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Der Haftungsbescheid vom 21.04.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.12.2016 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Frage, ob der Kläger als vorläufiger Sachwalter im Schutzschirmverfahren nach § 270b der Insolvenzordnung (InsO) für nicht abgeführte Lohnsteuern nebst Solidaritätszuschlag in Haftung genommen werden kann.
3In 1988 wurde eine GmbH gegründet. …
4Alleiniger Geschäftsführer der GmbH war H.
5Am 20.11.2014 meldete H für die GmbH für den Monat November 2014 bei dem Beklagten Lohnsteuern an und zahlte die Nettolöhne am 30.11.2014 in voller Höhe an die Arbeitnehmer aus.
6Wegen drohender Zahlungsunfähigkeit beantragte H am 01.12.2014 beim Amtsgericht als Insolvenzgericht (im Folgenden: AG) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH in Form des Schutzschirmverfahrens nach den §§ 270, 270b InsO sowie die Bestellung des Klägers zum vorläufigen Sachwalter. In dem Antrag gab H unter anderem an, dass aufgrund der aktuellen Liquiditätsplanung die vorhandenen Zahlungsmittel mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Ende Januar 2015 nicht mehr ausreichen würden, um alle dann fälligen Verbindlichkeiten zu bedienen. Die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung sowie die fälligen Lohnsteuern seien bis einschließlich 30.11.2014 vollständig abgeführt.
7Am 01.12.2014 ordnete das AG zur Vorbereitung der Sanierung die vorläufige Eigenverwaltung gemäß § 270b InsO an (Aktenzeichen …) und bestellte den Kläger zum vorläufigen Sachwalter, der dieses Amt mit Schreiben vom 02.12.2014 annahm. Zugleich untersagte das AG Maßnahmen der Zwangsvollstreckung einschließlich der Vollziehung eines Arrests oder einer einstweiligen Verfügung gegen die Schuldnerin, soweit nicht unbewegliche Gegenstände betroffen seien; bereits begonnene Maßnahmen wurden einstweilen eingestellt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO). Die Schuldnerin wurde ermächtigt, Verbindlichkeiten zu begründen, die im Falle einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit gelten zur Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes der Arbeitnehmer. Ein Zustimmungsvorbehalt war nicht angeordnet. Der Kläger war berechtigt, die Geschäftsräume und betrieblichen Einrichtungen der Schuldnerin einschließlich der Nebenräume zu betreten und dort Nachforschungen anzustellen. Ferner war er berechtigt, Auskünfte über die schuldnerischen Vermögensverhältnisse bei Dritten einzuholen. Zugleich wurde er beauftragt, sachverständig zu prüfen, ob ein nach der Rechtsform der Schuldnerin maßgeblicher Eröffnungsgrund vorliegt und welche Aussichten für eine Fortführung des schuldnerischen Unternehmens bestehen. Er hatte ferner zu prüfen, ob das schuldnerische Vermögen die Kosten des Verfahrens voraussichtlich decken wird.
8Am 09.12.2014 zeigte der Kläger dem AG gemäß § 270a Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 275 Abs. 2 InsO an, dass er mit Wirkung vom 09.12.2014 die Kassenführung an sich gezogen habe und sämtliche eingehenden und ausgehenden Zahlungen ausschließlich über das von ihm zu diesem Zwecke eingerichtete Anderkonto zu realisieren seien. Am selben Tag überwies H das gesamte Bankguthaben der GmbH auf das vorgenannte Anderkonto.
9Die am 10.12.2014 fällige Lohnsteuer nebst Solidaritätszuschlag wurde weder von H noch von dem Kläger entrichtet. Der Beklagte meldete den Gesamtbetrag zur Insolvenztabelle an. Die Steuerforderungen wurden zur Tabelle festgestellt.
10Mit Schreiben vom 28.01.2015 zeigte H gemäß § 270 Abs. 4 Satz 2 InsO gegenüber dem AG den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der GmbH an. Am 01.03.2015 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet und die Eigenverwaltung angeordnet. Die Schuldnerin war berechtigt, unter der Aufsicht des Sachwalters die Insolvenzmasse zu verwalten und über sie zu verfügen (§§ 270 - 285 InsO). Der Kläger wurde zum Sachwalter ernannt.
11Am 24.11.2015 stimmte die Gläubigerversammlung dem Insolvenzplan vom 21.09.2015 zu, was das AG mit Beschluss vom 01.12.2015 bestätigte. Mit Beschluss vom 14.01.2016 hob das AG das Insolvenzverfahren auf. Entsprechend der Regelungen im vorgenannten Insolvenzplan wurde dem Beklagten eine Insolvenzquote von 2,39 % ausgezahlt, die auch später nicht an die Masse zurückgezahlt wurde.
12Mit Schreiben vom 17.03.2016 hörte der Beklagte die Rechtsanwaltskammer gemäß § 191 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zu einer möglichen Haftungsinanspruchnahme des Klägers an.
13Mit Haftungsbescheid vom 21.04.2016 nahm der Beklagte den Kläger als Gesamtschuldner neben dem alleinigen Geschäftsführer H für die Lohnsteuer und den Solidaritätszuschlag für den Monat November 2014 gemäß §§ 69, 35, 34 Abs. 1 AO in Anspruch.
14Hiergegen legte der Kläger am 20.05.2016 Einspruch ein und führte zur Begründung aus, dass er als vorläufiger Sachwalter mit Kassenführungsbefugnis keine Person i.S. der §§ 34, 35 AO sei. Das Eröffnungsverfahren diene vorrangig dem Zweck, das Vermögen des Schuldners bis zur Entscheidung über den Eröffnungsantrag zu sichern. Die Bestellung eines vorläufigen Sachwalters sei eine solche Sicherungsmaßnahme. Dieser habe bestimmte Zustimmungs- und Widerspruchsrechte, die der Überwachung der Geschäftsführung dienten. Die Kassenführungsbefugnis diene der Unterstützung dieser Überwachungsaufgabe. Die Position eines vorläufigen Sachwalters entspreche der eines reinen Kontrolleurs und seine Rechte wirkten rein intern. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verbleibe beim eigenverwaltenden Schuldner, der das Unternehmen im Außenverhältnis führe. Er – der Kläger – sei auch keine Person i.S. des § 34 Abs. 3 AO, da seine Verfügungsbefugnis auf das Anderkonto und durch den Zweck der bloßen Durchsetzung von Überwachungsrechten beschränkt sei. Dies mache ihn nicht zum Vermögensverwalter. Er habe das Unternehmen nur zu überwachen, nicht aber über dessen Vermögensgegenstände zu verfügen, um es zu verwalten. Diese Beschränkung auf Überwachungs- und Kontrollaufgaben werde durch die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigt (Hinweis auf Beschlüsse vom 22.09.2016 IX ZB 71/14 und vom 21.07.2016 IX ZB 70/14). Der BGH habe in Bezug auf die Vergütungsansprüche eines vorläufigen Sachwalters festgestellt, dass dieser nicht die Befugnis habe, die Masse selbst zu sichern. Er habe vielmehr die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und die Ausgaben für die Lebensführung zu überwachen, erforderlichenfalls eine Anzeige nach § 274 Abs. 3 Satz 1 InsO vorzunehmen. Eigene Eingriffs- und Sicherungsbefugnisse stünden ihm nicht zu. Der BGH habe ausdrücklich festgestellt, dass die Entwicklung von Maßnahmen und Strategien hinsichtlich Umsatzsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen nicht zu den Aufgaben des vorläufigen Sachwalters gehörten. Daran ändere auch die Übernahme der Kassenführung durch den vorläufigen Sachwalter nichts.
15Auch § 35 AO sei nicht einschlägig. Wegen der Beschränkungen der Verfügungsmacht trete ein vorläufiger Sachwalter nicht als Verfügungsberechtigter im Sinne der Vorschrift auf. Er erwecke durch die Übernahme der Kassenführungsbefugnis auch nicht den Anschein, über Mittel, die einem anderen zuzurechnen seien, verfügen zu dürfen. Der Bundesfinanzhof (- BFH -, Hinweis auf Urteil vom 13.09.1988 VII R 35/85) habe dieses Ergebnis bestätigt und entschieden, dass § 35 AO nur anwendbar sei, wenn die Befugnisse des Sachwalters ausnahmsweise über die normale Überwachungsfunktion hinausgingen. Auch das Niedersächsische Finanzgericht (Hinweis auf Urteil vom 30.10.1981, XI (VI) 220/80) habe § 35 AO nicht auf einen Sachwalter angewandt.
16Darüber hinaus könne der vorläufige Sachwalter die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters rechtlich und tatsächlich nicht erfüllen i.S. des § 35 Halbsatz 2 AO. Für die Frage des Umfangs der zu erfüllenden Pflichten sei die interne Kompetenzzuweisung bzw. die tatsächliche Kompetenzausübung maßgeblich. Eine Haftung nach § 35 AO erfordere deshalb, dass gerade auch die steuerlichen Pflichten in den Aufgabenbereich des Verfügungsberechtigten fielen. Dies sei hier nicht der Fall, d.h. er – der Kläger – habe als vorläufiger Sachwalter nicht dafür zu sorgen, dass Steuern aus den verwalteten Mitteln entrichtet werden.
17Die streitgegenständliche Lohnsteuerforderung hätte als Insolvenzforderung i.S. des § 38 InsO zudem nur dann getilgt werden dürfen, wenn dies im Einzelfall im Interesse der Gläubigergemeinschaft erforderlich oder wenigstens zweckmäßig gewesen wäre, insbesondere zur Fortführung des Unternehmens. Zahlungen an Finanzkassen in der vorläufigen Eigenverwaltung dienten jedoch nicht der Betriebsfortführung (Hinweis auf Amtsgericht Hamburg, Beschluss vom 14.07.2014, 676 IN 196/14). Würde der vorläufige Sachwalter die Forderung gleichwohl tilgen, setze er sich dem Verdacht der Untreue i.S. des § 266a des Strafgesetzbuches aus. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus der Rechtsprechung des BGH oder des BFH folgern. Zwar habe der BFH (Hinweis auf Urteil vom 23.09.2008 VII R 27/07) in Bezug auf Geschäftsführer entschieden, dass die Zahlung fälliger Steuern nicht gegen § 64 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) verstoße. Dies lasse sich jedoch nicht auf den vorläufigen Sachwalter übertragen, da er gerade keine steuerlichen Pflichten zu erfüllen habe. Dessen ungeachtet gehe die Auffassung des BFH fehl, weil die Massesicherungspflicht des Geschäftsführers im vorläufigen Insolvenzverfahren Vorrang vor einer etwaigen Steuerzahlungspflicht habe.
18Darüber hinaus fehle es vorliegend auch an der für eine Haftung erforderlichen Kausalität zwischen (angeblicher) Pflichtverletzung und (angeblichem) Schaden. Zwar gelte nach der Rechtsprechung des BFH für die Lohnsteuer der Grundsatz der anteiligen Tilgung im Regelfall nicht, da der Arbeitgeber verpflichtet sei, die Löhne nicht voll auszuzahlen, sondern die Lohnzahlungen soweit zu kürzen, dass die anteilige Lohnsteuer entrichtet werden könne. Dies könne im vorliegenden Fall aber nicht gelten, da bei Übernahme der Kassenführung am 09.12.2014 und bei Fälligkeit der Lohnsteuer am 10.12.2014 die Löhne – insoweit unstreitig – bereits in voller Höhe durch den Geschäftsführer der GmbH ausgezahlt gewesen seien. Er – der Kläger – habe keine Möglichkeit gehabt, die Löhne zu kürzen, weshalb hier der Grundsatz der anteiligen Tilgung greifen und die Haftung jedenfalls auf den Umfang begrenzt werden müsse, in dem der Fiskus gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt sei. Zur Darlegung der Tilgungsquote sei der Beklagte verpflichtet. Dieser Pflicht sei der Beklagte bislang nicht nachgekommen.
19Schließlich sei der angefochtene Haftungsbescheid ermessensfehlerhaft, da er gänzlich dazu schweige, ob der Steuerschuldner zur Zahlung in der Lage sei oder der Fiskus seine Insolvenzforderungen (teils oder vollständig) im Rahmen der Verteilung erfüllt bekomme.
20Mit seinem Einspruchsschreiben beantragte der Kläger zugleich die Erörterung des Sach- und Streitstandes gemäß § 364a AO.
21Mit Einspruchsentscheidung vom 09.12.2016 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, der Kläger sei als vorläufiger Sachwalter mit alleiniger Kassenführungsbefugnis als Person i.S. des § 35 AO anzusehen. Da der Kläger den Geschäftsführer der GmbH veranlasst habe, alle liquiden Mittel am 09.12.2014 auf das Anderkonto zu überweisen, auf das allein er Zugriff gehabt habe, sei auch nur er rechtlich und wirtschaftlich in der Lage gewesen, über die Mittel der GmbH zu verfügen. Als derart Verfügungsberechtigter sei er – zumindest gegenüber der Bank – auch nach außen aufgetreten. Nach der Rechtsfolgenverweisung des § 35 AO habe er die Pflichten des gesetzlichen Vertreters zu erfüllen gehabt, worunter die Entrichtung der Lohnsteuer und des Solidaritätszuschlags für November 2014 falle. Der eigenverwaltende Geschäftsführer der GmbH sei zwar rechtlich befugt gewesen, die Lohnsteuer abzuführen, habe sich aber durch die Überweisung sämtlicher liquider Mittel auf das Anderkonto hierzu selbst außer Stande gesetzt.
22Die Bestellung eines vorläufigen Sachwalters stelle keine Sicherungsmaßnahme des Insolvenzgerichts dar. Die vorläufige Eigenverwaltung sei im Gegensatz zur vorläufigen Insolvenzverwaltung kein Sicherungsverfahren und der vorläufige Sachwalter habe nach der BGH-Rechtsprechung nicht die Pflicht, das Vermögen des Schuldners zu sichern. Im Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO werde der laufende Geschäftsbetrieb ungehindert aufrechterhalten.
23Auch nach der in der Literatur vertretenen Auffassung handele der vorläufige Sachwalter bei Übernahme der Kassenführung als gesetzlicher Vertreter der Schuldnerin. Seine Vertretungsmacht sei – bei fortbestehender Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis der Schuldnerin – auf die Entgegennahme und Ausführung von Zahlungen beschränkt. Damit gehe seine Funktion über die normale Überwachungsfunktion eines Sachwalters hinaus. Eine im Außenverhältnis wirksame Trennung der Verfügungszuständigkeit in Initiativ- und Verhinderungsrecht existiere – im Gegensatz zum Verhältnis von Geschäftsführer und vorläufigem Insolvenzverwalter – nicht. Durch die Übernahme der Kassenführung habe der Kläger das Pflichtenprogramm eines Geschäftsführers, welcher nach der Rechtsprechung des BGH und des BFH zur Entrichtung der Lohnsteuer verpflichtet sei, übernommen. Dem stehe insbesondere § 64 GmbHG nicht entgegen. Die Massesicherungspflicht habe keinen Vorrang vor der Steuerzahlungspflicht.
24Für die Kausalität der Pflichtverletzung sei zudem allein maßgeblich, dass zum Fälligkeitszeitpunkt hinreichend liquide Mittel zur Entrichtung der Lohnsteuer zur Verfügung gestanden hätten. Dass der Kläger nicht mehr in der Lage gewesen sei, eine möglicherweise erforderliche Kürzung der Lohnzahlungen vorzunehmen, ändere hieran nichts. Der Geschäftsführer hätte die volle Lohnsteuer tilgen müssen; diese Pflicht sei unverändert auf den Kläger als Verfügungsberechtigten übergegangen. Die Rechtsprechung zum sogenannten „Nachfolgegeschäftsführer“, für den in solchen Fällen der Grundsatz der anteiligen Tilgung in Betracht komme, lasse sich auf den vorläufigen Sachwalter nicht übertragen. Denn Letzterer werde nicht durch Gesellschafterbeschluss, sondern durch gerichtlichen Hoheitsakt bestellt. Er übernehme die Rechtsstellung des gesetzlichen Vertreters und könne keine weitergehenden Rechte beanspruchen, als dem gesetzlichen Vertreter zustünden.
25Schließlich sei die Inanspruchnahme auch nicht ermessensfehlerhaft. Im Hinblick auf die Verantwortung des Klägers für die GmbH und den damit verbundenen hohen Grad des Verschuldens sei es ermessensgerecht, den Kläger neben dem Geschäftsführer für die Steuerschuld der GmbH einstehen zu lassen.
26Gegen die Einspruchsentscheidung hat der Kläger am 23.12.2016 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren und trägt ergänzend vor, dass die bisherige BFH-Rechtsprechung sich ausschließlich auf Regelinsolvenzverfahren und nicht auf Verfahren der Eigenverwaltung beziehe. Übertragbar sei indes die Rechtsprechung zum vorläufigen Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt: Dieser sei mangels Verfügungsbefugnis gerade keine Person i.S. der §§ 34, 35 AO. Den gesetzlichen Vertreter treffe in diesen Fällen nach Ansicht des BFH kein haftungsrelevantes Verschulden, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter die Zustimmung zur Steuerzahlung versage. Indem der BFH weder den vorläufigen Insolvenzverwalter noch den gesetzlichen Vertreter haften lasse, mache er deutlich, dass die Massesicherungspflicht Vorrang vor der Steuerzahlungspflicht habe. Hinzu komme, dass das AG die Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen der GmbH im Eröffnungsbeschluss vom 01.12.2014 untersagt habe. Der Beklagte hätte daher vom Regelungsgehalt des Lohnsteuerbescheides für November 2014 gar keinen Gebrauch machen dürfen. Dieser Fall sei ohne weiteres vergleichbar mit einer Aussetzung der Vollziehung des Lohnsteuerbescheides. Für den Fall gewährter Aussetzung sei indes unstreitig, dass die Nichtzahlung der Steuer keine Pflichtverletzung darstelle. Vorliegend wäre nach dem BFH (Hinweis auf Beschluss vom 01.08.2012 V B 59/11) ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der GmbH mangels Rechtsschutzinteresses aber unzulässig gewesen, da die Zwangsvollstreckung bereits untersagt worden sei. Wenn die GmbH aber kein Rechtsschutzinteresse an einer Aussetzung mehr habe, müsse dies zugleich bedeuten, dass die Untersagung der Zwangsvollstreckung vorliegend wie eine Aussetzung wirke. Weiter führe die Untersagung der Zwangsvollstreckung dazu, dass er – der Kläger – nach dem Grundsatz der Subsidiarität gemäß § 219 Abs. 1 Satz 1 AO nicht in Anspruch zu nehmen sei. Danach sei eine Haftung ausgeschlossen, wenn der Steuerschuldner zur Steuerzahlung in der Lage sei. Dem müsse die Situation gleichgestellt werden, dass eine Durchsetzung der Steuerforderung beim Steuerschuldner wegen der Untersagung der Zwangsvollstreckung unmöglich sei. Es sei auch nicht zu erklären, warum der Fiskus sich beim vorläufigen Sachwalter befriedigen dürfe, wenn dies beim Steuerschuldner wegen des Zwangsvollstreckungsverbots nicht möglich sei.
27Darüber hinaus sei die Pflichtenkollision zwischen der Massesicherungspflicht des vorläufigen Sachwalters gemäß § 60 InsO und der Steuerzahlungspflicht nach §§ 69, 34, 35 AO zugunsten der insolvenzrechtlichen Massesicherungspflicht aufzulösen. Die Massesicherungspflicht des vorläufigen Sachwalters sei nicht vergleichbar mit der Massesicherungspflicht eines Geschäftsführers nach § 64 GmbHG, sodass die dazu ergangene Rechtsprechung nicht übertragbar sei. Das den vorläufigen Sachwalter nach § 60 InsO treffende insolvenzrechtliche Pflichtenprogramm werde durch dessen Bestellung durch das Insolvenzgericht aktiviert, wohingegen ein Pflichtenprogramm gemäß § 64 GmbHG durch die Bestellung zum Geschäftsführer durch die Gesellschafterversammlung begründet werde. Da der vorläufige Sachwalter ausschließlich durch das Insolvenzgericht bestellt werde, könnten ihn keine Pflichten gemäß § 64 GmbHG treffen. Eine Pflichtenkollision von Massesicherungspflicht gemäß § 60 InsO und Steuerzahlungspflicht gemäß §§ 69, 34, 35 AO sei auch nach der Begründung der Bundesregierung zum SanInsFoG vom 14.10.2020 (Bundestags-Drucksache 19/24181) betreffend § 15b InsO, der am 01.01.2021 in Kraft getreten sei, zugunsten der insolvenzrechtlichen Massesicherungspflicht gemäß § 60 InsO aufzulösen. Für einen vorläufigen Sachwalter im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren, der gemäß § 270b Abs. 2 Satz 1 InsO i.V.m. § 270a Abs. 1 Satz 1 InsO i.V.m. § 60 InsO einer Massesicherungspflicht unterliege, könne nichts anderes gelten. Auch in diesem Fall müsse die Massesicherungspflicht Vorrang vor einer Steuerzahlungspflicht haben.
28Schließlich liege eine Ermessensunterschreitung vor, da der Beklagte über die mit Schreiben vom 29.06.2016 gestellten Anträge auf Akteneinsicht und auf Erörterung des Sach- und Rechtsstands gemäß § 364a AO nicht entschieden habe. Es sei auch ermessensfehlerhaft, einen Haftungsschuldner in voller Höhe in Anspruch zu nehmen, wenngleich der Fiskus im Rahmen des Insolvenzverfahrens bereits teilweise befriedigt worden sei.
29Der Kläger beantragt,
30den Haftungsbescheid für Lohnsteuer November 2014 und Solidaritätszuschlag zur Lohnsteuer November 2014 vom 21.04.2016 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.12.2016 ersatzlos aufzuheben.
31Der Beklagte beantragt,
32die Klage abzuweisen, mit der Maßgabe, dass die Haftungssumme um 1.858,53 EUR gemindert wird;
33hilfsweise, die Revision zuzulassen.
34Er beruft sich im Wesentlichen auf die Begründung in der Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass der Antrag auf Erörterung des Sach- und Streitstands versehentlich nicht beachtet worden sei, eine solche Erörterung allerdings auch nicht zielführend gewesen wäre, da der Sachverhalt unstreitig und beiden Seiten bewusst gewesen sei, dass es zu einem Klageverfahren kommen werde.
35Die Stellung des vorläufigen Sachwalters sei im Übrigen nicht mit derjenigen des vorläufigen Insolvenzverwalters zu vergleichen. Letzterem komme insbesondere die Pflicht zu, die Masse zu sichern und zu erhalten, während die Zahlung der fälligen Steuern durch den Kläger die Massesicherungspflicht nicht verletzt hätte, sondern als mit den Pflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar anzusehen gewesen wäre. Die Untersagung der Zwangsvollstreckung durch das Insolvenzgericht ändere nichts an der prinzipiellen Steuerzahlungspflicht. Im Hinblick auf § 219 Satz 2 AO sei die Untersagung auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten nicht relevant.
36Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten sowie auf die beigezogene Insolvenzakte des AG verwiesen.
37Entscheidungsgründe
38I. Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Haftungsbescheid vom 21.04.2016 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.12.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
39Zwar rechtfertigt die unterlassene Erörterung nach § 364a AO für sich gesehen nicht die (isolierte) Aufhebung der Einspruchsentscheidung, da bereits nicht ersichtlich ist, dass das Einspruchsverfahren aufgrund der Erörterung möglicherweise anders als wie geschehen abgeschlossen worden wäre (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 06.09.2005 IV B 14/04, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2005, 2166; Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 364a AO, Rn. 64, 68).
40Der Beklagte hat den Kläger jedoch zu Unrecht nach §§ 69, 35, 34 Abs. 1 AO in Haftung genommen. Die Voraussetzungen des § 191 AO liegen nicht vor. Der Kläger gehört nicht zum Personenkreis der §§ 34, 35 AO. Er war weder gesetzlicher Vertreter oder Vermögensverwalter der GmbH (§ 34 AO) noch deren Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO.
411. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach der vorliegend von dem Beklagten herangezogenen Haftungsvorschrift des § 69 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Die Haftung nach § 69 AO umfasst alle Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i.S. des § 37 Abs. 1 AO.
422. Der Kläger ist weder gesetzlicher Vertreter i.S. des § 34 Abs. 1 AO der GmbH noch Vermögensverwalter i.S. des § 34 Abs. 3 AO.
43a) Nach § 34 Abs. 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter natürlicher und juristischer Personen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen. Insbesondere haben sie dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten. Sie haben rechtzeitig (zutreffende) Steuererklärungen und -anmeldungen abzugeben und rechtzeitig die fälligen Steuern aus den von ihnen zu verwaltenden Gesellschaftsmitteln zu entrichten. Steht eine Vermögensverwaltung anderen Personen als den Eigentümern des Vermögens oder deren gesetzlichen Vertretern zu, so haben die Vermögensverwalter die in § 34 Abs. 1 AO bezeichneten Pflichten, soweit ihre Verwaltung reicht (§ 34 Abs. 3 AO).
44b) Nach der Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, sind (vorläufige) Insolvenzverwalter nicht als gesetzliche Vertreter i.S. des § 34 Abs. 1 AO anzusehen, da es in diesen Fällen bei der Verfügungsbefugnis des Schuldners bleibt (BFH-Beschlüsse vom 30.12.2004 VII B 145/04, BFH/NV 2005, 665, und vom 27.05.2009 VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 34 AO, Rn. 9). Entsprechendes gilt auch für vorläufige Sachwalter im Schutzschirmverfahren i.S. des § 270b Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 270a InsO – wie vorliegend –, da es auch in diesen Fällen bei der Verfügungsbefugnis der Schuldner bleibt (zu Letzterem: BGH-Urteil vom 22.11.2018 IX ZR 167/16, Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen – BGHZ – 220, 243, Rz. 11).
45Der Kläger ist als vorläufiger Sachwalter auch nicht Vermögensverwalter i.S. des § 34 Abs. 3 AO (so auch: Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 34 AO, Rn. 25b; Klein/Rüsken, 15. Auflage 2020, AO § 34 Rn. 25; Jatzke in: Gosch, AO/FGO, § 35 Rn. 17; Boeker in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 69 AO Rn. 41i; Koch/Jung in: Kübler, HRI - Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz, 3. Auflage 2018, Schutzschirmverfahren, Rn. 156; Dr. Hobelsberger, Umsatzsteuerpflicht und -haftung in der vorläufigen Eigenverwaltung, Deutsches Steuerrecht 2013, 2545, 2548). Wenn bereits ein schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt kein Vermögensverwalter i.S. von § 34 Abs. 3 AO ist (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 27.05.2009 VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591), so muss dies auch für den vorläufigen Sachwalter gelten, da dieser nach § 270a Abs. 1 InsO i.V.m. §§ 274, 275 InsO keine weitergehenden Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten hat. Auch in diesem Fall bleibt es – selbst bei einer (hier bereits nicht erfolgten) Anordnung eines Zustimmungsvorbehaltes – bei der Verfügungsbefugnis des Schuldners.
463. Der Kläger ist auch nicht Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO, der die steuerlichen Pflichten der GmbH zu erfüllen hatte.
47Nach § 35 AO hat, wer als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann. Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO ist jeder, der rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen zuzurechnen sind, verfügen kann und als Verfügungsberechtigter nach außen auftritt (BFH-Beschluss vom 08.12.2010 VII B 102/10, BFH/NV 2011, 74). Die Verfügungsmacht kann dabei auf Gesetz, behördlicher oder gerichtlicher Anordnung oder Rechtsgeschäft beruhen. Der Verfügungsberechtigte muss zudem am Rechtsverkehr teilnehmen. Ein Auftreten gegenüber Finanzbehörden oder in steuerlichen Angelegenheiten ist dabei nicht erforderlich (BFH-Urteil vom 16.03.1995 VII R 38/94, Bundessteuerblatt – BStBl – II 1995, 859). Hinsichtlich des Auftretens nach außen reicht es aus, wenn der Verfügungsberechtigte gegenüber irgendjemandem – wenn auch nur gegenüber einer begrenzten Öffentlichkeit – als solcher auftritt (BFH-Beschluss vom 09.01.2013 VII B 67/12, BFH/NV 2013, 898 m.w.N.). Das Auftreten als Verfügungsberechtigter muss auch nicht in einer Disposition über fremdes Vermögen bestehen; es genügt, wenn sich die Person nach außen hin so geriert, als könne sie über fremdes Vermögen verfügen (BFH-Urteil vom 27.11.1990 VII R 20/89, BStBl II 1991, 284; Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 35 AO, Rn. 10).
48Als Verfügungsberechtigter ist somit derjenige anzusehen, der aufgrund seiner Stellung in der Lage ist, tatsächliche und rechtliche Rechtsverhältnisse herbeizuführen, die ihn dazu befähigen, rechtlich verbindlich die Pflichten des gesetzlichen Vertreters entweder selbst zu erfüllen oder durch die Bestellung der entsprechenden Organe erfüllen zu lassen (vgl. BFH-Beschluss vom 27.05.2009 VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591). Eine tatsächliche Verfügungsmacht genügt jedoch nicht (Bundestags-Drucksache 7/4292, Seite 19 zu § 35 AO). Die Verfügungsmacht muss vielmehr auch rechtlich bestehen. Unter rechtlicher Verfügungsbefugnis ist die Fähigkeit zu verstehen, im Außenverhältnis wirksam zu handeln. Zum schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt hat der BFH bereits entschieden, dass dieser nicht als Verfügungsberechtigter i.S. von § 35 AO anzusehen sei, da er sich ohne Mitwirkung des Insolvenzgerichts nicht die rechtliche Befugnis verschaffen könne, über das Vermögen des Schuldners zu verfügen (BFH-Beschluss vom 27.05.2009 VII B 156/08, BFH/NV 2009, 1591).
49Die Frage, ob der im Schutzschirmverfahren nach § 270b InsO bestellte vorläufige Sachwalter mit Kassenführungsbefugnis i.S. des § 275 Abs. 2 InsO Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO ist, in dessen Aufgabenkreis auch die Erfüllung von steuerlichen Pflichten fällt, ist – soweit ersichtlich – bislang höchstrichterlich nicht entschieden.
50Im Schrifttum werden hierzu divergierende Ansichten vertreten:
51a) Zum einen wird – zum Teil ohne nähere Begründung – vertreten, dass der vorläufige Sachwalter als Vertreter des verfügungsberechtigten Schuldners auftrete und deshalb auch dessen Pflichten zur Entrichtung fälliger Steuerforderungen zu erfüllen habe (Koch/Jung in: Kübler, HRI - Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz, 3. Auflage 2018, Schutzschirmverfahren, Rn. 156; Pape in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 275 InsO, Rn. 26; Boeker in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 34 AO, Rn. 41i, § 35 AO, Rn. 29; Jatzke in: Gosch, AO/FGO, § 35 AO, Rn. 17; Hofmann in: Hofmann, Eigenverwaltung, 2. Auflage 2016, Praxis der Betriebsfortführung und Verfahrensabwicklung in der (vorläufigen) Eigenverwaltung, Rn. 494; Thole, Der Betrieb 2015, 662, 670 (der eine Haftung des Sachwalters im Ergebnis jedoch wegen fehlenden Verschuldens ablehnt); Wimmer-Foltis, in: Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung (FK-InsO), § 275 Rz. 23; Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 8. Auflage 2014, Seite 52; Vogelsang in: Kraemer/Vallender/Vogelsang, Handbuch zur Insolvenz, KAPITEL 5 AO-Haftung des GmbH-Geschäftsführers, Rn. 123 bis 127). Zur Begründung wird unter anderem von Frotscher angeführt, dass der Sachwalter, der die Kassenführung nach § 275 Abs. 2 InsO an sich gezogen habe und Zahlungen vornehme, insoweit im fremden Namen des Schuldners verfüge, weshalb man ihn als Vertreter i.S. des § 35 AO ansehen könne, der auch nach außen für den Schuldner auftrete.
52b) Dieser Ansicht wird jedoch entgegengehalten, dass der vorläufige Sachwalter selbst im Falle der Inanspruchnahme des Kassenführungsrechts nach dem Wortlaut von § 275 Abs. 2 InsO lediglich zur Ausführung und Entgegennahme von Zahlungen berechtigt sei und sich die daraus resultierende Vertretungsmacht des Sachwalters auf die Entgegennahme von Geldern und die Vornahme von Geldzahlungen beschränke (Münchener Kommentar zur InsO/Kern, 4. Auflage 2020, InsO § 275 Rn. 25; Uhlenbruck/Zipperer, 15. Auflage 2019, InsO § 275 Rn. 8; Dr. Hobelsberger, Deutsches Steuerrecht 2013, 2545, 2548; Undritz/Schur, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht – ZIP – 2016, 549, 555 f.; Sonnleitner/Winkelhog, Betriebsberater 2015, 88, 96 f.; Frind, GmbH-Rundschau 2015, 128, 132; Harder, Neue Zeitschrift für Insolvenz- und Sanierungsrecht 2015, 162). Steuerrechtliche Pflichten ergäben sich aus der Übernahme der Kassenführung für den Sachwalter jedoch nicht. Die Kassenführung sei für ihn ein reines Instrument der Überwachung des Schuldners. Dementsprechend nehme er Verfügungen über das Vermögen des Schuldners grundsätzlich auch nur auf Veranlassung des Schuldners und nicht aufgrund eigenen Rechts oder gar eigener Pflicht vor. Die steuerlichen Pflichten verblieben insgesamt beim Schuldner.
53c) Der Senat schließt sich der zweiten Ansicht an und berücksichtigt dabei insbesondere folgende Gesichtspunkte:
54aa) Das Insolvenzgericht kann anstelle eines vorläufigen Insolvenzverwalters bei Anordnung der Eigenverwaltung einen vorläufigen Sachwalter bestellen, auf den die §§ 274 und 275 InsO entsprechend anzuwenden sind (§ 270a Abs. 1 Satz 2, § 270b Abs. 2 Satz 1, § 270c Satz 1 InsO). Die Aufgaben und Befugnisse des vorläufigen Sachwalters werden durch die Verweisung auf die Vorschriften für den endgültigen Sachwalter in §§ 274, 275 InsO bestimmt. Wie ein Insolvenzverwalter ist der Sachwalter für die Geltendmachung des Gesamtschadens nach § 92 InsO, für die Geltendmachung der persönlichen Haftung von Gesellschaftern nach § 93 InsO und für die Vornahme von Insolvenzanfechtungen (§§ 129 ff. InsO) zuständig (§ 280 InsO); bei ihm sind, wie bei einem Insolvenzverwalter (§ 174 Abs. 1 Satz 1 InsO), die Forderungen der Insolvenzgläubiger anzumelden (§ 270c Satz 2 InsO); er hat Masseunzulänglichkeit anzuzeigen (§ 285 InsO). Im Übrigen aber beschränkt sich – vorbehaltlich der Anordnung der Zustimmungsbedürftigkeit einzelner Rechtshandlungen durch das Insolvenzgericht auf Antrag der Gläubigerversammlung, § 277 Abs. 1 InsO – seine Rolle auf die Prüfung und Überwachung des Schuldners (§ 274 Abs. 2 und 3, § 281 Abs. 2, § 283 Abs. 2 Satz 2, § 284 Abs. 2 InsO), der gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis behält, sowie auf die Mitwirkung an einzelnen Schuldnermaßnahmen (vgl. § 275 Abs. 1, § 279 Sätze 2 und 3, § 282 Abs. 2 InsO). Nach § 274 Abs. 2 Satz 1 InsO hat der Sachwalter die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und die Geschäftsführung sowie die Ausgaben für die Lebensführung zu überwachen. Stellt der Sachwalter Umstände fest, die erwarten lassen, dass die Fortsetzung der Eigenverwaltung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird, so hat er dies unverzüglich anzuzeigen (§ 274 Abs. 3 InsO). Nach § 275 Abs. 2 InsO kann der Sachwalter vom Schuldner verlangen, dass alle eingehenden Gelder nur von ihm – dem Sachwalter – entgegengenommen und Zahlungen ebenfalls nur von ihm geleistet werden. Letzteres hat der Kläger vorliegend am 09.12.2014 getan und zu diesem Zwecke ein entsprechendes Anderkonto eröffnet.
55bb) Der Senat verkennt insofern nicht, dass mit der Übernahme der Kassenführungsbefugnis in tatsächlicher Hinsicht erhebliche Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten des Klägers auf das Vermögen und auf die Geschäftsführung der GmbH verbunden waren. Daraus allein folgt jedoch noch nicht die – für § 35 AO zusätzlich erforderliche – rechtliche Verfügungsbefugnis, mit Wirksamkeit nach außen selbst und ggf. sogar gegen den Willen der GmbH deren Vermögen mit Steuerzahlungen zugunsten des Finanzamtes zu mindern. Da eine tatsächliche Verfügungsmöglichkeit – wie dargelegt – nicht ausreicht, um die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters zu begründen, kann ein vorläufiger schwacher Sachwalter, auch wenn er in der Lage ist, durch (wirtschaftlichen) Druck auf die Verfügungen des Steuerpflichtigen einzuwirken, ebenso wie eine Bank, an die sämtliche Forderungen abgetreten sind (vgl. dazu BFH-Urteil vom 16.05.1995 VII R 38/94, BStBl II 1995, 859), nicht als Verfügungsberechtigte i.S. des § 35 AO angesehen und in Anspruch genommen werden.
56cc) Zielrichtung der (insolvenzrechtlichen) Befugnis nach § 275 Abs. 2 InsO ist es, unwirtschaftliche Bargeschäfte des Schuldners weitgehend auszuschließen, rechtswidrigen Geldabfluss zu verhindern und die Aufnahme kurzfristiger Kredite ohne Zustimmung des Sachwalters zu unterbinden. Übernimmt der Sachwalter die Kassenführung, so gehört es zu seinen insolvenzspezifischen Aufgaben, die Erfüllbarkeit von Neuverbindlichkeiten aus dem vorhandenen Kassenbestand zu überprüfen. Die Kassenführung begründet – abgesehen von den insolvenzspezifischen Pflichten gemäß §§ 274 Abs. 1, 60 InsO – jedoch keine Haftung des Sachwalters gegenüber unbeteiligten Dritten. Sie ist vielmehr intern beschränkt auf das Verhältnis zum Schuldner und den Beteiligten (Pape in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 275 Rn. 28; Wimmer-Foltis, FK-InsO, § 275 Rn 34; Uhlenbruck/Zipperer, 15. Auflage 2019, InsO § 275 Rn. 7-9). Die Vertretungsbefugnis des vorläufigen Sachwalters ist auf die Entgegennahme und Auszahlung von Geldern beschränkt, denen Erfüllungswirkung zukommt. Zu diesem Zweck ist der Sachwalter berechtigt, über die Konten des Schuldners zu verfügen, Abhebungen auszuführen und Überweisungen zu veranlassen. Der vorläufige Sachwalter kann auf diese Weise letztlich auch mitbestimmen, welche Gläubiger Zahlungen erhalten und welche nicht (Kolmann in: Kolmann, Schutzschirmverfahren, 1. Auflage 2014, Schutzschirm: Planungsphase, Rn. 443). Die Befugnis eines Sachwalters, eine Zahlung vornehmen zu dürfen, ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer darüber weit hinausgehenden Pflicht, steuerliche Pflichten des Schuldners erfüllen und – ggf. gegen den Willen des Schuldners – Steuerzahlungen vornehmen zu müssen. Vielmehr stellt auch die Übernahme der Kassenführung durch den Sachwalter eine rein interne Kontrollmaßnahme dar, durch die der vorläufige Sachwalter zu einer Art „Zahlstelle“ des Schuldners wird. Entsprechend kann der Sachwalter nicht verhindern, dass schuldbefreiend an den Schuldner geleistet wird oder der Schuldner selbst auf eine Forderung zahlt. Auch wenn der vorläufige Sachwalter im Rahmen der Kassenführung auf Rechnung des Schuldners handelt, handelt es sich hierbei letztlich nur um eine (weitere) interne Kontrollmaßnahme, die helfen soll, unwirtschaftliche Bargeschäfte des Insolvenzschuldners zu unterbinden und einen rechtswidrigen Abfluss von Geldmitteln zu verhindern. Der vorläufige Sachwalter hat dadurch jedoch – ebenso wie der endgültige Sachwalter – keine eigenen Eingriffs- und Sicherungsbefugnisse (BGH-Beschluss vom 21.07.2016 IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225, Rz. 43 f.; Graf-Schlicker in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Auflage 2020, § 274 InsO, Rz. 6). Er hat vielmehr nach § 274 Abs. 2 InsO wie der endgültige Sachwalter nur die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und die Geschäftsführung sowie die Ausgaben für die Lebensführung zu überwachen (BGH-Beschluss vom 21.07.2016 IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225).
57Aus der bloßen Übernahme der Kassenführung nach § 275 Abs. 2 InsO ergeben sich für den Sachwalter deshalb keine eigenen steuerrechtlichen Pflichten, wegen derer er in Haftung genommen werden könnte. Die Kassenführung ist für ihn ein zusätzliches Instrument der Überwachung des Schuldners. Dementsprechend nimmt er Verfügungen über das Vermögen des Schuldners grundsätzlich auch nur auf Veranlassung des Schuldners, bei dem die steuerlichen Pflichten verbleiben, vor. Der vorläufige Sachwalter schwingt sich durch die bloße Nutzung der ihm insolvenzrechtlich eingeräumten Kontrollmöglichkeit nach § 275 Abs. 2 InsO auch nicht etwa zum Verfügungsberechtigten des Schuldners auf.
58Würde demgegenüber – der Rechtsansicht des Beklagten folgend – der vorläufige Sachwalter als Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO angesehen, so würde hierdurch die diesem nach dem Willen des Gesetzgebers zukommende Aufgabe der Prüfung der wirtschaftlichen Lage und der Überwachung des im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren grundsätzlich eigenverantwortlich handelnden Insolvenzschuldners überspannt (ebenso: Sonnleitner, Insolvenzsteuerrecht, 3. Auflage 2017, Kapitel 3. Steuerliches Verfahrensrecht Rn. 241). Denn wenn die dem vorläufigen Sachwalter vom Gesetz und vom Insolvenzgericht übertragene Aufgabe darin besteht, den Schuldner zu überwachen, um die Liquidität und das Vermögen zu erhalten, so darf ein Sachwalter grundsätzlich nicht auf Zahlungen drängen oder solche vornehmen, die gläubigerschädlich sind. Es kann schlechterdings nicht erwartet werden, dass der vorläufige Sachwalter ein Verhalten unterstützt oder sogar selbst vornehmen soll, das nach den für ihn geltenden insolvenzrechtlichen Maßstäben als gläubigerschädlich gilt (vgl. dazu Thole, Der Betrieb 2015, 662, 670).
59dd) Zu der der Regelung in § 275 Abs. 2 InsO ähnlichen Vorschrift des § 57 Abs. 2 Vergleichsordnung (VerglO) hat auch das Niedersächsische Finanzgericht bereits rechtskräftig entschieden (Urteil vom 30.10.1981, XI (VI) 220/80, Entscheidungen der Finanzgerichte 1982, 386), dass ein Sachwalter nicht schon deshalb wegen der Steuerrückstände des Schuldners haftet, weil allein er die Verfügungsmacht über das Geschäftskonto des Schuldners besitze. Der Sachwalter sei allen Beteiligten (nur) für die Erfüllung seiner (insolvenzrechtlichen) Pflichten verantwortlich und habe dafür zu sorgen, dass nur solche Zahlungen erfolgten, die der Erfüllung des Vergleichsvorschlags dienten. Weitergehende Pflichten, insbesondere zur Zahlung von Steuerrückständen, ergäben sich aus der Verfügungsmacht über das Geschäftskonto nicht. Entsprechendes ist nach Ansicht des Senates auch auf den vorläufigen Sachwalter mit Kassenführungsbefugnis zu übertragen.
60ee) Soweit der BFH in seinem Urteil vom 13.09.1988 (VII R 35/85, BFH/NV 1989, 139) entschieden hat, dass der dortige Kläger als Sachwalter der Vergleichsgläubiger (§ 91 Abs.1 VerglO) Verfügungsberechtigter i.S. von § 35 AO sei und damit die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters habe, kann diese Entscheidung nicht auf den hiesigen Streitfall übertragen werden. In dem vom BFH entschiedenen Fall war der Sachwalter aufgrund eines zwischen ihm und der Schuldnerin abgeschlossenen Notarvertrags berechtigt, über das Anlage- und Umlaufvermögen der Schuldnerin – wenn auch mit einer gewissen Zweckbindung der Verwertungserlöse zugunsten der Vergleichsgläubiger – zu verfügen und alle hierzu erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Durch die ihm übertragene Verfügungsbefugnis (§ 185 Bürgerliches Gesetzbuch) ginge seine Stellung – so der BFH – über diejenige eines gewöhnlichen Sachwalters i.S. von § 91 VerglO hinaus, der regelmäßig nur Überwachungsfunktionen habe. Solche „überschießenden“ Rechte standen dem Kläger im Streitfall jedoch nicht zu. Trotz der Übernahme der Kassenführung ging seine Stellung nicht über diejenigen eines gewöhnlichen Verwalters hinaus. Insbesondere waren weiterhin allein die GmbH bzw. deren Geschäftsführer nach § 270 Abs. 1 Satz 1 InsO verfügungsbefugt.
61ff) Schließlich spricht gegen eine Haftungsinanspruchnahme des Klägers nach §§ 69, 34 Abs. 1, 35 AO, dass er nicht als Verfügungsberechtigter für die GmbH nach außen aufgetreten ist.
62Ein solches Auftreten setzt eine eigene Teilnahme am Rechtsverkehr voraus, wobei bereits das Auftreten gegenüber Kreditinstituten oder Gläubigern genügt. Nicht ausreichend ist jedoch, dass der vorläufige Sachwalter aufgrund der Übernahme der Kassenführung das Recht hat, als Verfügungsberechtigter aufzutreten. Vielmehr muss er dieses Recht auch im Außenverhältnis ausgeübt haben, wobei allein das Einrichten eines Anderkontos – wie vorliegend – nicht ausreicht, um ein Auftreten als Verfügungsberechtigter anzunehmen. Denn sofern der Sachwalter ein Anderkonto einrichtet, trifft er die Verfügungen über das dort vorhandene Guthaben im eigenen Namen und gerade nicht als Verfügungsberechtigter für den Schuldner (vgl. dazu Undritz/Schur, ZIP 2016, 549, 555). Dessen ungeachtet ist vorliegend weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Lohnsteuer nebst Solidaritätszuschlag für November 2014 am 10.12.2014 nach außen Verfügungen über das Anderkonto vorgenommen hätte oder als Verfügungsberechtigter für die GmbH aufgetreten wäre.
63II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
64Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
65III. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zuzulassen.