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Der Bescheid des Beklagten vom 11. Dezember 2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2014 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Die Schuldnerin A betrieb Spielhallen. Weil in der Vergangenheit in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) Zweifel geäußert worden waren, ob die Umsätze eines Automatenaufstellers aus Geldspielgeräten nach § 4 Nr. 9 b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) steuerbar oder steuerfrei seien, kam es zu Anträgen auf Änderung und nach Ablehnung zu Einspruchsverfahren der damaligen Steuerberater der Schuldnerin hinsichtlich der Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1996 bis 1998. Die Einspruchsverfahren ruhten seit dem Jahr 2001 im Hinblick auf das beim BFH anhängige Verfahren zum Az. V R 7/02. Außerdem fand u. a. hinsichtlich Umsatzsteuer der Jahre 1996 bis 1998 eine Außenprüfung bei der Schuldnerin statt. Nach dem Außenprüfungsbericht vom 24. November 2003 vertrat der Außenprüfer die Auffassung, dass bei den Umsätzen von Geldspielautomaten für die Jahre 1996 bis 1998 Zuschätzungen vorzunehmen seien, ohne auf die Problematik der Steuerfreiheit / Steuerpflicht einzugehen. Der Beklagte erließ unter dem 9. Januar 2004 entsprechend geänderte Bescheide und hob den bisher bestehenden Vorbehalt der Nachprüfung jeweils auf. Die Steuerberater der Schuldnerin legten hiergegen jeweils Einspruch ein. Die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 1996 bis 1998 seien insoweit aufzuheben, als sie aus Geldspielgeräten resultierten. Derzeit sei in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt, ob die Umsätze aus Geldspielgeräten umsatzsteuerbar seien.
3Über das Vermögen der A wurde mit Beschluss des Amtsgerichts … vom 6. Juli 2004 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt (…). Nachdem der Kläger im Prüfungstermin im Insolvenzverfahren u. a. die Forderungen des Beklagten aus Umsatzsteuer für die Jahre 1996 bis 1998 bestritten hatte, forderte der Beklagte ihn mit Verfügung vom 2. November 2004 auf, den Rechtsstreit aufzunehmen oder den Widerspruch zurückzunehmen. Für den Fall, dass der Kläger keine Aufnahmeerklärung abgäbe, werde er, der Beklagte, die Aufnahme des Verfahrens erklären und über den Rechtsbehelf nach Lage der Akten entscheiden.
4Mit einer Kurzmitteilung im internen Informationssystem der Finanzverwaltung vom 23. Februar 2005 wies die Oberfinanzdirektion … auf den Tenor des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 17. Februar 2005 in den Rechtssachen C-453/02 und C-462/02 hin, wonach Geldspielautomatenumsätze außerhalb von Spielbanken umsatzsteuerfrei seien, und ordnete im Hinblick auf die noch anhängigen Revisionsverfahren vor dem BFH (V R 50/01 und V R 7/02) an, dass bis zur Entscheidung durch den BFH entsprechende Einspruchsverfahren weiterhin ruhen sollten.
5Der Beklagte erließ unter dem 15. März 2005 eine an den Kläger als Insolvenzverwalter in dem Verfahren der Schuldnerin gerichtete Einspruchsentscheidung u. a. wegen Umsatzteuer 1996 bis 1998. Im Tenor der Einspruchsentscheidung verfügte er, dass das Einspruchsverfahren aufgenommen, in das Feststellungsverfahren übergeleitet und die angemeldeten Forderungen als Insolvenzforderungen festgestellt würden. Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen aus, dass der Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1996 bis 1998 sowie der Widerspruch des Klägers gegen die zur Tabelle angemeldeten Steuerforderungen unbegründet seien, und nahm auf den Außenprüfungsbericht vom 24. November 2003 Bezug.
6Der Kläger erhob gegen die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 keine Klage.
7Mit Schreiben vom 30. Dezember 2008 beantragte er, die für die Kalenderjahre 1996 bis 1998 festgesetzten und erhobenen Umsatzsteuern, soweit sie aus Umsätzen für die Geldspielgeräte resultierten, zu erlassen bzw. zu erstatten. Dabei bezog er sich in seinem Antrag ausdrücklich auf die „Umsatzsteuern 1996 bis 1998, soweit sie durch die Betriebsprüfung nachträglich festgesetzt wurden“. Er machte geltend, die Erhebung der Steuerbeträge sei sachlich unbillig, weil sie materiell der Rechtsprechung des EuGH und der Rechtsprechung des BFH im Urteil vom 12. Mai 2005, der der Rechtsprechung des EuGH gefolgt sei, nicht entspreche. Auch der Umstand, dass er gegen die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 15. März 2005 keine Klage erhoben habe, ändere an der sachlichen Unbilligkeit nichts. Der Beklagte habe die anhängigen Verfahren vor dem EuGH und dem BFH gekannt und trotz Kenntnis des noch offenen Ausgangs des Verfahrens vor dem BFH die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 erlassen.
8Das beklagte Finanzamt lehnte mit Bescheid vom 2. November 2009 den Erlass der Umsatzsteuerschulden für die Jahre 1996 bis 1998 ab und führte aus: Sachliche Billigkeitsgründe seien im Streitfall nicht gegeben. Das Erlassverfahren diene nicht dazu, die materielle Richtigkeit unanfechtbar gewordener Steuerbescheide zu überprüfen. Der Kläger habe es verabsäumt, gegen die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 Klage zu erheben. Eine solche Klage sei ihm möglich und auch zumutbar gewesen, nachdem der EuGH am 17. Februar 2005 entschieden habe, dass Geldspielautomatenumsätze außerhalb von Spielbanken umsatzsteuerfrei seien.
9Nach erfolgloser Durchführung eines Einspruchsverfahrens erhob der Kläger beim Finanzgericht Düsseldorf zum Az. 4 K 340/10 AO Klage. Das Gericht gab der Klage mit Urteil vom 27. Juli 2011 statt und verpflichtete den Beklagten, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide den Antrag des Klägers auf Erlass bzw. Erstattung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Maßgeblich sei insbesondere, dass aufgrund der durch die Finanzbehörde veranlassten unzureichenden Information über den Verfahrensstand des bereits von der Schuldnerin eingelegten Rechtsbehelfs aus Sicht eines ordnungsgemäß handelnden Insolvenzverwalters keine Veranlassung bestanden habe, gegen die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 Klage zu erheben.
10Unter dem 15. September 2011 erstattete der Beklagte dem Kläger unter Bezugnahme auf das finanzgerichtliche Urteil einen Gesamtbetrag von 51.376,70 €.
11Parallel zum finanzgerichtlichen Verfahren zum Az. 4 K 340/10 AO wurde der Kläger vor dem Landgericht … vom Sonderinsolvenzverwalter auf Schadensersatz verklagt. Das Gericht gab der Klage mit Urteil vom 10. Januar 2011 dem Grunde nach statt. Der Kläger habe die ihm obliegenden Pflichten als Insolvenzverwalter verletzt, indem er es unterlassen habe, die Erfolgsaussichten einer Klage gegen die Einspruchsentscheidungen vom 15. und 16. März 2005 zu prüfen und eine Klage beim Finanzgericht zu erheben. Insbesondere seien ihm persönlich die Einspruchsentscheidungen zugegangen, woraufhin ihm die Insolvenzschuldnerin auf seine Anfrage mit Schreiben vom 4. April 2005 mitgeteilt habe, dass sie die Forderungen nicht in voller Höhe anerkenne und sich Näheres aus dem Schriftwechsel zwischen ihren damaligen Steuerberatern und dem Finanzamt ergebe, der dem Kläger vorliege. Auch habe sich schon aufgrund der Schreiben der damaligen Steuerberater der Schuldnerin ein Anlass zur Überprüfung ergeben. Im Schreiben vom 12. Juni 2004 sei der Kläger auf das Einspruchsverfahren sowie das gerichtliche Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung hingewiesen worden. Der Kläger legte gegen das Urteil des Landgerichts Berufung ein und wies im Rahmen der Berufungsbegründung auch auf das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf zum Az. 4 K 340/10 AO hin. Die Parteien erklärten daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
12Der Kläger beantragte in den Jahren 2008 bzw. 2011 und 2012 die Änderung bzw. Neufestsetzung hinsichtlich der gesamten Umsatzsteuern der Schuldnerin für die Jahre 1996 bis 1998, die von der Rechtsprechung des EuGH bzw. BFH betroffen seien. Die Anträge lehnte der Beklagte jeweils im Ergebnis bestandskräftig ab.
13Außerdem beantragte der Kläger unter dem 23. November 2011 den Erlass der Umsatzsteuerbeträge für die Jahre 1996 bis 1998, die nach dem Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf noch nicht vom Beklagten erstattet worden seien. Dies sei für das Jahr 1996 ein Betrag von 62.464,48 €, für das Jahr 1997 ein Betrag von 54.283,58 € und für das Jahr 1998 ein Betrag von 60.365,85 €. Der Beklagte lehnte den Antrag unter dem 11. Dezember 2012 ab. Dem ursprünglichen Erlassantrag vom 30. Dezember 2008 sei bereits abgeholfen worden. Im Übrigen seien Billigkeitsgründe nicht gegeben.
14Im Rahmen des Einspruchsverfahrens hiergegen trug der Kläger vor, eine weitergehende Bearbeitung durch die Finanzverwaltung, also Gesamtklärung des Verfahrens, sei im vorliegenden Fall zu erwarten gewesen. Deshalb habe er das finanzgerichtliche Urteil und die Abrechnung der Finanzverwaltung abgewartet. Die Festsetzungsfrist habe er nicht einhalten können, da ihm der Erlassgrund erst nach dem finanzgerichtlichen Urteil und durch Akteneinsicht bekannt geworden sei. Erlassanträge seien grundsätzlich nicht fristgebunden. Für eine Verwirkung sei im vorliegenden Fall nichts ersichtlich.
15Der Beklagte wies den Einspruch mit Entscheidung vom 7. März 2014 als unbegründet zurück. Anders als im finanzgerichtlichen Urteil zum Az. 4 K 340/10 AO ausgeführt, hätte der vom Finanzgericht für entscheidend gehaltene Fehler des Finanzamts richtigerweise durch eine Klage verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und nicht durch einen Erlass korrigiert werden müssen. Darüber hinaus komme im vorliegenden Fall dem Interesse der Allgemeinheit an Rechtsfrieden und Rechtssicherheit der Vorrang zu. Nach dem finanzgerichtlichen Urteil habe er nicht mehr mit einem weiteren Erlassantrag rechnen müssen. Der Antrag sei unverhältnismäßig spät nach Ablauf der Festsetzungsfrist am 18. April 2005 gestellt worden. Eine unbeschränkte Antragstellung im Jahr 2008 wäre angemessen gewesen. Die willkürliche Aufspaltung dieses Lebenssachverhalts erscheine demgegenüber rechtsmissbräuchlich. Im Übrigen habe die Finanzbehörde den Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung im Jahr 2008 auch nicht mehr unbillig über den behördlichen Verfahrensgang in Unkenntnis gelassen.
16Mit seiner Klage trägt der Kläger ergänzend vor, dass sich im vorliegenden Fall ein Erlass aus denselben Gründen wie im Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf zum Az. 4 K 340/10 AO ergebe. Eine Frist für die Antragstellung sei nicht vorgesehen. Insbesondere habe er zur Zeit des ersten Erlassantrags die Vorstellung gehabt, dass die Nachforderungen aufgrund der Betriebsprüfung auf einer anderen steuerlichen Beurteilung durch den EuGH beruht hätten. Vom tatsächlichen Sachverhalt habe er zunächst nur rudimentäre Kenntnisse gehabt und erst nach Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren im Einzelnen Kenntnis erlangt. Auch resultiere der eingeschränkte Antrag aus dem zivilrechtlichen Verfahren mit dem Sonderinsolvenzverwalter.
17Der Kläger beantragt,
18den Beklagten unter Aufhebung seiner ablehnenden Entscheidung vom 11. Dezember 2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2014 zu verpflichten, Umsatzsteuern der Insolvenzschuldnerin A für das Jahr 1996 i.H.v. 62.464,48 €, für das Jahr 1997 i.H.v. 54.283,58 € und für das Jahr 1998 i.H.v. 60.365,85 € zu erlassen bzw. zu erstatten.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Er trägt ergänzend vor, die Unkenntnis des steuerlichen Sachverhalts müsse sich der Kläger zurechnen lassen. Insbesondere sei hierzu auf das Urteil des Landgerichts … zu verweisen.
22Das Gericht hat die Akten des Landgerichts …, des Finanzgerichts Düsseldorf zum Az. 4 K 340/10 AO sowie die noch nicht vernichteten Unterlagen im Verfahren des Finanzgerichts Düsseldorf zum Az. 13 V 1431/04 A (E, G, U, AO) beigezogen.
23Entscheidungsgründe:
24Die Klage ist nur teilweise begründet.
25Sie hat Erfolg, soweit mit der Verpflichtungsklage inzident auch die Aufhebung der ablehnenden Entscheidung begehrt wird. Denn die Entscheidung vom 11. Dezember 2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 101 S. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO).
26Wie schon im parallel gelagerten Verfahren zum Az. 4 K 340/10 AO hat der Beklagte die Besonderheiten des Streitfalles auch vorliegend im Rahmen der ablehnenden Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2014 ging der Beklagte ersichtlich noch von dem Sachverhalt aus, der auch dem Urteil in dem Verfahren zum Az. 4 K 340/10 AO zugrunde lag. Auf das landgerichtliche Verfahren nahm er erst im Rahmen der vorliegenden Klageerwiderung Bezug. Insbesondere kann es für die Frage, ob aus Sicht eines ordnungsgemäß handelnden Insolvenzverwalters Veranlassung bestand, gegen die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 Klage zu erheben, nicht auf die Informationslage bei Stellung des Erlassantrags im Jahr 2008 ankommen. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Klagefrist bereits abgelaufen. Anders als der Beklagte meint, ist der Erlassantrag im vorliegenden Fall auch nicht zu spät gestellt worden. Ein Erlassantrag ist nicht an bestimmte Fristen gebunden. Nur die Regeln der Verwirkung können einschlägig sein. Dabei ist zu beachten, dass diese neben dem Zeitmoment auch ein Umstandsmoment voraussetzt, nach dem der Steuergläubiger nach den Umständen mit einem Erlassantrag nicht mehr zu rechnen brauchte (BFH, Urteil vom 8. Oktober 1980 II R 8/76, BStBl II 1981, 82, BFHE 131, 446; Loose, in Tipke/Kruse, AO, § 227, Rn. 132; v. Groll, in HHSp, AO, § 227 Rn. 191, 370; aktuell zu § 163 AO: FG Münster, Urteil vom 08. Mai 2013 - 3 K 3461/11 AO, EFG 2014, 972). Hierfür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger in den Jahren 2008, 2011 und 2012 sogar noch die Änderung der Festsetzung der gesamten von der Rechtsprechung des EuGH betroffenen Umsatzsteuer der Jahre 1996 bis 1998 beantragt. Auch das vom Beklagten zitierte Urteil des BFH (Urteil vom 17. März 1987 VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620) findet keine Anwendung. Denn es geht im vorliegenden Fall nicht darum, dass nach einem abgelehnten Billigkeitsantrag aus denselben Gründen später erneut der Erlass beantragt wird. Vielmehr handelt es sich vorliegend um einen Betrag, für den gerade noch keine Billigkeitsmaßnahme im Raum stand.
27Die Klage hat aber keinen Erfolg, soweit sie das Verpflichtungsbegehren des Klägers betrifft, Umsatzsteuern der Insolvenzschuldnerin A für das Jahr 1996 i.H.v. 62.464,48 €, für das Jahr 1997 i.H.v. 54.283,58 € und für das Jahr 1998 i.H.v. 60.365,85 € zu erlassen bzw. zu erstatten.
28Eine solche Verpflichtung nach § 101 S. 1 FGO oder eine Verpflichtung zur Bescheidung nach § 101 S. 2 FGO kommt nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 227 der Abgabenordnung (AO) vorliegen. Das ist hier nicht der Fall.
29Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Eine sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Besteuerung, unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den gesetzlichen Wertungen zuwiderläuft (BFH, Urteile vom 9. September 1993 V R 45/91, BStBl II 1994, 131 sowie vom 23. September 2004 V R 58/03, BFH/NV 2005, 825). Bestandskräftig festgesetzte Steuern können grundsätzlich nur dann im Billigkeitsverfahren erlassen oder erstattet werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig war und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren rechtzeitig zu wehren (BFH, Urteil vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889). Demgegenüber ist eine sachliche Unbilligkeit anzunehmen, wenn die Finanzbehörde die Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung in zurechenbarer Weise verursacht hat, weil sie den Steuerpflichtigen sachlich unzutreffend belehrt und über den wahren Verfahrensstand im Unklaren gelassen hat (vgl. BFH, Urteil vom 8. April 1987 X R 14/81, BFH/NV 1988, 214).
30Im vorliegenden Fall hat der Kläger gegen die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 keine Klage erhoben hat, so dass die Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre bestandskräftig geworden sind. Eine solche Klageerhebung war ihm jedoch nach dem dem Senat nunmehr bekannt gewordenen Sachverhalt zuzumuten. Denn ungeachtet dessen, dass der Kläger vom Beklagten durch dessen unvollständige Belehrung im Schreiben vom 2. November 2004 über den wahren Verfahrensstand und die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Unklaren gelassen worden ist, musste sich dem Kläger später eine zumindest fristwahrende Klageerhebung innerhalb der Klagefrist aufgedrängt haben und war ihm jedenfalls zuzumuten. Nach den dem erkennenden Senat nunmehr vorliegenden Feststellungen des Landgerichts … im Urteil vom 10. Januar 2011 … sowie ausweislich der in Bezug genommenen Schriftstücke in der landgerichtlichen Akte (…) hat der Kläger der Insolvenzschuldnerin die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 zur Feststellung der Insolvenzforderungen unter dem 16. März 2005 mit der Bitte um Mitteilung übersandt, ob die Steuerforderungen richtig seien, da ihm selbst keine Unterlagen zur Überprüfung vorlägen. Die Insolvenzschuldnerin teilte ihm daraufhin unter dem 4. April 2005 mit, dass sie die Forderungen des Finanzamts nicht in voller Höhe anerkenne, und verwies zur Begründung auf den Schriftwechsel zwischen ihren Steuerberatern und dem Finanzamt, der dem Kläger vorliege. Danach wäre dem Kläger jedenfalls die fristwahrende Klageerhebung zumutbar gewesen. Auch hätte er sich noch bis zum Ablauf der Klagefrist zumindest telefonisch mit den Steuerberatern der Insolvenzschuldnerin oder der Insolvenzschuldnerin selbst in Verbindung setzen können, um weitere Einzelheiten zu erfahren. Das gilt umso mehr, als es sich bei den in der Einspruchsentscheidung aufgeführten Beträgen jedenfalls nicht nur um Bagatellbeträge handelte. Im Rahmen eines Klageverfahrens hätte der Kläger dann auch die Gelegenheit zur Akteneinsicht in die Verwaltungsakten des Beklagten nach § 78 Abs. 1 FGO gehabt. Darüber hinaus hatten ihm die Steuerberater der Insolvenzschuldnerin schon mit Schreiben vom 12. Juli 2004 mitgeteilt, dass Steuerlasten nach einer Außenprüfung für die Altjahre noch im Einspruchsverfahren strittig seien und bereits ein finanzgerichtlicher Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt worden sei. Der Kläger hätte mithin sogar schon zu einem früheren Zeitpunkt Veranlassung gehabt, sich über die Hintergründe des Einspruchsverfahrens zu erkundigen. Dabei hätte ihm als Insolvenzverwalter gerade der Kontakt zum Finanzgericht nebst Akteneinsicht offen gestanden, bei dem das Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung anhängig war und im Rahmen dessen er sich über die Hintergründe hätte informieren können. Das Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung beim Finanzgericht Düsseldorf zum Az. 13 V 1431/04 A (E, G, U, AO) wurde erst mit Beschluss vom 30. August 2004 nach einer vorher an den Kläger ergangenen Anhörung aus den Registern des Gerichts gelöscht. Schließlich handelte es sich bei der Frage der Umsatzsteuerfreiheit für Umsätze aus Geldspielgeräten um das zum damaligen Zeitpunkt gerade aktuelle Rechtsproblem für die gesamte Branche.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und § 137 S. 1 FGO. Dem Kläger werden die Kosten nach § 137 S. 1 FGO auch insoweit auferlegt, als er obsiegt hat, denn die vorliegende Entscheidung beruht auf Tatsachen, die er früher hätte geltend machen sollen. Im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 1 S. 2 AO müssen die Beteiligten die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen. Hieran fehlt es im vorliegenden Fall, was gerade den Sachverhalt nach Ergehen der Einspruchsentscheidung (Schreiben des Klägers vom 16. März 2005, Schreiben der Insolvenzschuldnerin vom 4. April 2005) betrifft. Insbesondere kann sich der Kläger nicht darauf berufen, dass das Finanzgericht Düsseldorf im Verfahren zum Az. 4 K 340/10 AO diesen Sachverhalt nicht berücksichtigt hat. Denn dem Gericht war der Sachverhalt zum damaligen Zeitpunkt der Entscheidungsfindung nicht bekannt. Die Erheblichkeit des Sachverhalts für das vorliegende Verfahren ergibt sich aus der Parallelität der Fragestellungen in den beiden finanz- und landgerichtlichen Urteilen, ob der Kläger gegen die Einspruchsentscheidung vom 15. März 2005 hätte Klage erheben müssen.
32Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.