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Es wird festgestellt, dass die Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013 vom 25. April 2017 mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe nicht wirksam geworden sind.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Strittig ist, ob die an den Kläger gerichteten Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013 (Streitjahre) vom 25. April 2017 ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sind.
3Der Kläger, dessen Ehefrau ihren Wohnsitz in Z-Stadt hat und mit der er ursprünglich für die Streitjahre zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurde, hat seit 2013 seinen ausschließlichen Wohnsitz in der Schweiz. Nachdem seine Ehefrau für die Jahre 2009 bis 2012 die getrennte und für das Jahr 2013 die Einzelveranlagung beantragt hatte, forderte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 14. Oktober und 14. November 2016 auf, Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre abzugeben und einen inländischen Empfangsbevollmächtigten zu benennen. Er wies den Kläger im letztgenannten Schreiben darauf hin, dass die für ihn, den Kläger, bestimmten Schriftstücke nur durch öffentliche Zustellung bekannt gegeben werden könnten, wenn er keinen Empfangsbevollmächtigten angebe. Daraus könnten ihm steuerliche Nachteile entstehen. Die Benennung eines Empfangsbevollmächtigten liege daher im eigenen Interesse des Klägers. Der Kläger teilte dem Beklagten mit Schreiben vom 29. November 2016 mit, dass er Schriftstücke an seine Anschrift in der Schweiz erbitte und nicht an Dritte. Einkommensteuererklärungen gab er nicht ab.
4Der Beklagte hob daher die im Wege der Zusammenveranlagung ergangenen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre, soweit sie den Kläger betrafen, durch Bescheide vom 25. April 2017 auf und erstellte mit gleichem Datum Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013, durch die er den Kläger getrennt von seiner Ehefrau bzw. einzeln zur Einkommensteuer veranlagte. Die den Steuerfestsetzungen zugrunde liegenden Besteuerungsgrundlagen schätzte er gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO).
5Ebenfalls am 25. April 2017 ordnete der Beklagte die öffentliche Zustellung der Einkommensteuerbescheide und der Aufhebungsbescheide an. Die Benachrichtigungen über die öffentliche Zustellung wurden am selben Tag im Finanzamt ausgehängt und am 10. Mai 2017 wieder abgenommen. Mit Schreiben vom 25. April 2017 informierte der Beklagte den Kläger über die öffentliche Zustellung und übersandte ihm Kopien der Einkommensteuerbescheide und der Aufhebungsbescheide.
6Mit Schreiben vom 30. Mai 2017, gerichtet an den Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen (FM NRW), dort eingegangen am 12. Juni 2017, legte der Kläger „Widerspruch“ gegen die Einkommensteuerbescheide 2009 bis 2013 ein. Das FM NRW leitete das Schreiben am 21. Juni 2017 an den Beklagten weiter, der es als Einspruch gegen die Einkommensteuerbescheide vom 25. April 2017 auslegte und diesen durch Einspruchsentscheidung vom 6. März 2018 als unzulässig, weil verfristet, verwarf.
7Der Kläger hat daraufhin am 6. April 2018 Klage erhoben, mit der er die Feststellung begehrt, dass die Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013 vom 25. April 2017 mangels ordnungsgemäßer Bekanntgabe nicht wirksam geworden seien. Es sei nicht ersichtlich, weshalb die Bescheide nicht an die seine, dem Beklagten bekannte Adresse in der Schweiz hätten übermittelt werden können. Er, der Kläger, sei kein erfahrungsgemäß unzuverlässiger Steuerpflichtiger. Er habe der postalischen Übermittlung von Schriftstücken auch nicht widersprochen. Deren öffentliche Zustellung sei deshalb rechtswidrig bzw. ermessensfehlerhaft und damit unwirksam.
8Der Beklagte habe zudem nicht sämtliche Ermittlungs- bzw. Übermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, wie es das Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) erfordere. Die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung seien nicht erfüllt. Sein Aufenthaltsort sei nicht unbekannt gewesen. Er habe seine neue Anschrift mitgeteilt und gebeten, die Post an seine Schweizer Adresse zu richten. Die unterbliebene Benennung eines inländischen Empfangsbevollmächtigten könne nicht zu negativen Konsequenzen führen. Nach § 123 Satz 2 AO gelte bei unterbliebener Benennung eines Empfangsbevollmächtigten ein an den Steuerpflichtigen gerichtetes Schreiben einen Monat nach Aufgabe zur Post als zugegangen. Dies wäre im Streitfall der 25. Mai 2017 gewesen. Die Einspruchsfrist sei dann erst am 25. Juni 2017 abgelaufen. Nach § 8 VwZG sei der der öffentlichen Zustellung anhaftende Mangel durch den tatsächlichen Zugang der Kopien der Bescheide als am 19. Mai 2017 geheilt anzusehen. Die Einspruchsfrist habe bei dieser Sicht nicht bereits am 9. Mai 2017, sondern erst am 19. Mai 2017 begonnen und folglich auch erst am 19. Juni 2017 geendet. Der Einspruch sei daher in keinem Fall verfristet.
9Der Kläger beantragt,
101. festzustellen, dass die Einkommensteuerbescheide 2009 bis 2013 vom 25. April 2017 nicht wirksam bekannt gegeben worden sind,
112. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
12Der Beklagte beantragt,
131. die Klage abzuweisen,
142. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
15Der Beklagte ist der Ansicht, dass die Bekanntgabe deutscher Steuerbescheide für Besteuerungszeiträume vor 2018 in der Schweiz nicht durch einfachen Brief habe erfolgen dürfen. Da auch eine Zustellung solcher Bescheide in der Schweiz zum Zeitpunkt des Aushangs der an den Kläger gerichteten Bescheide nicht möglich gewesen sei und der Kläger keinen inländischen Empfangsbevollmächtigten benannt habe, habe die Bekanntgabe nur durch öffentliche Zustellung erfolgen können. Nach § 122 Abs. 5 Satz 1 AO könne die Finanzbehörde nach ihrem Ermessen die Zustellung eines Steuerbescheides anordnen. Da die Steuer unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen habe festgesetzt werden müssen, sei die Zustellung aus Beweisgründen zulässig und zweckmäßig gewesen.
16Das Gericht hat die den Streitfall betreffenden Steuerakten des Beklagten beigezogen.
17Entscheidungsgründe
18I. Die Klage ist zulässig.
19Nach § 41 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann eine Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird (§ 41 Abs. 2 Satz 2 FGO). § 41 Abs. 2 Satz 2 FGO findet auch auf den Fall Anwendung, dass der Kläger die Feststellung nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe eines Steuerbescheides und damit dessen Nichtwirksamwerden (vgl. § 124 Abs. 1 AO) begehrt (vgl. BFH-Beschluss vom 16. September 2004 VII B 20/04, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2005, 231). Die Zulässigkeit der Klage hängt auch nicht davon ab, dass der Kläger vorher nach § 125 Abs. 5 AO die Feststellung der Nichtigkeit beim Finanzamt beantragt hat (ebenso Urteil des Finanzgerichts – FG – Hamburg vom 30. Januar 2004 III 81/02, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2004, 1003).
20II. Die Klage ist auch begründet.
21Die Einkommensteuerbescheide 2009 bis 2013 vom 25. April 2017 sind nicht i. S. von § 124 Abs. 1 AO wirksam geworden, weil der Beklagte sie nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben hat.
22Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO). Dies gilt nach § 155 Abs. 1 Satz 2 AO auch für Steuerbescheide.
23Der Beklagte hat nach der vom Gericht beigezogenen Einkommensteuerakte angeordnet, dass die an den Kläger gerichteten Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013 vom 25. April 2017, durch die der Kläger abweichend von den zuvor ergangenen Zusammenveranlagungsbescheiden getrennt von seiner Ehefrau bzw. einzeln zur Einkommensteuer veranlagt werden sollte, gemäß § 122 Abs. 5 Satz 1 und 2 AO i. V. m. dem VwZG zugestellt werden. Die Zustellung hat er gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 VwZG bewirkt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift lagen indes nicht vor, weshalb die Bekanntgabe in Form einer Zustellung nicht ordnungsgemäß war und deshalb nicht zum Wirksamwerden der Bescheide geführt hat.
241. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 VwZG kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn sie im Fall des § 9 VwZG nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 VwZG erfolgt eine Zustellung im Ausland durch Einschreiben mit Rückschein, soweit die Zustellung von Dokumenten unmittelbar durch die Post völkerrechtlich zulässig ist. Entgegen der Ansicht des Beklagten war von einer völkerrechtlich zulässigen Zustellung von Dokumenten unmittelbar durch die Post an einen in der Schweiz wohnhaften, der deutschen (beschränkten) Steuerpflicht unterliegenden Steuerpflichtigen bereits ab dem 1. Januar 2017 und damit zum Zeitpunkt der Benachrichtigung des Klägers über die öffentliche Zustellung am 25. April 2017 auszugehen.
25Nach Art. 1 Abs. 2 Buchstabe c des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen vom 25. Januar 1988 i. d. F. des Protokolls vom 27. Mai 2010 (im Weiteren kurz: Übereinkommen) umfasst die Amtshilfe, die die Vertragsparteien einander gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Übereinkommens in Steuersachen leisten, die Zustellung von Schriftstücken. Nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens stellt der ersuchte Staat auf Ersuchen des ersuchenden Staates dem Empfänger die Schriftstücke, einschließlich derjenigen zu Gerichtsentscheidungen, zu, die aus dem ersuchenden Staat stammen und eine unter das Übereinkommen fallende Steuer betreffen. Eine Vertragspartei kann die Zustellung von Schriftstücken nach Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens an eine Person im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei auch unmittelbar durch die Post vornehmen.
26Der Deutsche Bundestag hat dem Übereinkommen i. d. F. des Protokolls vom 27. Mai 2010 mit Zustimmung des Bundesrates durch Gesetz vom 16. Juli 2015 zugestimmt (BGBl. II 2015, 966). Nach der Ratifikation des Übereinkommens am 28. August 2015 ist es für die Bundesrepublik Deutschland am 1. Dezember 2015 in Kraft getreten (BGBl. II 2015, 1277). Die Schweiz hat das Übereinkommen am 26. September 2016 ratifiziert. In Kraft getreten ist es dort am 1. Januar 2017 (Amtliche Sammlung des Bundesrechts – AS – 2016, 5071). Sie hat gestützt auf Art. 30 Abs. 1 Buchstabe d des Übereinkommens den Vorbehalt erklärt, keine Amtshilfe bei der Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens im Zusammenhang mit Steuern, die in Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgelistet sind, zu leisten (Vorbehalt Nr. 4). Zu diesen Steuern gehören auch die Steuern vom Einkommen (Art. 2 Abs. 1 Buchstabe a Unterbuchstabe i des Übereinkommens). Einen Vorbehalt hinsichtlich der Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens hat die Schweiz nicht erklärt, obwohl sie nach Art. 30 Abs. 1 Buchstabe e des Übereinkommens sich das Recht hätte vorbehalten können, die in Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens vorgesehene Zustellung von Schriftstücken durch die Post nicht zu gestatten.
27Daraus folgt jedoch noch nicht ohne Weiteres, dass die Zustellung von Schriftstücken nach Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens bereits ab dem 1. Januar 2017 zulässig war; denn nach Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens gilt das Übereinkommen in der durch das Protokoll von 2010 geänderten Fassung für die Amtshilfe (erst) im Zusammenhang mit Besteuerungszeiträumen, die am oder nach dem 1. Januar des Jahres beginnen, das auf das Jahr folgt, in dem das Übereinkommen in der durch das Protokoll von 2010 geänderten Fassung für eine Vertragspartei in Kraft getreten ist. Dies sind in der Bundesrepublik Deutschland Besteuerungszeiträume ab dem Veranlagungszeitraum 2018, weil der Veranlagungszeitraum 2017 am 1. Januar 2017 begann (§ 25 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes), Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens aber das Inkrafttreten auf Besteuerungszeiträume beschränkt, die am 1. Januar des Jahres beginnen, das auf das Jahr folgt, in dem das Übereinkommen in der durch das Protokoll von 2010 geänderten Fassung für eine Vertragspartei in Kraft getreten ist. Für die Schweiz ist dies das Jahr 2017.
28Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und das FM NRW schließen aus Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens, dass deutsche Steuerverwaltungsakte, die – wie im Streitfall – die Festsetzung von Einkommensteuer betreffen, erstmals für Besteuerungszeiträume ab dem 1. Januar 2018 an Empfänger in der Schweiz gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens postalisch zugestellt werden dürfen (BMF-Schreiben vom 1. Februar 2018 IV B 6 - S 1300/07/10011 :009, nicht veröffentlicht – n. v. –, zitiert vom Landesamt für Steuern Rheinland-Pfalz, Verfügung vom 27. März 2018 S 0284 A-St 35 2, juris, Tz. 1 und Tz. 5.21; FM NRW, Erlass vom 8. Juli 2019 S 0284, AO-Kartei NW § 122 AO Karte 803 und juris [FMNR 314400018]). Für frühere Besteuerungszeiträume gewähre die Schweiz keine Amtshilfe. Zustellungen seien, so das FM NRW, in diesen Fällen, sofern – wie im Streitfall – kein inländischer Empfangsbevollmächtigter benannt sei, durch öffentliche Zustellung zu bewirken.
29Der Senat hält dagegen eine Zustellung deutscher Verwaltungsakte, soweit sie Steuern betreffen, die – wie die Einkommensteuer – unter Art. 2 Abs. 1 Buchstabe a des Übereinkommens fallen, bereits ab dem 1. Januar 2017 und ohne Einschränkung, welche Besteuerungszeiträume sie betreffen, nach Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens für zulässig, weil er eine Auslegung des Begriffs „Amtshilfe“ in Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens für geboten hält, nach der dieser Begriff die Zustellung von Schriftstücken nach Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens nicht umfasst. Dies hat zur Folge, dass die Einschränkungen, die Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Überkommens hinsichtlich der zeitlichen Anwendbarkeit des Übereinkommens vorsieht, für die Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens nicht gelten.
30Maßgebend für die Interpretation eines Gesetzes ist der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Der Feststellung des zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willens des Gesetzgebers dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatikalische Auslegung), aus dem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung); zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter dieser verschiedenen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen. Insbesondere bei der Auslegung einer Norm aus ihrem Wortlaut ist zu berücksichtigen, dass diese nur eine von mehreren anerkannten Auslegungsmethoden ist, zu denen auch die systematische Auslegung zählt. Nach Letzterer ist darauf abzustellen, dass einzelne Rechtssätze, die der Gesetzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gebracht hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, dass sie logisch miteinander vereinbar sind. Ziel jeder Auslegung ist die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. Gegen seinen Wortlaut ist die Auslegung eines Gesetzes allerdings nur ausnahmsweise möglich, wenn die wortgetreue Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt, das vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann, oder wenn sonst anerkannte Auslegungsmethoden dies verlangen (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Juli 2016 IV R 26/14, Bundessteuerblatt II 2017, 202, Rz. 36).
31Dabei ist im Streitfall allerdings zu berücksichtigen, dass die auszulegenden Bestimmungen ungeachtet der Überführung in deutsches Recht aufgrund des Zustimmungsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes völkerrechtlichen Ursprungs sind, nämlich des Übereinkommens als eines völkerrechtlichen Vertrags, den die Mitgliedstaaten des Europarats und die Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) abgeschlossen haben. Nach Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV) vom 23. Mai 1969, das in der Bundesrepublik Deutschland am 20. August 1987 in Kraft getreten ist (BGBl. II 1987, 757), ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde sowie jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde. Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen sowie jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht; ferner jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz. Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben (Art. 31 Abs. 2 bis 4 WÜRV). Das Abstellen auf den Wortlaut in Art. 31 Abs. 1 WÜRV bedeutet indes nicht, dass der grammatikalischen Auslegung der Vorzug zu geben ist. Art. 31 Abs. 1 WÜRV stellt lediglich klar, dass die Auslegung mit der Frage nach dem Wortsinn beginnt, ohne die teleologische Auslegung als nachrangig zu qualifizieren. Es gibt keinen Primat der einen oder anderen Auslegungsmethode. Alle Auslegungsmethoden sind vielmehr lediglich Hilfsmittel, den Sinn von Abkommensnormen zu erschließen, was einen Rückgriff auf den Vertragszweck voraussetzt (vgl. Häck in Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Aufl., Rz. 19.63). Der Senat hält deshalb die innerstaatlich anerkannten Auslegungsregeln im Ergebnis und der Sache nach auch für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge und damit des Übereinkommens für anwendbar, soweit sie dazu dienen, zu einem dem primären Vertragszweck entsprechenden Auslegungsergebnis zu gelangen.
32Nach der grammatikalischen Auslegung könnte der Begriff „Amtshilfe“ in Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens jede Form der Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 des Übereinkommens umfassen, weil die Amtshilfe nach Art. 1 Abs. 2 Buchstabe c des Übereinkommens die Zustellung von Schriftstücken ohne Einschränkung auf bestimmte, in Art. 17 des Übereinkommens vorgesehene Formen der Zustellung umfasst, was dafür spricht, Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens wie vom FM NRW vertreten auszulegen. Allerdings spricht Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens davon, dass „eine Vertragspartei … die Zustellung von Schriftstücken … unmittelbar durch die Post vornehmen (kann)“, was für ein ausschließlich eigenes, Amtshilfe nicht in Anspruch nehmendes Vorgehen der die Zustellung veranlassenden Vertragspartei spricht.
33Die systematische Auslegung spricht eher dafür, den Begriff „Amtshilfe“ in Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens einschränkend auszulegen, nämlich dergestalt, dass sie lediglich Amtshilfe i. S. von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens umfasst. Abgesehen davon, dass es bei der Zustellung von Schriftstücken durch die Post gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens keiner Mithilfe von Amtsträgern wie in Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens vorgesehen bedarf, differenziert die Regelung in Art. 30 Abs. 1 des Übereinkommens nach Vorbehalten, „keine Amtshilfe“ zu leisten (so Art. 30 Abs. 1 Buchstabe a bis d des Übereinkommens) und dem Vorbehalt, die in Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens vorgesehene Zustellung von Schriftstücken durch die Post nicht „zu gestatten“ (Art. 30 Abs. 1 Buchstabe e des Übereinkommens). Das Übereinkommen selbst sieht daher an dieser Stelle die Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens nicht als Amtshilfe, sondern als bloße Gestattung, die von einem Vorbehalt gemäß Art. 30 Abs. 1 Buchstabe d des Übereinkommens nicht umfasst wäre, weshalb dazu eine eigenständige Vorbehaltsregelung geschaffen wurde. Folgerichtig hat die Schweiz – entsprechend dieser Differenzierung – bei der Zustellung von Schriftstücken gemäß Nr. 4 der Vorbehaltserklärungen die Amtshilfe nur insoweit ausgeschlossen, als sie nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zu leisten wäre. Von der Möglichkeit des Vorbehalts gemäß Art. 30 Abs. 1 Buchstabe e des Übereinkommens hat sie dagegen keinen Gebrauch gemacht, was dafür spricht, dass sie die Gestattung der Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens nicht als Amtshilfe ansieht. Andernfalls hätte es nahegelegen, auch von diesem Vorbehalt Gebrauch zu machen, um jede Form der Amtshilfe bei der Zustellung von Schriftstücken auszuschließen.
34Eine Auslegung anhand von (Gesetzes-)Materialien oder der Entstehungsgeschichte des Übereinkommens bzw. der deutschen und schweizerischen Zustimmungsgesetze ergibt nach den dem Senat zugänglichen Erkenntnisquellen keine Anhaltspunkte für ein bestimmtes Auslegungsergebnis. Die deutsche Bundesregierung hat bei Vorlage des Zustimmungsgesetzes nicht zu erkennen gegeben, wie der Begriff „Amtshilfe“ in Art. 28 Abs. 6 des Übereinkommens in Bezug auf die Zustellung von Schriftstücken zu verstehen ist (vgl. Bundestags-Drucks. 18/5173, 42). Auch dem Kommentar der OECD zum Übereinkommen ist dazu, soweit für den Senat ersichtlich, nichts zu entnehmen (Commentary on the Provisions of the Convention; vgl. https://www.oecd.org/ctp/exchange-of-tax-information/Explanatory_Report_ENG_%2015_04_2010.pdf). Soweit das BMF im Schreiben vom 1. Februar 2018 IV B 6 - S 1300/07/10011 :009, n. v.) ausführt, dass die postalische Zustellung als eine Form der Amtshilfe „erachtet“ wird, ist diese Einschätzung ohne Erkenntniswert, weil das BMF in seinem Schreiben nicht offenlegt, worauf diese Einschätzung beruht.
35Die teleologische Auslegung spricht dafür, Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens einschränkend in der Weise auszulegen, dass die Gestattung einer Vertragspartei zugunsten einer anderen Vertragspartei, die Zustellung von Schriftstücken an eine Person im Hoheitsgebiet der erstgenannten Vertragspartei unmittelbar durch die Post vorzunehmen, nicht unter den Begriff „Amtshilfe“ in dieser Vorschrift fällt. Art. 28 Abs. 6 des Übereinkommens dient ersichtlich dazu, die Verpflichtungen, die eine Vertragspartei durch den Beitritt zum Übereinkommen eingeht, erst für die Zukunft entstehen zu lassen, soweit sie von Amtsträgern dieser Vertragspartei zu erfüllen sind. Insbesondere der Informationsaustausch gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a i. V. m. den Art. 4 bis 10 des Übereinkommens, den die Schweiz nach den Vorbehalten Nr. 1 bis 3 zum Übereinkommen nur teilweise ausgeschlossen hat, kann angesichts der großen Zahl von Staaten, die dem Übereinkommen bereits beigetreten sind, erhebliche personelle Kapazitäten innerhalb der Schweizerischen Finanzverwaltung in Anspruch nehmen. Würde sich der Informationsaustausch auch auf Besteuerungszeiträume beziehen, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Übereinkommens bereits abgelaufen waren, so könnten auf jede dem Übereinkommen beitretende Vertragspartei allein in diesem Bereich nahezu unabsehbare Amtshilfeverpflichtungen zukommen. Es ist daher naheliegend, diese Verpflichtungen durch eine Regelung wie in Art. 28 Abs. 6 des Übereinkommens dadurch zu begrenzen, dass sie lediglich nach und nach für die Zukunft entstehen. Nur dann, wenn zwei oder mehr Vertragsparteien ausreichende personelle Ressourcen für Amtshilfe auch für frühere Besteuerungszeiträume oder Steuerverbindlichkeiten sehen, können sie insoweit nach Art. 28 Abs. 6 Satz 2 des Übereinkommens dieses auch mit Wirkung für diese Besteuerungszeiträume oder Steuerverbindlichkeiten in Kraft setzen.
36Diese Erwägungen treffen auf die Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens nicht zu. Bei dieser Form der Zustellung bedient sich die Vertragspartei, die das Schriftstück zustellen will, keiner Behörde bzw. keines Amtsträgers der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet der Adressat des Schriftstücks seinen Wohnsitz hat. Amtshilfe durch den bei einer Zustellung gemäß Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens ersuchten Staat wird in diesem Fall gerade nicht in Anspruch genommen, und zwar noch nicht einmal in der Weise, dass dieser das Schriftstück seinerseits in der Form zustellen lässt, die sein innerstaatliches Recht für die Zustellung im Wesentlichen ähnlicher Schriftstücke vorschreibt (vgl. Art. 17 Abs. 2 Buchstabe a des Übereinkommens), d. h. ggf. ebenfalls lediglich durch Aufgabe zur Post mittels eines Verfahrens mit qualifiziertem Bekanntgabenachweis wie dem Einschreiben mit Rückschein (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 1 VwZG).
37Die teleologische Auslegung führt daher nicht zu einem Ergebnis, das von den Vertragsparteien erkennbar nicht gewollt war. Die Schweiz hat durch den auf Art. 30 Abs. 1 Buchst. d des Übereinkommens gestützten Vorbehalt Nr. 4 vielmehr nur ausschließen wollen, für andere Vertragsstaaten als Schriftstücke übermittelnder Bote i. S. von Art. 17 Abs. 2 des Übereinkommens in Anspruch genommen zu werden, dessen es auch nicht bedarf, wenn es – wie im Fall der Schweiz – keinen Vorbehalt gemäß Art. 30 Abs. 1 Buchstabe e des Übereinkommens gibt, weil dann der Staat, der das Schriftstück zustellen will, dies von seinem Hoheitsgebiet aus in gleicher Weise bewirken kann, indem er einen Postdienstleister damit beauftragt. Kommen danach aber auf die Schweiz im Bereich der Zustellung von Schriftstücken keine von ihren Behörden bzw. Amtsträgern zu erfüllende Verpflichtungen zu, so ist nicht ersichtlich, warum die Schweiz ein Interesse daran haben sollte, Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens auch in diesem Bereich angewandt zu wissen.
38Da die grammatikalische Auslegung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt, systematische und insbesondere teleologische Auslegung aber in besonderem Maße dafür sprechen, den Begriff „Amtshilfe“ in Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens dahin auszulegen, dass er die Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens nicht umfasst, legt der Senat Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens in dieser Weise aus. Für diese Auslegung spricht aus Sicht des Senats zudem das Gebot effektiven Rechtsschutzes (so auch der Schweizerische Bundesrat in seiner Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens vom 5. Juni 2015, Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft – BBl – 2015, 5585, 5611 f.). Darf eine Zustellung von Schriftstücken auch für Besteuerungszeiträume vor 2018 gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens und damit durch Einschreiben mit Rückschein nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 VwZG erfolgen, so erreichen die Schriftstücke den Adressaten in einer Weise, dass er von ihnen Kenntnis nehmen kann. Dies ist bei einer Zustellung gemäß § 10 Abs. 1 VwZG indes nur in seltenen Ausnahmefällen gegeben, nämlich dann, wenn der Adressat von der Benachrichtigung erfährt. Verweigert der Adressat allerdings die Annahme des durch Einschreiben zuzustellenden Schriftstücks, so verspricht diese Form der Zustellung keinen Erfolg i. S. von § 10 Abs. 1 Nr. 3 VwZG, so dass die Finanzbehörde jedenfalls dann von der öffentlichen Zustellung Gebrauch machen darf (vgl. zu möglichen Folgen der grundlosen Verweigerung der Annahme eines Einschreibens im Bereich des Zivilrechts auch Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. Oktober 1982 V ZR 24/82, Neue Juristische Wochenschrift 1983, 929).
392. Da die Zustellung der Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013 vom 25. April 2017 durch Einschreiben mit Rückschein unmittelbar durch die Post in der Schweiz zu diesem Zeitpunkt bereits völkerrechtlich zulässig war, durfte die Zustellung nicht durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen. Es lagen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger die Annahme des Einschreibens verweigert hätte. Der Kläger hat vielmehr die Übermittlung der Schriftstücke an sich erbeten, was dafür spricht, dass er sie angenommen hätte. Außerdem war sein Wohnsitz bekannt, sodass die öffentliche Zustellung weder nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 VwZG noch nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 VwZG zulässig war. Die Zustellung als Bekanntgabe mit Bekanntgabenachweis war mithin in der vom Beklagten gewählten Form nicht ordnungsgemäß, weshalb die Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2013 vom 25. April 2017 nicht nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO wirksam geworden sind.
40III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
41IV. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, weil es an einer höchstrichterlichen Entscheidung dazu fehlt, ob Art. 28 Abs. 6 Satz 1 des Übereinkommens auch für die Zustellung von Schriftstücken gemäß Art. 17 Abs. 3 des Übereinkommens gilt.