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Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 07.12.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.10.2017 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Streitig ist noch, ob das gegenüber der Klägerin festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum Mai 2010 bis April 2016 teilweise aufgehoben werden durfte.
3Im Oktober 1998 stellte die Klägerin erfolgreich einen Antrag auf Kindergeld für ihren am 12.10.1998 geborenen Sohn B. Sie war zu diesem Zeitpunkt mit dem Kindesvater, Herrn C, verheiratet. Die Ehe wurde 2001 geschieden. B blieb in der Folgezeit im Haushalt der Klägerin, die keiner Erwerbstätigkeit nachging.
4Nach Aktenlage ist B am 28.04.2016 zu seinem Vater gezogen. Die Beklagte nahm dies zum Anlass, die gegenüber der Klägerin erfolgte Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 03.05.2016 ab Mai 2016 aufzuheben. Einspruch wurde nicht eingelegt.
5Im Juli 2016 erfuhr die Beklagte, dass der Kindesvater seit Januar 2009 in einem EU-Land erwerbstätig ist. Nach Anhörung der Klägerin reduzierte sie die Kindergeldfestsetzung für B für die Monate Januar 2009 bis April 2016 mit Bescheid vom 07.12.2016 auf die Beträge, die nach Anrechnung eines eu-ländischen Kindergeldanspruchs verbleiben (sog. Differenzkindergeld). Zugleich wurde die Klägerin aufgefordert, für den Zeitraum Januar 2009 bis April 2016 Kindergeld i.H.v. 7.422,20 € zurückzuzahlen. Zur Begründung wurde angeführt, dass vorrangig Anspruch auf eu-ländisches Kindergeld bestehe, weil der Kindesvater in dem EU-Land erwerbstätig sei, während die Klägerin keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei.
6Die Klägerin legte hiergegen Einspruch ein. Sie trug vor, dass in dem EU-Land zu keinem Zeitpunkt Kindergeld bezogen worden sei und daher auch kein Kindergeld anzurechnen sei. Der Kindesvater habe zwar im Streitzeitraum in dem EU-Land gearbeitet, dort aber kein Kindergeld beantragt.
7Der Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 25.10.2017 als unbegründet zurückgewiesen.
8Die Klägerin hat sodann Klage erhoben.
9Mit Bescheid vom 23.01.2018 wurde dem Klagebegehren bezüglich der Monate Januar 2009 bis April 2010 abgeholfen. Das diesbezügliche Verfahren wurde nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache abgetrennt. Streitzeitraum sind damit nur noch die Monate Mai 2010 bis April 2016.
10Die Klägerin beantragt,
11den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 07.12.2016 sowie die Einspruchsentscheidung vom 25.10.2017 aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt
13die Klage abzuweisen.
14Sie weist darauf hin, dass die Abhilfe für die Monate Januar 2009 bis April 2010 wegen der EuGH-Rechtsprechung zu der damals geltenden „alten“ Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 erfolgt sei (Rechtssache „Schwemmer, Urteil vom 14.10.2010, C-16/09). Diese Rechtsprechung habe nämlich zur Folge gehabt, dass bloß „fiktiv“ im Ausland bestehende Kindergeldansprüche, welche aufgrund fehlender Antragstellung nicht ausgezahlt worden seien, nicht auf den Kindergeldanspruch in Deutschland angerechnet werden durften.
15Ab Mai 2010 gelte jedoch die „neue“ Verordnung (EG) Nr. 883/2004. Auf diese Verordnung sei die Rechtsprechung aus der Sache „Schwemmer“ nicht anwendbar, weil nach der neuen Verordnung die Problematik, dass Ansprüche im Ausland wegen fehlender Antragstellung verloren gingen, nicht mehr eintreten könne. Denn Art. 68 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 regele, dass der in einem nachrangig zuständigen Mitgliedstaat gestellte Kindergeldantrag automatisch an den vorrangig zuständigen Mitgliedstaat weiterzuleiten sei. Zu einem Verlust von Kindergeldansprüchen könne es ausnahmsweise nur noch dann kommen, wenn der Kindergeldberechtigte die Tatsachen, aus denen sich die Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs ergebe, der Familienkasse nicht mitteile. So verhalte es sich auch hier. Die Klägerin habe ihre Mitwirkungspflichten verletzt, da sie der Familienkasse nicht mitgeteilt habe, dass der Kindesvater eine Erwerbstätigkeit in dem EU-Land aufgenommen habe. Dass eine Auswärtstätigkeit ein für die Kindergeldfestsetzung wesentlicher Umstand sei, sei der Klägerin aus dem Kindergeldantrag sowie dem Merkblatt Kindergeld bekannt gewesen.
16Mit Verfügung vom 09.02.2018 wies die Berichterstatterin darauf hin, dass die Klage bezüglich der Monate Mai 2010 bis Dezember 2011 schon deshalb Erfolg haben dürfte, weil bei Erlass des Aufhebungsbescheids unter Zugrundelegung der vierjährigen Verjährungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO bereits Verjährung eingetreten sei. Ein leichtfertiges oder gar vorsätzliches Verhalten/Unterlassen der Klägerin, das zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist führen könne, sei nicht ersichtlich.
17Die Beklagte erwiderte, dass von einem vorsätzlichen Verhalten der Klägerin auszugehen sei. Dass Erwerbstätigkeiten im Ausland von Bedeutung seien, ergebe sich aus der ausdrücklichen Frage unter 8b des Kindergeldantrags. Diese sei von der Klägerin im Kindergeldantrag vom 03.01.2009 unzutreffend mit „nein“ angekreuzt worden. Die Klägerin habe zudem unterschrieben, dass sie jede Änderung sofort der Familienkasse mitteilen werde und dass sie das Merkblatt Kindergeld erhalten habe. Auf Seite 9 des Merkblatts Kindergeld heiße es, dass die Familienkasse insbesondere dann unverzüglich zu benachrichtigen sei, wenn der Antragsteller oder eine andere kindergeldberechtigte Person eine Beschäftigung im Ausland aufnehme.
18Die Klägerin bestreitet, das Merkblatt Kindergeld erhalten zu haben. Zudem behauptet sie ohne weitere Konkretisierung, die ausländische Erwerbstätigkeit des Kindesvaters angezeigt zu haben.
19Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die vorgelegte Kindergeldakte Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe:
21Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).
22Die Klage ist zulässig und begründet.
23Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 07.12.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
241) Die Beklagte war nicht berechtigt, die Kindergeldfestsetzung für Mai 2010 bis April 2016 teilweise aufzuheben. Denn die Klägerin hatte in diesen Monaten Anspruch auf Kindergeld in voller Höhe.
25Dass die in Deutschland wohnende Klägerin im Streitzeitraum in Bezug auf ihren minderjährigen Sohn B die national-rechtlichen Anforderungen an die Gewährung von Kindergeld (§§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1, 64 Abs. 2 Satz 2 EStG) erfüllt hat, ist unstreitig und bedarf keiner weiteren Darlegung. Streitig ist allein, ob ein in einem EU-Land bestehender Kindergeldanspruch auf das deutsche Kindergeld anzurechnen ist.
26Das ist nicht der Fall.
27a) Im Streitfall ist die seit Mai 2010 - und damit im Streitzeitraum - geltende Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) i.V.m. der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) anzuwenden (vgl. Art. 91 Abs. 2 VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009). Ihr persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich sind eröffnet. Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004) und das Kindergeld ist eine Familienleistung i.S. des Art. 3 Abs. 1 Buchst. j) i.V.m. Art. 1 Buchst. z) der VO Nr. 883/2004 (vgl. dazu etwa BFH-Urteil vom 10.03.2016 - III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616). Die nicht erwerbstätige Klägerin unterliegt nach Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. e) der VO Nr. 883/2004 aufgrund ihres Wohnsitzes in Deutschland den deutschen Rechtsvorschriften und der Kindesvater unterliegt aufgrund seiner Erwerbstätigkeit in dem EU-Land deren Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a) der VO Nr. 883/2004).
28b) Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, gilt Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004. Die Vorschrift unterscheidet den vorrangig zuständigen Staat, der ohne Weiteres uneingeschränkt Kindergeld zu gewähren hat (Art. 60 Abs. 2 der VO Nr. 987/2009; vgl. auch die Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht der Familienkasse Direktion, RV1-7543, Stand Januar 2010, DA 214.2 Abs. 4, 214.5), vom nachrangig zuständigen Staat, in dem die Ansprüche auf Familienleistungen ausgesetzt werden und zwar bis zur Höhe der vom vorrangig zuständigen Staat vorgesehenen Leistungen (Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004).
29c) Ähnliche Prioritätsregeln gab es auch schon unter der bis April 2010 geltenden Rechtslage (s. Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern sowie Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.03.1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie ihre Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern). Der EuGH hat hierzu mit Urteil vom 04.10. 2010, Schwemmer, C-16/09, Slg 2010, I-9717, ausgeführt, dass der Kindergeldanspruch im Wohnsitzland der Kinder nicht teilweise ausgesetzt werden dürfe, wenn der andere Elternteil zwar einen Anspruch auf Kindergeld nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates habe, er das Kindergeld mangels Antragstellung jedoch faktisch nicht beziehe. Familienleistungen würden nämlich nur dann als nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet gelten, wenn der Betroffene alle in den internen Rechtsvorschriften dieses Staates aufgestellten – formellen und materiellen – Anspruchsvoraussetzungen erfülle, zu denen gegebenenfalls auch die Voraussetzung gehören könne, dass ein Antrag auf Gewährung dieser Leistungen gestellt werde.
30d) In dem Urteil vom 22.10.2015, Trapkowski, C-378/14, NJW 2016, 1147 (Rn. 32) hat der EuGH – und zwar diesmal unter Bezugnahme auf die Prioritätsregeln des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 - erneut darauf hingewiesen, dass es für die Annahme einer Kumulierung nicht genügt, dass Leistungen in dem Mitgliedstaat, in dem das betreffende Kind wohnt, geschuldet werden und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil dieses Kindes arbeitet, lediglich potenziell gezahlt werden können. In einem solchen Fall finde Art. 68 der VO Nr. 883/2004 keine Anwendung.
31e) So verhält es sich auch hier. Zwar wäre der Anspruch des erwerbstätigen Kindesvaters auf eu-ländisches Kindergeld gem. Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 grundsätzlich vorrangig mit der Folge, dass die Klägerin grundsätzlich nur Anspruch auf Differenzkindergeld nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 gehabt hätte. Art. 68 der VO Nr. 883/2204 ist jedoch im Streitfall nicht anwendbar, da der Kindesvater für die Monate Mai 2010 bis April 2016 kein eu-ländisches Kindergeld bezogen hat und daher faktisch keine Kumulierung von Ansprüchen vorliegt. Nach den unwidersprochenen Angaben der Klägerin hat der Kindesvater zu keinem Zeitpunkt einen Antrag auf Kindergeld in dem EU-Land gestellt.
32f) Eine Kürzung des deutschen Kindergeldanspruchs ist auch nicht über andere Vorschriften möglich. Insbesondere ist § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG im sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts ausgeschlossen (vgl. BFH-Urteil vom 04.02.2016 - III R 9/15, BStBl II 2017, 121; zur alten Rechtslage BFH-Urteile vom 05.09.2013 - XI R 52/10, BFH/NV 2014, 33, und vom 18.07.2013 - III R 51/09, BStBl II 2016, 947).
33g) Da der Aufhebungsbescheid schon aus den vorgenannten Gründen rechtswidrig ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob die Klage bezüglich der Monate Mai 2010 bis Dezember 2011 auch schon deshalb Erfolg gehabt hätte, weil bei Erlass des Aufhebungsbescheids bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war.
342) Der Rückforderungsbescheid ist ebenfalls rechtswidrig. Da die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wie dargelegt keinen Bestand hat, gilt die bisherige - in voller Höhe erfolgte - Kindergeldfestsetzung fort. Der Grund für die Kindergeldfestsetzung ist mithin nicht nachträglich entfallen i.S.d. § 37 Abs. 2 Satz 2 AO.
353) Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Fortbildung des Rechts zugelassen. Zu der Anwendbarkeit der „Schwemmer“-
36Rechtsprechung auf Art. 68 der VO Nr. 883/2004 liegt – soweit ersichtlich - noch keine Rechtsprechung des BFH vor.