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Der Bescheid vom 29.08.2013 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2.10.2013 wird in der Weise abgeändert, dass die Beklagte verpflichtet wird, der Klägerin für ihre Tochter M Kindergeld für Februar 2013 zu gewähren.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin bezog Kindergeld für ihre Tochter M (geboren im Juni 1993). Diese suchte nach Beendigung ihrer Schulausbildung im Juli 2012 einen Studienplatz bzw. Ausbildungsplatz. Ende November 2012 teilte die Berufsberatung („Kundenbereich Ausbildungsmarktpartner“) der Beklagten (der Familienkasse) mit, dass M dort seit 29.11.2012 (offenbar im Anschluss an ein Beratungsgespräch) nicht mehr als Ausbildungsplatzsuchende geführt werde.
3Die Klägerin erklärte der Familienkasse, M interessiere sich für den Studiengang Retailmanagement an der privaten Hochschule „…“ Düsseldorf. Das Studium koste allerdings monatlich 670 € nebst Kosten für die Auslandssemester. Es beginne im nächsten Wintersemester, wobei die Bafög-Angelegenheiten frühestens 4 Monate vor Studienbeginn geregelt werden könnten. Derzeit werde versucht, die möglichen Finanzierungsmaßnahmen zu klären. Daraufhin hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Dezember 2012 auf (Bescheid vom 29.01.2013), mit der Begründung, die Ausbildungswilligkeit der Tochter M sei (nur) bis November 2012 nachgewiesen worden. Der mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheid trägt den Vermerk: „Ich stelle Ihnen anheim, beigefügten Vordruck ausgefüllt und unterschrieben wieder bei uns einzureichen. Legen Sie bitte weitere Ausbildungsnachweise (Bewerbungen, Ablehnungsschreiben, Eigenbemühungen um einen Ausbildungsplatz) vor.“
4Anfang Juli 2013 stellte die Klägerin bei der Familienkasse einen Kindergeldantrag für M. Sie fügte eine Studienbescheinigung der „…“ Hochschule vom 17.06.2013 bei, wonach die Tochter voraussichtlich ab dem WS 2013/14 ein 6-semestriges Studium zum Bachelor of Arts im Studiengang „Fashion, Luxury & Retail Management“ absolvieren werde. Die Familienkasse setzte daraufhin laufendes Kindergeld ab Juni 2013 fest (Bescheid vom 9.07.2013). Daneben bat die Familienkasse, Unterlagen einzureichen (Bescheinigungen der Hochschule, Einladung zum Eignungstest, Ablehnungsbescheids zum Sommersemester u. ä.), woraus sich Eigenbemühungen im Zeitraum Dezember 2012 bis Mai 2013 ergäben. Die Klägerin wies nach, dass M u. a. im Januar 2013 wegen einer Terminvereinbarung im laufenden Kontakt mit der „..“‑Hochschule stand, dass sie Anfang Februar eine Bewerbungsmappe übersandt (Eingangsbestätigung am 7.02.2013) und einen Termin für den Aufnahmetest vereinbart hatte. Mitte Mai 2013 wurde M die Zusendung der Immatrikulationsbescheinigung (nach Eingang der Einschreibegebühr) zugesagt.
5Mit Bescheid vom 29.08.2013 setzte die Familienkasse gegenüber der Klägerin Kindergeld für März 2013 bis Mai 2013 fest. Sie erläuterte, da die Klägerin erst nach Ablauf der Einspruchsfrist gegen den Aufhebungsbescheid vom 29.01.2013 ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen sei, könne die Aufhebung für die Vergangenheit nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) nicht mehr korrigiert werden. Kindergeld könne frühestens ab dem Monat erneut festgesetzt werden, der dem Monat der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids vom 29.01.2013 folge, also ab März 2013.
6Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch und protestierte gegen die Ablehnung des Kindergelds „für die Monate Januar, Februar und März“. Sie trug vor, sie habe bis 9.12.2012 (mit Zusendung ausführlicher Unterlagen) in laufender Korrespondenz mit der Familienkasse gestanden und habe im Januar und Februar 2013 mehrmals mit der Service-Hotline der Familienkasse telefoniert. Aus diesen unterschiedlichen Schreiben habe die Familienkasse entnehmen können, dass sich die Tochter von August bis Oktober 2012 bei verschiedenen Hochschulen beworben habe. Schon seit Dezember 2012 sei klar gewesen, dass die Tochter im Wintersemester 2013 an der „…“‑Hochschule studieren werde. Somit seien Bemühungen um einen Studienplatz auch für Januar bis März 2013 nachgewiesen.
7Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 2.10.2013). Sie führte aus, die erneute Kindergeldfestsetzung sei für Monate vor März 2013 (gemeint ist der Zeitraum Dezember 2012 bis Februar 2013) zu Recht abgelehnt worden. Denn ihr stehe die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom 29.01.2013 entgegen. Dieser Bescheid gelte am 3. Tag nach Postaufgabe, also dem 1.02.2013, als bekanntgegeben. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung reiche seine Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe, im Streitfall bis Ende Februar. Eine rückwirkende Korrektur des Aufhebungsbescheids gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO scheitere daran, dass die Klägerin ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der maßgeblichen Tatsachen/ Beweismittel treffe.
8Hiergegen richtet sich die Klage, die die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auf den Monat Februar 2013 beschränkt hat.
9Die Klägerin beantragt,
10die Familienkasse zu verpflichten, den Bescheid vom 29.08.2013 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2.10.2013 in der Weise zu ändern, dass ihr für den Monat Februar 2013 Kindergeld gewährt wird.
11Die Familienkasse beantragt,
12die Klage abzuweisen;
13hilfsweise: die Revision zuzulassen.
14Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die dem Gericht übersandte Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
15E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
16Die Klage ist begründet.
17Die Familienkasse hat die Kindergeldfestsetzung gegenüber der Klägerin für ihre Tochter M für den Monat Februar 2013 zu Unrecht versagt.
181. Für diesen Monat hat M einen Kindergeldtatbestand verwirklicht; sie war als ausbildungssuchendes Kind i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c) EStG zu berücksichtigen. Indem sie eine Bewerbungsmappe an die Hochschule gesendet (Eingang 7.02.2013) und einen Termin für den Aufnahmetest vereinbart hat, hat sie nachweislich ernsthafte Bemühungen um einen Studienplatz unternommen, die deutlich über eine unverbindliche Informationssuche hinausgehen.
192. Der bestandskräftige Ablehnungsbescheid vom 29.01.2013, der gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach Postaufgabe, also am 1.02.2013 als bekannt gegeben gilt, steht der Neufestsetzung des Kindergelds für Februar 2013 nicht entgegen. Regelungsinhalt dieses Bescheids kann aus der Sicht des objektiven Empfängers nur sein, dass damit die Kindergeldfestsetzung ab Dezember 2012 aufgehoben und das Bestehen eines Kindergeldtatbestands für die abgelaufenen Monate Dezember 2012 und Januar 2013 sowie den gerade begonnen Monat Februar 2013 verneint worden ist, weil die Familienkasse die Informationssammlung über Studiengänge und die Telefonate der Tochter nicht als hinreichend ernsthafte Bemühungen um einen Studienplatz angesehen hat. Damit ist auch für den begonnen Monat Februar 2013 die Kindergeldfestsetzung zunächst versagt worden, aber nach Auffassung des Senats noch nicht abschließend und endgültig; die darüber hinaus unterstellte Rechtsfolge, damit werde das künftige Bestehen und Entstehen eines Kindergeldanspruchs bis Ende Februar 2013 versagt, erscheint weder zwingend noch sachgerecht.
20Denn der Ablehnungsbescheid verhindert nicht, dass im weiteren Verlauf des Monats Februar 2013 – und sei es am letzten Tag ‑ ein Kindergeldtatbestand neu verwirklicht und damit ein erneuter Kindergeldanspruch begründet werden konnte; dies schließt der Regelungsinhalt des Bescheids nicht aus. Der Bescheid kann nicht die zukünftige Entwicklung vorhersehen und trifft deshalb erkennbar keine versagende Regelung für die Zukunft. Im Streitfall hat die Tochter der Klägerin durch Übersendung der Bewerbungsunterlagen an die Hochschule (wohl Eingang am 7.02.2013) die Informationsphase beendet und die Ausbildungssuche nachgewiesen, so dass sie hierdurch zum 7.02.2013 wieder einen Kindergeldtatbestand verwirklicht hat. Dieser Umstand konnte im am 1.02.2013 bekannt gegebenen Ablehnungsbescheid offensichtlich nicht berücksichtigt werden.
213. Demgegenüber hat der Bundesfinanzhof die Auffassung vertreten, die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt oder aufgehoben wird, erstrecke sich in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (BFH-Urteile vom 25.07.2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88 und VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; vom 14.12.2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530 und vom 26.11.2009 III R 102/07, BFH/NV 2010, 856). Damit würde der am 1.02.2013 bekannt gegebene Ablehnungsbescheid im Falle seiner Bestandskraft tatsächlich, wovon auch die Familienkasse ausgegangen ist, eine spätere Kindergeld-Neufestsetzung für den Februar 2013 verhindern.
22Der Ablehnungsbescheid könnte deswegen auch nicht nach § 173 AO geändert werden. Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen und Beweismittel sind nur solche, die zu dem für § 173 AO maßgebenden Zeitpunkt (hier: dem abschließende Zeichnung des Aufhebungsbescheids am 29.01.2013) bereits vorhanden, aber noch unbekannt waren (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH Urteile vom 9.11.2011 VIII R 18/08, BFH/NV 2012, 370, Rz. 19 und vom 21.04.1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863; BFH-Beschluss vom 12.08.1997 IV B 98/96, BFH/NV 1998, 147). Das gilt auch für sog. Hilfstatsachen, die den sicheren Schluss auf die Haupttatsache zulassen (BFH-Urteil vom 06.12.1994 IX R 11/91, BFHE 176, 221, BStBl II 1995, 192). Denn § 173 AO betrifft nur Tatsachen und Beweismittel, die im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorhanden war und bei dieser Entscheidung hätten berücksichtigt werden können.
23Vielmehr wäre nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Berücksichtigung der Verwirklichung des Kindergeldtatbestandes im Verlauf des Februar 2013 und damit das erneute Entstehen eines Kindergeldanspruchs für Februar 2013 nur durch einen Einspruch gegen den bereits vorher, am 1.02.2013 bekannt gegebenen Bescheid geltend zu machen. Hätte die Tochter den Kindergeldanspruch für Februar 2013 am 28.02.2013 verwirklicht, hätte die Kindergeldberechtigte genau 1 Tag Zeit, um hiervon zu erfahren, diesen Umstand der Familienkasse mitzuteilen und durch Erheben des Einspruchs gegen den Ablehnungsbescheid vom 29.01.2013 dessen Bindungswirkung zu beseitigen und den Verlust des materiell bestehenden Kindergeldanspruchs für Februar 2013 zu verhindern. Dieses Ergebnis erscheint nicht sachgerecht.
24Alternativ könnte auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein neuer kindergelderheblicher Sachverhalt durch eine Änderung gemäß § 70 Abs. 2 EStG berücksichtigt werden, wenn man als „Zeitpunkt“ der Änderung im Sinne dieser Vorschrift den Ereignistag, nicht den Monat (als kleinsten kindergeldrelevanten Zeitraum, § 66 Abs. 2 EStG) interpretiert. Damit hätte der Ablehnungsbescheid vom 29.01.2013 „im Prinzip“ zwar versagende Bindungswirkung bis Ende Februar 2013, wäre aber bei einer neuen Verwirklichung des Kindergeldtatbestands im Verlauf des Februar 2013 ohne weiteres wieder abänderbar. In diesem Falle könnte man allerdings auch gleich auf jegliche in die Zukunft reichende Bindungswirkung des Ablehnungsbescheids verzichten.
25Letztere Alternative hält der erkennende Senat für dogmatisch zulässig und sachgerecht. Nach alledem ist der Senat der Auffassung, die Bestandskraft eines nicht angefochtenen Bescheids, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt bzw. aufgehoben wird, erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich (nur) bis zum Tag seiner Bekanntgabe.
264. Die Revision wird zugelassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), darüber hinaus ist wegen der Abweichung des Urteils von der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Revisionszulassung auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. FGO) geboten.
275. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.