim ZA nicht wieder gestellt worden ist, einen Irrtum im Sinne des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK jedenfalls der Abgangszollstelle in Rotterdam über die ordnungsgemäße Beendigung des jeweiligen Versandverfahrens darstellt, der für die gutgläubige Klägerin nicht erkennbar war, weil sie mit dem vorsätzlichen pflichtwidrigen Tun der Beamten des ZA nicht rechnen konnte.
108Zudem kann auch im Verhalten des L und seines Vertreters ein Irrtum im Sinne des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK liegen, denn auf die Beweggründe für die Entscheidung der Beamten des ZA, die Versandverfahren zu Unrecht zu beenden, kommt es insoweit nicht an.
109Die Klägerin hat auch alle geltenden Vorschriften über die Zollanmeldung eingehalten, denn sie war von der Eintragung des Beförderungsmittels in den Versandanmeldungen und in den Versandbegleitdokumenten befreit gewesen.
110Die von der Klägerin im Informatikverfahren erstellten Versandanmeldungen mussten nach Art. 353 Abs. 1 ZKDVO der Struktur und den Angaben in Anhang 37a ZKDVO entsprechen. Nach Titel I Abs. 1 Anhang 37a ZKDVO beruhen die Versandanmeldungen auf den gemäß den Anhängen 37 und 38 ZKDVO in die verschiedenen Felder des Einheitspapiers einzutragenden Angaben, die gegebenenfalls durch Codes ergänztoder ersetzt werden. Nach Titel II A. Anhang 37 für Feld 18 sind in das Feld 18 des Einheitspapiers das Kennzeichen des Beförderungsmittels, auf das die Waren bei den Förmlichkeiten des gemeinschaftlichen Versandverfahrens unmittelbar verladen werden, sowie die Staatszugehörigkeit des Beförderungsmittels einzutragen. Zudem bestimmt Titel I B. Anhang 37 in der Tabelle Spalte F, die für Versandverfahren gilt, für die Feldnummer 18, dass die Angaben dort mit der Verwendung des Buchstabens A (s. Symbole in den Feldern der Tabelle) obligatorisch sind.
111Allerdings erlaubte die Anmerkung [24] zu diesem Feld, dass bei Warenbeförderungen in Containern, die von Straßenfahrzeugen befördert werden, die Zollbehörden den Hauptverpflichteten ermächtigen können, das Feld 18 beim Abgang leer zu lassen, wenn aus logistischen Gründen zum Zeitpunkt der Erstellung der Versandanmeldung Kennzeichen und Staatsangehörigkeit nicht bekannt sind, sofern sie, d.h. die Zollbehörden, sicherstellen konnten, dass die richtigen Angaben zum Beförderungsmittel nachträglich in Feld 55 (Titel II B. Anhang 37) eingetragen wurden. Das Feld 55 betraf Umladungen.
112Das Versandbegleitdokument begleitete nach Art. 358 Abs. 2 ZKDVO die in das Versandverfahren übergeführten Waren nach Überlassung. Es musste dem Muster des Versandbegleitdokuments in Anhang 45a ZKDVO und hinsichtlich der in ihm zu machenden Angaben dem Anhang 45a ZKDVO entsprechen. Das Muster (Anhang 45a Kapitel I ZKDVO) enthielt das Feld 18 für Kennzeichen und Staatszugehörigkeit des Beförderungsmittels beim Abgang und das Feld 55 für Angaben zu Umladungen. Anhang 45a Kapitel II ZKDVO bestimmte unter Nr. 6. u.a. dass bei Warenbeförderungen in Containern, die von Straßenfahrzeugen befördert werden sollen, die Zollbehörden den Hauptverpflichteten ermächtigen können, das Feld 18 beim Abgang nicht auszufüllen, wenn aus logistischen Gründen zum Zeitpunkt der Erstellung der Versandanmeldung Kennzeichen und Staatsangehörigkeit nicht bekannt sind, sofern die Zollbehörden sicherstellen können, dass die richtigen Angaben zum Beförderungsmittel nachträglich in Feld 55 eingetragen werden.
113Im Streitfall waren Container von Straßenfahrzeugen zu befördern, wobei aus logistischen Gründen bei der Erstellung der Versandanmeldungen Kennzeichen und Staatsangehörigkeit des Beförderungsmittels nicht bekannt waren, denn die Klägerin beförderte die Waren nicht selbst. Damit waren nur die von der G beauftragten Frachtführer betraut. Zudem konnten die Zollbehörden sicherstellen, dass die richtigen Kennzeichen in Fällen der Umladung in Feld 55 eingetragen wurden.
114Bei dieser Sachlage stellen sich die Annahmen der Versandanmeldungen und die Erstellung der Versandbegleitdokumente durch die niederländischen Zollbehörden ohne Eintragungen in Feld 18 als Ermächtigung der jeweiligen Hauptverpflichteten dar, auf diese Angaben zu verzichten. Hierfür spricht auch, dass eine nachträgliche Änderung der Versandanmeldungen im NCTS tatsächlich nicht möglich war, von Hauptverpflichteten also Unmögliches verlangt worden wäre, wenn sie verpflichtet gewesen wären, Kennzeichen und Nationalität des Beförderungsmittels nachzutragen.
1154. Auch ist der von der Klägerin bereits gestellte und auf Art. 239 Abs. 1 2. Anstrich ZK in Verbindung mit Art. 905 Abs. 1 ZKDVO gestützte Erlassantrag begründet.
116Nach diesen Vorschriften werden Einfuhrabgaben erlassen, die sich aus besonderen Umständen ergeben, die nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen sind.
117Besondere Umstände im Sinne dieser Vorschriften, die zum Teil auch als besonderer Fall bezeichnet werden, sind anzunehmen, wenn sich der Wirtschaftsteilnehmer in einer Lage befindet, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist (ständige Rechtsprechung, s. EuGH Urteile v. 29.04.2004, C-222/01, Rz. 65; v. 22.03.2012, C-506/09 P, Rz. 65; v. 03.02.2021 C-92/20, Rz. 30). Sie sind auch anzunehmen, wenn es angesichts des Verhältnisses zwischen dem Wirtschaftsteilnehmer und der Verwaltung unbillig wäre, den Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden tragen zu lassen, den er bei rechtem Gang der Dinge nicht erlitten hätte (EuGH Urteil v. 29.04.2004, C-222/01, Rz. 63; EuG Urteil v. 7.6.2001, T-330/99, Rz. 52).
118Danach stellt die Beteiligung von Bediensteten der Zollverwaltung an Zuwiderhandlungen gegen das Zollrecht einen besonderen Umstand dar (s. EuG Urteile v. 07.06.2001, T-330/99, Rz. 57, 60; v. 27.02.2003, T-329/00, Rz. 81; v. 13.09.2005, T-53/02, Rz. 151 – bestätigt durch EuGH Urteil v. 15.05.2007, C-420/05 P). Dazu gehören insbesondere auch die unrichtigen Erledigungen der Versandverfahren durch L und die ihn vertretenden Beamten des ZA.
119Die besonderen Umstände, die unrichtige Erledigung der Versandverfahren durch L und die ihn vertretenden Beamten des ZA, waren auch nicht auf eine offensichtliche Fahrlässigkeit der Klägerin zurückzuführen.
120Die unrichtigen Erledigungen der Versandverfahren durch L und die ihn vertretenden Beamten geschahen unabhängig von den Angaben in Feld 18 der Versandanmeldungen und auch unabhängig von der Auswahl der Frachtführer. Soweit E mit L eine Absprache über die tatsächliche Nichtgestellung von Versandverfahren getroffen hatte, vermerkten L und die ihn vertretenden Beamten die Gestellung im System ATLAS, die in Wahrheit unterblieb. Dabei kam es nicht auf etwaige Eintragungen in Versandbegleitdokumenten an, die L von E üblicherweise per E-Mail übersandt wurden.
121Die Klägerin war auch nicht berechtigt, die Frachtführer auszuwählen. Dies hatte sich die G in der in diesem Gewerbe üblichen Weise als Auftraggeber der Klägerin vorbehalten. Insoweit durfte der Klägerin nur Frachtführer zurückweisen, wenn sie Bedenken gegen ihre Zuverlässigkeit gehabt hätte, wie sie unbestritten vorgetragen hat. Dazu hatte die Klägerin jedoch keinen Anlass, denn es handelte sich ausschließlich um ihr bekannte, am Markt eingeführte Unternehmen, von denen u.a. die AA sogar als AEO zertifiziert war.
122Eine unterbliebene Auswahl der Frachtführer kann einem Hauptverpflichteten, der anders als die Klägerin dazu rechtlich berechtigt gewesen wäre, auch nach der vom Beklagten zitierten Rechtsprechung nicht schlechthin vorgeworfen werden. Im EuGH-Urteil vom 29.04.2004, C-222/01, Rz. 71 blieb es Sache des vorlegenden Gerichts zu entscheiden, ob dem Hauptverpflichteten auch insoweit unter Berücksichtigung der Gesamtumstände eine betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden konnte. Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ergaben sich dann im Senatsurteil vom 13. Juni 2007,4 K 4456/05, juris, hinreichende weitere Umstände als die unrichtige Angabe des Kennzeichens des Beförderungsmittels, die eine offensichtliche Fahrlässigkeit begründeten, zu denen auch die Lieferung hochsteuerbarer Waren gehörte, für die es seinerzeit auch einen regen, branchenbekannten Schmuggel gab. Zudem war 1992, zur Zeit des Geschehens, das dem Senatsurteil zu Grunde lag, das Versandverfahren wesentlich betrugsanfälliger als in Zeit der hier streitigen Vorgänge. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass für die im Streitfall beförderten Textilien und Lederwaren kein besonderes Risiko im Sinne von Art. 340a ZKDVO in Verbindung mit Anhang 44c ZKDVO bestand.
123Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 23.01.2007, 7 K 4445/03, juris, denn nach dem dieser Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt wurde – anders als im Streitfall – das Versandverfahren in Kenntnis des Hauptverpflichteten überhaupt nicht erledigt. Es wurde gerade nicht wie, im Streitfall, durch pflichtwidrig handelnde Zollbeamte für einen Hauptverpflichteten unerkennbar fälschlich ohne Wiedergestellung erledigt.
124Zur Angabe der Nationalität und des Kennzeichens des Beförderungsmittels war die Klägerin – wie bereits dargelegt wurde – weder in den Versandanmeldungen noch in den Versandbegleitdokumenten verpflichtet.
125Die Klägerin hatte auch keinen Anlass, die von der G als Frachtführer benannten Speditionen über ihre Pflichten im Versandverfahren zu belehren, weil diese ohnehin bekannt waren. Die Wiedergestellung bei einer Zollstelle gehört zu den grundlegenden Pflichten des Versandverfahrens für einen gewerblichen Frachtführer, der Versandgut übernimmt, was sich schon aus Art. 96 Abs. 2 ZK ergibt.
1265. Im Hinblick auf die Ausführungen unter 4. kann offen bleiben, ob ein besonderer Umstand auch darin liegen könnte, dass das ZFA verdeckte Ermittlungen unternommen hat, von denen die Klägerin nicht unterrichtet wurde (s. EuGH Urteil v. 07.09.1999, C-61/98, Rz. 56). Insoweit muss den Fragen, ob das ZFA am 07.05.2014, dem Tag des letzten von der Klägerin eröffneten, hier streitigen Versandverfahrens schon die Rolle der Klägerin kannte, nicht nachgegangen werden.
1276. Der Beklagte kann in diesem Fall auch selbst einen Erlass gewähren, so dass einer im Urteil nach § 101 Satz 1 FGO auszusprechenden Verpflichtung des Beklagten nichts entgegensteht. Zwar ist nach Art. 116 Abs. 3 Unterabs.1 Buchst. d UZK die Entscheidung über einen Erlass eines Abgabenbetrags von 500.000 € oder mehr der Kommission vorbehalten, so dass die Zollbehörden die Akten des Falles an die Kommission zur Entscheidung darüber weiter zu leiten hätten. Dies unterbleibt jedoch nach Art. 116 Abs. 3 Unterabs. 2 Buchst. a UZK, wenn die Kommission bereits eine Entscheidung in einem sachlich und rechtlich vergleichbaren Fall getroffen hat. Dies ist in den Kommissionsentscheidungen vom 12.12.1997, REM 7/97 und vom 18.02.1998, REM 14/97, C(98)371, geschehen. Im Fall REM 7/97 bescheinigten zwei deutsche Zollbeamte bei der Bestimmungsstelle wissentlich falsch die Wiedergestellung von Versandgut. Im Fall REM 14/97 bescheinigte ein Zollbeamter wissentlich auf dem vorgelegten Versandschein zu Unrecht die Ausfuhr der Ware.
128Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
129Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 der Zivilprozessordnung.
130Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 FGO weder vorgetragen noch sonst erkennbar geworden sind.