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Der das Kind 1 betreffende Aufhebungsbescheid vom 09.01.2017 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 36 % und die Beklagte zu 64 %.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Tatbestand:
2Zu entscheiden ist, ob der Kläger Anspruch auf Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder hat.
3Der Kläger besitzt die polnische Staatsangehörigkeit und lebt seit 2005 in Deutschland. Er war hier zunächst selbständig tätig und ist seit Oktober 2012 nichtselbständig tätig.
4Bis 2005 war der Kläger mit Frau … A verheiratet, welche seit 1990 durchgängig in Polen als Arbeitnehmerin beschäftigt ist. Ausweislich der vorgelegten Kopien polnischer Steuererklärungen, in denen die Anschrift mit ... 29/12 in ... angegeben wurde, belief sich ihr Arbeitslohn in den Jahren 2012 bis 2014 auf jeweils rd. 33.000 Zloty.
5Aus der Ehe sind die Kinder 2 (geb. …1991) und 1 (geb. …1994) hervorgegangen, welche nach der Scheidung bei der Kindesmutter (KM) in Polen blieben. Zudem wurde am …2007 der gemeinsame Sohn 3 geboren, welcher ebenfalls bei der KM in Polen lebt. 1 befindet sich noch in Ausbildung.
6Für 3 wurde mit Bescheid vom 29.05.2008 ab September 2007 und für 1 zuletzt mit Bescheid vom 02.03.2012 ab Februar 2012 zugunsten des Klägers Kindergeld festgesetzt. Die Festsetzungen waren zeitlich nicht befristet.
7Am 23.10.2014 stellte der Kläger einen neuen Antrag auf Kindergeld für 3 und 1. Als Reaktion hierauf hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für 3 mit Bescheid vom 23.01.2015 unter Verweis auf § 70 Abs. 3 EStG ab Februar 2015 auf. Zur Begründung wurde angegeben, dass das Kind nicht im Haushalt des Klägers, sondern bei der KM in Polen lebe und diese daher gem. § 64 EStG vorrangig berechtigt sei. Die gleiche Begründung wurde auch für das Kind 1 angeführt. Allerdings erließ die Beklagte insoweit – trotz der für 1 noch bestehenden Kindergeldfestsetzung – keinen Aufhebungsbescheid, sondern vielmehr erließ sie am 23.01.2015 einen Ablehnungsbescheid, dessen Tenor wie folgt lautete:
8„Ihr Antrag auf Kindergeld vom 23.10.2014 für das Kind 1 A, geboren am …1994, wird ab dem Monat Mai 2014 abgelehnt.“
9Der Kläger legte gegen beide Bescheide Einspruch ein. Beanstandet wurde lediglich die Anwendung der europäischen Rechtsvorschriften. Dass die Kinder entgegen der Annahme der Beklagten auch im Haushalt des Klägers leben würden, wurde nicht vorgetragen.
10Die Einsprüche wurden mit Einspruchsentscheidungen vom 25.01.2016 als unbegründet zurückgewiesen. Dort heißt es u.a. wie folgt: „Der Einspruchsführer lebt seit September 2005 in Deutschland. Die Kindeseltern sind geschieden und führen keinen gemeinsamen Haushalt mehr. Die Kinder 1 und 3 leben im Haushalt der Kindesmutter in Polen. ... Vorliegend ist das Kind ... nicht in den Haushalt des Einspruchsführers, sondern in den Haushalt der Kindesmutter aufgenommen. Der andere Elternteil, die Kindesmutter, ist damit vorrangig anspruchsberechtigt und schließt nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG den Einspruchsführer von der Kindergeldzahlung aus.“
11Der Kläger hat sodann Klage erhoben, welche er ursprünglich damit begründete, dass die Kindesmutter mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 62 EStG nicht vorrangig kindergeldberechtigt sein könne. Dass der Kläger einen gemeinsamen Haushalt mit seinen Kindern in Polen führe, wurde in der Klageschrift nicht vorgetragen.
12Mit gerichtlicher Verfügung vom 17.06.2016 wies die Einzelrichterin den Kläger darauf hin, dass auf Grundlage des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 22.10.2015 in der Sache C-378/14 der in Deutschland lebe Elternteil nur dann Anspruch auf deutsches Kindergeld für seine im Ausland lebenden Kinder habe, wenn er einen gemeinsamen Haushalt mit seinen Kindern führe. Der Kläger behauptete daraufhin mit Schriftsatz vom 07.07.2016 (Bl. 50), einen gemeinsamen Haushalt mit seinem Sohn 3 in Polen zu führen. Die Wohnung, in der die KM tatsächlich gemeldet sei, verfüge lediglich über ein Zimmer und sei im schlechten Zustand, weshalb die KM „und der gemeinsame Sohn“ stattdessen in der Wohnung des Klägers wohnen würden.
13Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung nebst Beweiserhebung stellt sich der diesbezügliche Sachverhalt wie folgt dar: Der Kläger ist Eigentümer einer Wohnung unter der Anschrift ... 11/12 in ..., welche ihm sein Vater im Jahr 2007 geschenkt hat. Der Kläger ist dort seit mindestens 2009 mit Wohnsitz gemeldet. Die Wohnung ist 43 qm groß und besteht aus zwei Wohnräumen, Küche, Bad, WC und Balkon. Nachdem der Vater des Klägers im Jahr 2008 verstorben ist, hat der Kläger die Wohnung umfangreich renoviert. Die KM und die Kinder 1 und 3 sind dort nicht mit Wohnsitz gemeldet. Gemeldet sind sie vielmehr weiterhin unter der Anschrift ... 29/12. Dort hatten die Ehegatten vor der Scheidung gemeinsam gelebt.
14Der Kläger trägt vor, dass er alle mit der Wohnung ... 11/12 verbundenen Kosten zahle. Außerdem zahle er auch die Miete für die Wohnung der KM mit der Anschrift ... 29/12. Die KM sei dort immer noch mit Wohnsitz gemeldet, weil das Haus abgerissen werden solle und sie den Anspruch auf eine Ersatzwohnung nicht verlieren wolle. Die Ersatzwohnung solle dann von der Tochter 1 bewohnt werden. Nur deshalb sei die KM dort noch gemeldet. Tatsächlich aber habe sie seit 2011 zusammen mit 3 und 1 in der Wohnung des Klägers gewohnt. Dies ergebe sich z.B. aus einem den Anschluss für das Satellitenfernsehen betreffenden Schreiben der Fa. … vom 25.08.2016, wonach die KM dort seit dem 12.09.2011 mit neuer Adresse geführt werde.
15Ihr Sohn 3 habe ein so normales Familienleben wie möglich führen sollen, weshalb sie ihm von der Scheidung nichts gesagt hätten. Zwar hätten er – der Kläger - und seine geschiedene Ehefrau „selbstverständlich nicht wie Eheleute“ (Schriftsatz vom 29.07.2016, Bl. 55) zusammen in Polen gewohnt. Ungeachtet dessen habe er, wenn er sich in Polen aufgehalten habe, nicht nur im gleichen Haushalt wie die Kinder gewohnt, sondern sei auch ausschließlich für die Bestreitung des Lebensunterhalt aufgekommen, indem er der Familie z.B. auf seine Kosten eine Einkaufskarte für die Geschäftskette Real überlassen habe. Auch in Zeiten seiner arbeitsbedingten Abwesenheit habe er sowohl die mit der Wohnung verbundenen Kosten als auch zusätzliche Gelder für den Lebensunterhalt einschließlich Urlaube, Spielzeuge und Medikamente gezahlt. Faktisch bestehe damit kein Unterschied gegenüber Familien, bei denen die Ehe noch intakt sei.
16Im Jahr 2015 habe er die Kinder etwa zehnmal übers Wochenende besucht. Ryanair biete günstige Flüge von Freitags bis Montags an. Außerdem habe er im Sommer 2015 sieben bis zehn Tage am Stück bei der Familie verbracht. In dieser Zeit sei er mit 3 und 1 ans Meer gefahren.
17Bei der Scheidung sei der KM kein Unterhaltsanspruch zugesprochen worden. Für die Kinder 2 und 1 (3 war noch nicht geboren) sei Unterhalt i.H.v. von insgesamt 600 PLN (ca. 150 €) festgesetzt worden. Er und KM hätten die Unterhaltsregelung so praktiziert, dass er alle Wohnungskosten zahle und auch für Lebensunterhaltskosten aufkomme.
18Am 09.01.2017 erließ die Beklagte einen Bescheid folgenden Inhalts:
19„der angefochtene Bescheid vom 23.01.2015 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2016 wird gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a) Abgabenordnung wie folgt geändert:
20Die o.g. Ausgangsentscheidung wird dahingehend umgedeutet, dass die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind 1 A ab dem Monat Februar 2015 ganz aufgehoben wird.
21Die Aufhebungsentscheidung beruht auf § 70 Abs. 3 EStG“.
22Der Kläger beantragt,
231) den seinen Sohn 3 betreffenden Aufhebungsbescheid vom 23.01.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2016 aufzuheben und
242) bezüglich der Tochter 1 den Bescheid vom 09.01.2017 aufzuheben.
25Die Beklagte beantragt,
26die Klage abzuweisen.
27Sie weist darauf hin, dass der Kläger weder im Verwaltungsverfahren noch im Einspruchsverfahren noch zu Beginn des Klageverfahrens in irgendeiner Form zu erkennen gegeben habe, dass er in einem gemeinsamen Haushalt mit seinen Kindern lebe.
28Aber auch der neue Vortrag des Klägers möge keinen gemeinsamen Haushalt mit den Kindern zu begründen. Es fehle zumindest an dem Merkmal des örtlich gebundenen Zusammenlebens. Der Kläger lebe und arbeite in Deutschland und sei von der KM geschieden. Schriftsätzlich habe er bestätigt, dass seit dem Jahr 2011 lediglich die KM und die streitgegenständlichen Kinder in seiner Wohnung in Polen leben würden. Dass der Kläger selbst dort ebenfalls tatsächlich gewohnt habe, sei weder vorgetragen noch nachgewiesen worden. Darauf, dass die von den Kindern bewohnte Wohnung dem Kläger gehöre oder er diesen anderweitig Unterhalt zahle, komme es nicht an.
29Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die vorgelegte Kindergeldakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der KM und des Kindes 1 als Zeugen.
30Entscheidungsgründe:
311. Die Klage ist zulässig und begründet, soweit sie das Kind 1 betrifft.
32Der Bescheid vom 09.01.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Bescheid, der nach dem offensichtlichen Willen des Sachbearbeiters der Beklagten an die Stelle des Ablehnungsbescheids vom 23.01.2015 treten sollte, kann unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Bestand haben.
33a) Insoweit ist zunächst zu beachten, dass der Ablehnungsbescheid vom 23.01.2015 rechtmäßig war. Denn wenn – wie im Streitfall aufgrund des Bescheids vom 02.03.2012 - bereits Kindergeld für ein Kind festgesetzt ist, besteht kein Anspruch auf (nochmalige) Festsetzung mehr. Ein nochmaliger Antrag auf Festsetzung von Kindergeld ist daher unbegründet und infolgedessen abzulehnen. Der Tenor des Ablehnungsbescheids war folglich zutreffend.
34Die hiergegen gerichtete Verpflichtungsklage wäre mithin abzuweisen gewesen. Allerdings wären die Kosten des diesbezüglichen Verfahrens der Beklagten aufzuerlegen gewesen, da diese durch die Angabe einer falschen Begründung die Ursache dafür gesetzt hat, dass es überhaupt zum Klageverfahren gekommen ist. Hätte die Beklagte von vornherein mitgeteilt, dass für 1 bereits Kindergeld festgesetzt ist, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine auf die Verpflichtung zur Festsetzung gerichtete Klage erhoben worden.
35b) Es ist nicht möglich, den Ablehnungsbescheid vom 23.01.2015 in einen Aufhebungsbescheid umzudeuten, auszulegen oder zu ändern.
36Eine Umdeutung i.S.d. § 128 AO scheitert bereits daran, dass der Bescheid vom 23.01.2015 rechtmäßig und folglich kein „fehlerhafter“ Bescheid i.S.d. § 128 Abs. 1 AO ist. Zudem ist eine Umdeutung gem. § 128 Abs. 2 AO unzulässig, wenn dies zu ungünstigeren Rechtsfolgen für den Betroffenen führt. So verhält es sich auch hier, da dem Kläger durch den Aufhebungsbescheid der bereits festgesetzte Kindergeldanspruch entzogen würde, während der Ablehnungsbescheid vom 23.01.2015 die bereits bestehende Kindergeldfestsetzung unberührt ließ.
37Eine Auslegung des Ablehnungsbescheids in einen Aufhebungsbescheid scheitert daran, dass aus Sicht des Empfängers in keiner Weise erkennbar ist, dass „Ablehnung ab Mai 2014“ eigentlich „Aufhebung ab Februar 2015“ heißen soll. Im Übrigen ist zu bezweifeln, dass der Sachbearbeiter, der den Bescheid vom 23.01.2015 erlassen hat, überhaupt den Willen hatte, einen Aufhebungsbescheid zu erlassen. Vielmehr erfolgte die Ablehnung nach Aktenlage bewusst und gewollt, weil übersehen wurde, dass noch Kindergeld festgesetzt war.
38Auch kommt mangels Änderungsvorschrift keine Änderung des Bescheids vom 23.01.2015 in Betracht. Soweit in dem Bescheid vom 09.01.2017 auf § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO Bezug genommen wird, übersieht die Beklagte, dass diese Vorschrift nur eine Änderung auf Antrag bzw. mit Zustimmung des Kindergeldberechtigten erlaubt. Der Kläger hat jedoch weder beantragt, dass die Kindergeldfestsetzung für 1 aufgehoben wird, noch ist er hiermit einverstanden.
39c) Der Aufhebungsbescheid vom 09.01.2017 kann auch nicht als eigenständiger (vom Ablehnungsbescheid völlig losgelöst zu betrachtender) Verwaltungsakt Bestand haben. Denn da der Beklagten bei der ursprünglichen Kindergeldfestsetzung bekannt war, dass die Kinder im Haushalt der Kindesmutter in Polen leben, ist keine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG möglich, sondern nur eine Aufhebung für die Zukunft nach § 70 Abs. 3 EStG. Bei Erlass des Bescheides im Januar 2017 konnte die Kindergeldfestsetzung mithin nicht – wie vorgenommen – schon ab Februar 2015 aufgehoben werden, sondern frühestens ab Februar 2017.
402. Soweit die Klage das Kind 3 betrifft, ist sie zwar zulässig, jedoch nicht begründet.
41Der Aufhebungsbescheid vom 23.01.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger im Streitzeitraum Februar 2015 (Beginn der Aufhebung) bis Januar 2016 (Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2016) keinen Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn 3 hatte.
42Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er einen Wohnsitz in Deutschland hat und Vater eines minderjährigen Sohnes ist, der in Polen lebt (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG).
43Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes. Denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindesmutter vorrangig anspruchsberechtigt.
441. Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Ist das Kind in den gemeinsamen Haushalt mehrerer Berechtigter aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG).
45Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501).
46Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn lediglich letzterer das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen das Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 04.02.2016 - III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
472. Im Streitfall ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass 3 auch in einen Haushalt des Klägers aufgenommen war. Dies geht zu Lasten des Klägers, der die Feststellungslast (objektive Beweislast) dafür trägt, dass der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Kindergeld vorrangig i.S.d. § 64 EStG ist.
48Dass 3 nicht in den Haushalt aufgenommen war, den der Kläger seit 2005 in Deutschland führt, ist unstreitig. Unstreitig ist auch, dass 3, der seit seiner Geburt bei der KM lebt, zu deren Haushalt gehört.
49a) Dass der Kläger zusammen mit der KM und 3 einen gemeinsamen Haushalt in Polen geführt hat, ließ sich dagegen nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen.
50Ein gemeinsamer Haushalt i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG liegt vor, wenn zwischen den Beteiligten eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht. Hierfür ist erforderlich, dass die Beteiligten gemeinsam zum Unterhalt der Familie beitragen und der bestehende Haushalt beiden zuzurechnen ist. Danach ist regelmäßig ein örtlich gebundenes Zusammenleben mit gemeinsamer Versorgung erforderlich (vgl. BFH, Urteil vom 10.03.2016 – III R 25/12, BFH/NV 2016, 1161).
51Im Streitfall war der Kläger zwar in der Wohnung ..., in der die KM mit den Kindern gelebt haben sollen, mit Wohnsitz gemeldet und er hat auch die Kosten für diese Wohnung getragen. Der Grund für beides lag jedoch nicht darin, dass die KM und der Kläger einen gemeinsamen Haushalt führen wollten.
52Insoweit ist zu beachten, dass der Kläger und die KM geschieden sind. Durch eine Scheidung geben Ehegatten unmissverständlich kund, dass sie gerade nicht mehr zusammenleben wollen. Im Streitfall ist auch nichts dafür ersichtlich, dass sich dieser Zustand später wieder geändert hat. Zwar wurde der Sohn 3 erst im Jahr 2007 und damit nach der Scheidung geboren, was für gewisse Versöhnungsversuche spricht. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Versöhnung so weit fortgeschritten ist, dass der Kläger und KM im Streitzeitraum wieder als Paar (diesmal als nichteheliche Lebensgemeinschaft) zusammen leben wollten. Vielmehr hat der Kläger mit Schriftsatz vom 29.07.2016 bestätigt, dass er mit der KM „selbstverständlich nicht wie Eheleute“ zusammenlebe. Auch ist der Kläger im Jahr 2015 nur mit seinem Sohn, d.h. ohne die KM, in Urlaub gefahren. Dies entsprach nach der Aussage der KM der einvernehmlichen Regelung, dass beide Elternteile jährlich abwechselnd – d.h. gerade nicht zusammen – mit 3 in Urlaub fahren. Bei einer zwischen den Eltern bestehenden Lebensgemeinschaft wäre jedoch zu erwarten gewesen, dass diese ihre Urlaubszeit zusammen verbringen.
53Daraus, dass der Kläger in der Wohnung ... noch mit Wohnsitz gemeldet ist, ergibt sich nichts anderes. Denn die Ursache hierfür liegt letztlich darin, dass die Wohnung dem Kläger gehörte und – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung ausführte – jemand dort gemeldet sein musste. Schließlich waren die KM und die Kinder dort gerade nicht gemeldet.
54Auch lässt sich nicht allein aus dem Umstand, dass der Kläger die Kosten für die Wohnung trägt und sich auch sonst am Lebensunterhalt der Familie beteiligt, ableiten, dass ein gemeinsamer Haushalt geführt wird. Insoweit ist zu beachten, dass der Kläger gegenüber seinen Kindern zur Zahlung von Unterhalt verpflichtet war und er in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, sich mit der KM dahingehend geeinigt zu haben, dass der Unterhalt (auch) durch die Überlassung des Wohnraums beglichen werde.
55b) Das Gericht vermochte ebenfalls nicht festzustellen, dass der Kläger in der Wohnung ... einen eigenen (von dem Haushalt der KM losgelösten) Haushalt geführt hat, wie es zum Beispiel bei mehreren Mitgliedern einer reinen Wohngemeinschaft der Fall sein kann.
56Gegen das Bestehen zweier voneinander getrennter Haushalte spricht bereits die geringe Größe der Wohnung von nur 43 qm, die keine räumliche Abgrenzung erlaubte, sowie der Umstand, dass der Kläger die Wohnung nur in einem Umfang nutzte, der ihn als bloßen Besucher – nicht aber als ständigen Bewohner – erscheinen lässt. So hat der Kläger z.B. kein eigenes Bett zur Verfügung, sondern muss sich das Klappsofa im Wohnzimmer mit der KM teilen.
57Wie oft der Kläger die Wohnung tatsächlich aufgesucht hat, ließ sich nicht abschließend klären. Nach eigenen Angaben des Klägers will dieser die Wohnung im Jahr 2015 etwa 10 Mal aufgesucht haben, und zwar typischerweise übers Wochenende. Nach Angaben der als Zeugin vernommenen Tochter 1 soll der Kläger im Jahr 2015 jedoch nur 4 Mal in Polen gewesen sein. Als gesichert können damit allenfalls 4 Besuche im Jahr angesehen werden, darunter die in vielen Familien üblichen Besuche zu Weihnachten und Ostern. Aber auch dann, wenn der Kläger im Jahr 2015 tatsächlich 10 Mal in Polen gewesen sein sollte, wäre der Umfang reiner Besuchsfahrten längst nicht überschritten. Dass getrennt lebende Elternteile, die den Kontakt zu ihren Kindern halten wollen, diese auch über große Entfernungen hinweg einmal im Monat besuchen, ist nicht unüblich.
58Bei der Gesamtwürdigung waren zudem das Verhalten des Klägers sowie Widersprüche bzw. Ungereimtheiten im Sachvortrag zu beachten. Auffällig ist zunächst, dass der Kläger vor Erhalt der gerichtlichen Verfügung vom 17.06.2016 in keiner Weise zu erkennen gegeben hat, dass er einen Haushalt mit seinen Kindern in Polen führt. Vor dem Hintergrund, dass die Beklagte mehrfach – nämlich sowohl in dem Aufhebungsbescheid vom 23.01.2015 als auch in der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2016 - ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass sie davon ausgeht, dass die Kinder ausschließlich im Haushalt der Kindesmutter leben, hätte es sich bei tatsächlichem Bestehens eines gemeinsamen oder zumindest eigenen Haushalts des Klägers in der Wohnung ... regelrecht aufgedrängt, diesen Sachverhalt spätestens in der Klageschrift offenzulegen. Dass dieser Sachvortrag dennoch nicht erfolgt ist, spricht dafür, dass der Kläger den von der KM und den Kindern in der Wohnung ... geführten Haushalt – jedenfalls ursprünglich – gar nicht als eigenen Haushalt angesehen hat und er mit seinem aktuellen Sachvortrag lediglich versucht, der Klage doch noch irgendwie zum Erfolg zu verhelfen. Insoweit fällt auch auf, dass einzelne Punkte des Sachvortrags des Klägers durch die Aussagen von KM und/oder 1 widerlegt wurden. So hat der Kläger z.B. in der mündlichen Verhandlung behauptet, dass er im Jahr 2015 auch mit 1 in Urlaub gefahren sei. Sowohl KM als auch 1 haben jedoch angegeben, dass der Kläger allein mit 3 verreist sei. Auch gibt es unterschiedliche Aussagen zu den Modalitäten der Übernachtung. Während der Kläger darauf beharrt, dass der Sohn 3 während seiner Familienbesuche im Zimmer der Tochter 1 geschlafen habe, haben dies sowohl KM als auch 1 ausdrücklich verneint; 3 habe vielmehr auch während der Besuche des Klägers zusammen mit den Eltern in dem größeren Zimmer übernachtet. Der widersprüchliche Vortrag gibt Grund für die Annahme, dass sich der Kläger deutlich seltener in der Wohnung ... aufgehalten haben könnte, als er, KM und 1 behauptet haben. Auch blieben die Hintergründe dafür, warum die Wohnung ... weiterhin angemietet bleibt, obwohl dort angeblich niemand mehr wohnt, unklar. Die KM war sich in der mündlichen Verhandlung jedenfalls nicht bewusst, dass es darum gehen soll, den Anspruch auf eine Ersatzwohnung aufrecht zu erhalten. Auch erscheint diese Begründung vor dem Hintergrund, dass die KM und die Kinder schon seit 2011 in der Wohnung des Klägers wohnen sollen und – wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat – der Abriss des Hauses ... immer noch nicht in Sicht ist, sehr fragwürdig.
59Letztlich erscheint es daher auch nicht als völlig ausgeschlossen, dass die KM und die Kinder überhaupt nicht in der Wohnung des Klägers wohnen. Diese Frage kann jedoch letztlich dahinstehen, da jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar war, dass (auch) der Kläger dort im Streitzeitraum einen Haushalt geführt hat.
60c) Hatte der Kläger in der Wohnung ... keinen eigenen Haushalt, dann konnte der Sohn 3 auch nicht in einen solchen aufgenommen worden sein. Vielmehr wurde 3 von dem Kläger - entsprechend den Ausführungen zu 2b – nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung lediglich im Haushalt der KM besucht.
61d) Der Hinweis des Klägers, dass faktisch kein Unterschied gegenüber Familien bestehe, bei denen die Ehe noch intakt sei, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn der Umstand, ob die Ehe noch intakt ist, ist für die Beurteilung, ob ein gemeinsamer Haushalt besteht, von entscheidender Bedeutung.
62Wenn schon eine Parallele gezogen wird, dann liegt ein Vergleich näher zu den Fällen, in denen der von der Kindesmutter geschiedene und getrennt lebende Kindesvater seine Unterhaltspflicht allein durch Geldleistungen erbringt, seine Kinder einmal im Monat besucht und dabei entfernungsbedingt auch in der Wohnung der KM übernachtet. In diesem Fall besteht kein Zweifel daran, dass der Vater in der Wohnung der KM keinen eigenen Haushalt führt, sondern dort lediglich zu Besuch ist. Der Streitfall unterscheidet sich hiervon letztlich allein dadurch, dass der Kläger seine Unterhaltspflicht nicht nur durch Geldleistungen, sondern auch durch Naturalleistungen (nämlich in Form der Überlassung von Wohnraums) erfüllt und er in der überlassenen Wohnung - weil sie ihm gehört - weiterhin mit Wohnsitz gemeldet ist. Der bloße Umstand, dass KM und die Kinder in einer Wohnung wohnen, die dem Kläger gehören, kann jedoch nicht dafür ausschlaggebend sein, ob ein Kindergeldanspruch besteht oder nicht.
633. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Bezogen auf das Kind 3 war der Kindergeldanspruch für 12 Monate (02/2015 – 01/2016) streitig und bezogen auf das Kind 1 erstreckte sich der Streitzeitraum insgesamt auf 21 Monate (05/2014 – 01/2016). Die auf 1 entfallenden Kosten fallen aus den unter 1) dargelegten Gründen der Beklagten zu Last. Dies entspricht (21/33=) 64 % der Gesamtkosten.
64Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.