Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 07.01.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.03.2013 verpflichtet, dem Kläger Kindergeld für seine Söhne Benjamin und Marcel für den Zeitraum Juni 2011 bis März 2013 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
2Streitig ist das Kindergeld für die Kinder des Klägers (Benjamin, geb. am 03.06.1999 und Marcel, geb. am 09.01.2003) für den Zeitraum Juni 2011 bis einschließlich März 2013 (Streitzeitraum).
3Der Kläger wohnt seit 1996 in Deutschland. Er hat bis zu seiner Erkrankung in Deutschland gearbeitet. Im Streitzeitraum bezog er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Seine Kinder lebten im Streitzeitraum bei der nicht erwerbstätigen Ehefrau, … (Kindsmutter), in Polen. Die Kindsmutter hat erklärt, dass der Kläger das Kindergeld erhalten soll.
4Mit Bescheid vom 07.01.2013 lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag des Klägers ab. Die Kindsmutter übe in Polen eine Erwerbstätigkeit bzw. einen gleichgestellten Tatbestand aus und sei daher vorrangig anspruchsberechtigt.
5Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 07.03.2013 als unbegründet zurück. Die Ansprüche des Klägers und der Kindsmutter würden ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst (sog. Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation). Wegen des Wohnortes der Kinder in Polen sei Polen vorrangig anspruchsverpflichtet. Deutschland schulde keine Unterschiedsbeträge.
6Der Kläger verfolgt sein Begehren weiter mit der Klage: Im Streitzeitraum habe er einen gemeinsamen Haushalt mit der Kindsmutter in Polen unterhalten. Dort habe kein Anspruch auf Kindergeld bestanden, da das Familieneinkommen die maßgebliche Einkommensgrenze überschritten habe. Zur Darlegung des Familieneinkommens in den Jahren 2009 und 2010 hat der Kläger die entsprechenden Bescheide über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vorgelegt, auf die Bezug genommen wird (Bl. 34, 37, 40, 148-150 der Gerichtsakte –GA-). Mangels Anspruchs auf polnische Familienleistungen seien die Prioritätsregeln des Art. 68 der Verordnung (EG) Nummer 883/2004 nicht anwendbar.
7Der Kläger beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 07.01.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.03.2013 zu verpflichtet, ihm Kindergeld für seine Söhne Benjamin und Marcel für den Zeitraum Juni 2011 bis März 2013 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Unter Berücksichtigung der nachgereichten Unterlagen sei davon auszugehen, dass der Kläger und die Kindsmutter in Polen einen gemeinsamen Haushalt unterhielten. Gleichwohl sei ein Anspruch auf Kindergeld zu verneinen, weil gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b Ziffer iii VO Nr. 883/2004 Polen vorrangig zur Gewährung der Familienleistungen zuständig sei. Die Gewährung von Differenzkindergeld sei nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 ebenfalls ausgeschlossen, da die Leistungsansprüche ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst würden. Für die Monate Juni 2011 bis Oktober 2012 sei die Einkommensgrenze für polnische Familienleistungen i.H.v. jährlich 24.192 PLN (4x 504 PLN x 12 Monate) nicht überschritten. Ausweislich des Schreibens der Deutschen Rentenversicherung … vom 21.02.2017 (Bl. 175 GA) habe der Kläger im Jahr 2009 2.256 € und im Jahr 2010 2.460 € Arbeitslosengeld II erhalten. Zudem seien dem Kläger im Jahr 2009 insgesamt 1.480 € und im Jahr 2010 1.680 € Kindergeld gezahlt worden. Mithin betrage das nachgewiesene Familieneinkommen im Jahr 2009 3.736 € und im Jahr 2010 4.140 €. Bei einem Umrechnungsfaktor von ca. 4 werde die Einkommensgrenze nicht überschritten. Für die Monate ab November 2012 stehe hingegen fest, dass materiell-rechtlich kein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestanden habe, weil die polnische Verbindungsstelle mitgeteilt habe, dass das Familieneinkommen zu hoch gewesen sei. Gleichwohl komme auch für diese Monate die Festsetzung von Kindergeld nicht in Betracht. Es sei bei einer Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation unerheblich, ob und ggf. in welcher Höhe im Einzelfall tatsächlich ein Anspruch auf ausländische Familienleistungen bestehe. Es komme vielmehr darauf an, ob prinzipiell eine Familienleistung vorgesehen sei.
12Das Gericht hat die Kindergeldakte zum Verfahren beigezogen. Auf den übersandten Verwaltungsvorgang und auf die Schriftsätze der Beteiligten wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.
13Entscheidungsgründe
14Die Klage ist begründet.
15Der angefochtene Ablehnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, vgl. § 101 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO-; die Beklagte hat den Kindergeldanspruch unzutreffend abgelehnt.
16Der Kläger ist kindergeldberechtigt, weil er in Deutschland einen Wohnsitz hat und Vater zweier Söhne ist, die ihren Wohnsitz in Polen haben (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes –EStG-). Dass die Kinder Ihren Wohnsitz in Polen haben, steht dem Anspruch auf Kindergeld nicht entgegen, § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG a.F. Dem Anspruch steht ebenfalls nicht entgegen, dass der Kläger Leistungen nach dem SGB II bezieht (vgl. Bundesfinanzhof -BFH- Urteile vom 23. August 2016 V R 2/14, BFH/NV 2016, 1725; vom 28. April 2016 III R 50/12, BFH/NV 2016, 1471). Ferner ist zwischen den Beteiligten nunmehr unstreitig, dass die Kinder in einem gemeinsamen Haushalt zwischen Kläger und Kindsmutter in Polen lebten. Eine vorrangige Kindergeldberechtigung der Kindsmutter entsprechend der Rechtsprechung zu den Fällen eines fehlenden gemeinsamen Haushaltes (vgl. etwa BFH, Urteil vom 04. Februar 2016 III R 17/13, BStBl II 2016, 612) ist vorliegend daher nicht gegeben. Vielmehr ist der Kläger gegenüber der Kindsmutter vorrangig berechtigt, weil eine entsprechende Berechtigtenbestimmung i.S.d. § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG vorliegt.
17Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Kindergeldanspruch auch nicht gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b Ziffer iii VO Nr. 883/2004 bzw. Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.
18Denn nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO Nr. 883/2004 gelten die in dieser Vorschrift niedergelegten Prioritätsregeln nur, wenn „für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren [sind]“. Hieraus schließt die ganz einhellige Rechtsprechung der Finanzgerichte (vgl. FG Bremen, Gerichtsbescheid vom 27. Februar 2017 3 K 77/16, zitiert nach juris, m.w.N.) – der sich das erkennende Gericht anschließt –, dass dann, wenn Leistungen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates z.B. wegen der Höhe des Einkommens oder des Alters des Kindes nicht zu gewähren sind, mangels Anspruchskonkurrenz zwischen Ansprüchen auf Familienleistungen für dasselbe Kind in zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union der Anwendungsbereich der Prioritätsregeln nicht eröffnet ist. Wird also in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat – hier: Polen gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO Nr. 883/2004 – für ein Kind keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erbracht, weil Einkommens- oder Altersgrenzen überschritten oder andere Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, müssen die – hier: in Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO Nr. 883/2004 – allein durch den Wohnort der berechtigten Person ausgelösten Ansprüche auf Familienleistungen für das in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat lebende Kind erfüllt werden. Eine Bestätigung dieser finanzgerichtlichen Rechtsprechung sieht das Gericht in dem Urteil des BFH vom 22. Februar 2018 (III R 10/17, BStBl II 2018, 717). Dort führt der BFH aus, dass wenn in dem anderen Mitgliedstaat kein konkurrierender Anspruch besteht, Deutschland als allein zuständiger Mitgliedstaat zur Zahlung von Kindergeld in Höhe der vollen in § 66 Abs. 1 EStG vorgesehenen Beträge verpflichtet ist.
19Dies ist auch vorliegend der Fall. Denn zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass ein Anspruch der den polnischen Rechtsvorschriften unterliegenden Kindsmutter auf Familienleistungen in Polen für die gemeinsamen Kinder wegen der Höhe des Familieneinkommens im Streitzeitraum nicht bestand.
20Für die Monate ab November 2012 ist dies zwischen den Beteiligten unstreitig. Zur Überzeugung des Gerichts gilt Gleiches für den übrigen Streitzeitraum.
21Nach Art. 3 Abs. 10 des polnischen Gesetzes über Familienleistungen gilt der Zeitraum 01.11.-31.10. des Folgejahres als Beihilfezeitraum. Ein Anspruch auf polnische Familienleistungen besteht nur dann, wenn gem. Art. 5 das Familieneinkommen pro Familienmitglied höchstens 504 PLN beträgt. Als Familieneinkommen gilt nach Art. 2 Abs. 2 das durchschnittliche Einkommen der Familienmitglieder im Kalenderjahr, das dem Beihilfezeitraum vorangeht.
22Für die Monate Juni 2011 bis einschließlich Oktober 2011 ist mithin das Familieneinkommen 2009, für die Monate November 2011 bis einschließlich Oktober 2012 das Familieneinkommen 2010 maßgeblich. Ausgehend von vier Personen stellt der Betrag von 24.192,- PLN (4 x 504 PLN x 12 Monate) die maßgebliche jährliche Einkommensgrenze dar.
23Diese ist im Streitfall auch für die Monate vor November 2012 überschritten. Das Familieneinkommen beträgt im Jahr 2009 8.749,87 € und im Jahr 2010 10.140,32 €. Dabei sind entgegen der Ansicht der Beklagten neben dem bezogenen Kindergeld (2009: 1.480 €; 2010: 1.680 €) nicht nur die Beträge anzusetzen, die der Deutschen Rentenversicherung … gemeldet worden sind, sondern sämtliche Leistungen, die dem Kläger zur Sicherung seines Lebensunterhalts nach dem SGB II gewährt worden sind (vgl. Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. November 2013 5 K 5141/11, zitiert nach juris). Dies sind im Einzelnen folgende Beträge:
242009 |
||
Januar – April |
4 x 560,44 € |
2.241,76 € |
Mai |
567,52 € |
|
Juni-Juli |
2 x 487,52 € |
975,04 € |
August-Dezember |
5 x 697,11 € |
3.485,55 € |
2010 |
||
Januar |
697,11 € |
|
Februar – Juli |
6 x 742,11 € |
4.452,66 € |
August-Dezember |
5 x 662,11 € |
3.310,55 € |
Selbst bei Zugrundelegung der niedrigsten Umrechnungskurse für 2009 (3,8255 PLN) und 2010 (3,8674 PLN) ist damit die maßgebliche Einkommensgrenze überschritten.
27Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
28Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.