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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Kläger begehrt die Erstattung von Zoll für eine Einfuhr, ohne dass für diese Einfuhr ausdrücklich ein Rechtsbehelf eingelegt oder innerhalb der dreijährigen Antragsfrist ausdrücklich ein Erstattungsantrag gestellt worden war.
3Die Schuldnerin, für die der Kläger das jetzige Klageverfahren aufgenommen hat, führte mit zahlreichen Einfuhren MP3-Player eines bestimmten Typs ein und ließ sie bei Zollstellen des Beklagten in den zollrechtlich freien Verkehr überführen.
4Die Schuldnerin hatte in einem vorangegangenen Rechtsstreit für die von ihr eingeführten MP3-Player eine Einreihung zu einem erheblich niedrigeren Zollsatz erreicht. Jenem Rechtsstreit lagen folgende Vorgänge zu Grunde:
5Die Schuldnerin beantragte am 05.04.2007 mit Anschreibungsmitteilung die Überführung von bestimmten MP3-Playern in den zollrechtlich freien Verkehr. Die Zollstelle des Beklagten entnahm der Sendung eine Probe, die sie durch die Zolltechnische Prüfungs- und Lehranstalt X untersuchen ließ. Am 24.04.2007 gab die Schuldnerin beim Beklagten eine ergänzende Zollanmeldung ab, in der sie die Waren unter der Unterposition 8519 89 90 der Kombinierten Nomenklatur (KN) (Zollsatz 2%) anmeldete.
6Mit Bescheid vom 25.07.2007 erhob der Beklagte für die Sendung 16.752,77 € Zoll nach, da die Waren nicht als MP3-Player, sondern als andere Videogeräte der Unterposition 8521 90 00 KN (Zollsatz 13,9%) anzusehen seien. Dagegen legte die Schuldnerin durch die in ihrem Namen tätige Spedition, die A GmbH & Co. KG (Spedition), mit Schreiben vom 08.08.2007 Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens legte die auch seinerzeit vom Prozessvertreter des Klägers vertretene Schuldnerin das Urteil der Rechtsbank ............./Niederlande vom 13.11.2007 vor, in dem dieses Gericht gleichartige MP3-Player der Unterposition 8519 89 90 KN zuwies. Gleichwohl wies der Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 18.02.2009 zurück. Das anschließende Klageverfahren 4 K 871/09 Z setzte das Finanzgericht mit Beschluss vom 07.04.2010 nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Fragen zur Auslegung der KN vor. Mit Beschluss vom 09.12.2010, C-193/10 entschied der EuGH, dass MP3-Player der von der Schuldnerin eingeführten Art aus der Position 8521 ausgeschlossen sind. Daraufhin half der Beklagte der Klage ab.
7Hinsichtlich des in dem vorliegenden Klageverfahren streitigen Erstattungsanspruchs beantragte die Schuldnerin am 29.06.2007 mit Anschreibungsmitteilung die Überführung baugleicher MP3-Playern in den zollrechtlich freien Verkehr. In der ergänzenden Zollanmeldung vom 09.07.2007 meldete die Schuldnerin die Ware mit einem Zollwert von 156.187,40 € unter der Unterposition 8521 90 00 KN an und entrichtete den von ihr errechneten Zoll in Höhe von 21.710,05 €. Der Vordruck der ergänzenden Zollanmeldung enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung. Der Schuldnerin wurde die Höhe des Zolls zudem am 11.07.2007 mitgeteilt.
8Die von der Anmeldung vom 05.04.2007 abweichende Anmeldung der MP3-Player unter der Unterposition 8521 90 00 KN beruhte u.a. darauf, dass der Beklagte von der Spedition die Anmeldung der MP3-Player unter dieser Unterposition verlangte, da andernfalls bewilligte vereinfachte Verfahren gefährdet seien. Hierauf rief der Geschäftsführer der Komplementärin der Spedition am 08.08.2007 beim Beklagten an und teilte mit, die Schuldnerin werde gegen die erteilten Einfuhrabgabenbescheide Einspruch einlegen und die Aussetzung der Vollziehung beantragen. Zugleich legte die Schuldnerin durch die Spedition mit Schreiben vom 08.08.2007 Einspruch ein, der sich nicht nur auf den im o.a. vorangegangenen Verfahren streitigen Bescheid, sondern ausdrücklich auf neun weitere Bescheide erstreckte.
9Hinsichtlich der Einfuhr mit Anschreibungsmitteilung vom 29.06.2007 beantragte die Schuldnerin ausdrücklich erstmals am 28.12.2010 beim Beklagten die Erstattung des Zolls in Höhe von 21.710,05 €. Diesen Antrag lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 16.02.2011 ab, da die dreijährige Antragsfrist abgelaufen sei.
10Zur Begründung des dagegen fristgerecht eingelegten Einspruchs trug die Schuldnerin u.a. vor, sie habe gegen die Bescheide, die Gegenstand einer Sammelzollanmeldung gewesen seien, keinen Einspruch eingelegt. Sie sei der Auffassung gewesen, dies sei wegen des bereits laufenden Einspruchsverfahrens im vorangegangenen Rechtsstreit unnötig. Soweit sie gegen Bescheide Einspruch eingelegt habe, habe der Beklagte ihren Einsprüchen nach Ergehen des EuGH-Beschlusses vom 09.12.2010 abgeholfen.
11Auf Grund des EuGH-Beschlusses vom 09.12.2010 stehe fest, dass sie den Zoll nach der Position 8521 nicht schulde. Die Erstattungsfrist sei bei Antragstellung noch nicht verstrichen gewesen.
12Der Beklagte habe diese Frist konkludent verlängert, in dem er sich einen Einspruch ausgewählt und nur diesen beschieden habe. Damit sei für sie die konkludente Erklärung verbunden gewesen, dass die übrigen Einspruchsverfahren und vergleichbare Vorgänge ruhten, bis eine abschließende Gerichtsentscheidung ergangen sei.
13Zudem seien Fristbeginn oder -ablauf durch das Verfahren 4 K 871/09 Z gehemmt worden. Dies ergebe sich aus § 204 Ziff. 1 BGB. Diese Hemmung erstrecke sich auch auf die Bescheide, für die kein Einspruch eingelegt worden sei. Für die Hemmung spreche auch, dass die Dauer der Gerichtsverfahren nicht vorhersehbar sei, der Einführer aber bei einem späteren Erfolg im Prozess auch für seine übrigen Einfuhren durch fehlerhafte Verwaltungsentscheidungen keinen Nachteil erleiden dürfe.
14Es sei formalistisch, von einem Einführer zu verlangen, bei einer Vielzahl von Bescheiden, die die gleiche Einreihungsfrage zum Gegenstand gehabt hätten, gegen jeden Bescheid Einspruch einlegen zu müssen.
15Auf den Grundsatz der Rechtssicherheit komme es hier in Bezug auf eine zeitlich begrenzte Antragsfrist nicht an, denn erst mit der Entscheidung des EuGH sei die Einreihungsfrage abschließend entschieden worden. Bis dahin hätten Gerechtigkeitserwägungen Vorrang zu haben.
16Selbst wenn die ergänzende Zollanmeldung bestandskräftig geworden sein sollte, sei sie nach nationalem Recht gegen Erstattung des Zolls zurückzunehmen. Nach den EuGH-Urteilen vom 13.01.2004, C-453/00, Rz. 28 und vom 19.09.2006, C-392/04, Rz. 52 habe eine Rücknahme einer Entscheidung zu erfolgen, wenn die nationale Behörde dazu befugt sei, die Entscheidung aufgrund einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts gegenüber dem Antragsteller bestandskräftig geworden sei, aber aufgrund einer später ergangenen Entscheidung des EuGH auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht habe und der Antragsteller sich unmittelbar nach Kenntnisnahme von der späteren Entscheidung des EuGH an die Verwaltungsbehörde gewandt habe. Diese Voraussetzungen seien in ihrem Fall erfüllt.
17Mit Einspruchsentscheidung vom 07.12.2011 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück und führte dazu aus: Der Schuldnerin stehe keine Erstattung zu, da die Antragsfrist des Art. 236 Abs. 2 Unterabs. 1 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften - ZK - abgelaufen und eine Fristverlängerung wegen eines unvorhergesehenen Ereignisses oder höherer Gewalt nach Art. 236 Abs. 2 Unterabs. 2 ZK nicht in Betracht komme.
18Eine konkludente Verlängerung der Erstattungsfrist für gleichgelagerte Fälle habe es nicht gegeben, weil nur weitere Einspruchsverfahren ruhend gestellt worden seien.
19Die Voraussetzungen eines ausnahmsweisen Erlasses nach dem EuGH-Urteil vom 13.01.2004, C-453/00, seien nicht erkennbar. Die Schuldnerin habe ihre Zollanmeldung nicht angefochten.
20Er sei auch nicht zur Rücknahme der Zollanmeldung nach § 130 AO verpflichtet.
21Dagegen hat die Schuldnerin fristgerecht Klage erhoben.
22Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin hat der Kläger das Klageverfahren aufgenommen. Dazu trägt er vor, die Schuldnerin habe konkludent sowohl Einspruch gegen die ergänzende Zollanmeldung vom 09.07.2007 zur Anschreibungsmitteilung vom 29.06.2007 hinsichtlich der Überführung von MP3-Playern in den zollrechtlich freien Verkehr eingelegt als auch die Erstattung des Zolls beantragt. Sie habe nämlich gegen alle Nacherhebungsbescheide Einspruch eingelegt und die Einreihungsfrage in einem Musterverfahren zu klären gesucht. Hinsichtlich der eingelegten Einsprüche sei sie mit einem Ruhen des Verfahrens einverstanden gewesen.
23Zudem habe die von der Schuldnerin bevollmächtigte Spedition dem Beklagten am 08.08.2007 telefonisch mitgeteilt, sie werde gegen die erteilten Einfuhrabgabenbescheide Einspruch einlegen und die Aussetzung der Vollziehung beantragen. Auch damit sei konkludent zum Ausdruck gebracht worden, gegen die Zollanmeldung vom 09.07.2007 Einspruch einlegen zu wollen.
24Insoweit liege auch höhere Gewalt in Form eines unvorhersehbaren Ereignisses vor. Beamte des Beklagten hätten nämlich den Zollsachbearbeiter der Spedition deutlich darauf hingewiesen, dass ohne Umstellung der Einreihung bei den Anschreibungsmitteilungen die Zulassung zum vereinfachten Verfahren entzogen werden könne. Daraufhin habe der Geschäftsführer der Komplementärin der Spedition angeordnet, die Anschreibungsmitteilungen entsprechend zu ändern. Es sei davon auszugehen, dass der Geschäftsführer dies zum Anlass genommen habe, dem Beklagten am 08.08.2007 telefonisch mitzuteilen, dass gegen alle Einfuhrabgabenbescheide Einspruch eingelegt werde. Der Geschäftsführer sei aber am 16.09.2007 unerwartet verstorben, so dass er weitere Anweisungen nicht mehr habe erteilen können. Nach seinem Tode seien seine Ehefrau und M Geschäftsführer geworden.
25Sowohl die Aufforderung zur Anmeldung unter der Position 8521 als auch der Tod des Geschäftsführers seien ursächlich dafür gewesen, dass gegen den Bescheid vom 25.07.2007 kein Einspruch eingelegt worden sei. Hätte die Schuldnerin die Ware weiter unter der Position 8519 anmelden dürfen, wären Nacherhebungsbescheide ergangen, gegen die sicherlich Einsprüche eingelegt worden wären. Hierfür werde Beweis angeboten durch Zeugnis des Zollsachbearbeiters Y.
26Auch habe sie einen Erstattungsanspruch nach Art. 267, 266 AEUV: Anders als im EuGH-Verfahren C-533/10 habe sie ihren Anspruch auch im Vorabentscheidungsverfahren verfolgt. In den Schlussanträgen im Verfahren C-533/10, Tzn. 64 bis 69 sei der Generalanwalt der Auffassung gewesen, dass in derartigen Fällen die einem Urteil innewohnende Rückwirkung, wenn dort die Ungültigkeit festgestellt werde, zeitlich nicht begrenzt sei. Insoweit sei die Frist des in Art. 236 Abs. 2 ZK nach Auffassung des Generalanwalts kaum mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz zu vereinbaren.
27Nach Art. 266 AEUV hätten die Gemeinschaftsorgane, deren Handeln für vertragswidrig erklärt worden sei, die sich aus einem Urteil des EuGH ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Im Beschluss vom 08.11.2006, C-421/06, Rz. 52 habe der EuGH dies auch für die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens für ungültig erklärte Norm angenommen. Gleiches müsse auch für Vorabentscheidungsverfahren in Auslegungsfragen gelten. Insoweit werde auf das EuGH-Urteil vom 19.07.2012, C-591/10 verwiesen, wonach die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet seien, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten. Der EuGH-Beschluss vom 09.12.2010 C-193/10 binde auch den Beklagten und enthalte hinsichtlich seiner Wirkungen keine Einschränkungen, so dass die zeitlichen Grenzen des Art. 236 Abs. 2 ZK nicht anzuwenden seien. Diese Vorschrift müsse auch hinter der entsprechenden Anwendung des Art. 266 AEUV zurücktreten. Nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3, 13 und 19 EUV seien auch die Mitgliedstaaten in gleicher Weise wie die EU-Organe zum Handeln verpflichtet.
28Zudem stelle Art. 266 AEUV auch eine materielle Rechtsgrundlage für den Ausgleich der Nachteile dar, wenn eine Gemeinschaftsnorm unrichtig ausgelegt worden sei. Danach habe der Beklagte die Schuldnerin so zu stellen, wie sie stünde, wenn der Zolltarif richtig ausgelegt worden wäre. Dieser Anspruch sei zeitlich nicht beschränkt, Art. 47 der Grundrechts-Charta. Art. 236 ZK sei unanwendbar.
29Sollte Art. 236 ZK gleichwohl anwendbar sein, sei die Frist des Art. 236 Abs. 2 ZK jedenfalls unterbrochen oder gehemmt gewesen. Dafür bedürfe es keiner gesonderten Rechtsgrundlage. Vielmehr genüge die Durchführung eines Musterverfahrens, das die Schuldnerin auch selbst betrieben habe. Überlegungen zur Rechtssicherheit griffen auch nicht durch, denn sie habe gerade mit dem Musterverfahren Rechtssicherheit zu erlangen gesucht.
30Die Rücknahmebefugnis des Beklagten nach § 130 AO bestehe neben Art. 236 ZK und ergebe sich insbesondere auch aus Art. 245 ZK, der die Einzelheiten des Rechtsbehelfsverfahrens der Regelung durch die Mitgliedstaaten überlasse. § 130 AO finde insbesondere auch dann Anwendung, wenn unter den besonderen Voraussetzungen der Rechtsprechung des EuGH Einfuhrabgabenbescheide aufgehoben werden müssten.
31Der Kläger beantragt,
32den Beklagten unter Aufhebung seines ablehnenden Bescheids vom 16. Februar 2011 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2011 zu verpflichten, ihm 18.586,30 € Zoll zu erstatten,
33hilfsweise, die Revision zuzulassen.
34Der Beklagte beantragt,
35die Klage abzuweisen,
36und verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung. Ergänzend führt er aus, höhere Gewalt im Sinne des Art. 236 Abs. 2 Unterabs. 2 ZK liege nicht vor. Dass die Einführerin an einem Einspruch gegen die ergänzende Zollanmeldung oder an der Stellung eines Erstattungsantrags gehindert gewesen sei, sei nicht erkennbar gewesen.
37Daher könne auch nicht von einer Beschränkung des effektiven Rechtsschutzes ausgegangen werden.
38Entscheidungsgründe:
39Die Klage ist unbegründet.
40Der Beklagte hat zu Recht mit seinem Bescheid vom 16.02.2011 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.12.2011 die beantragte Erstattung des Zolls abgelehnt. Der Kläger wird dadurch nicht in seinen Rechten verletzt, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
41Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung des Zolls.
42Die Schuldnerin hat gegen die Abgabenanmeldung durch Anschreibungsmitteilung vom 29.06.2007 und ergänzender Zollanmeldung vom 09.07.2007 keinen Rechtsbehelf nach Art. 243 Abs. 2 Buchst. a ZK eingelegt, der als Erstattungsantrag gewertet werden könnte.
43Der Rechtsbehelf, der nach Art. 245 ZK in Verbindung mit §§ 355 ff. AO nur als Einspruch möglich wäre, hätte gemäß § 357 Abs. 1 AO schriftlich oder zur Niederschrift zu erklärt werden müssen. Dies ist aber unterblieben.
44Anhaltspunkte dafür, das der Geschäftsführer der Komplementärin der Spedition bei seinem Anruf am 08.08.2007 beim Beklagten eine telefonische Einlegung beabsichtigt haben könnte, gibt es nicht. Vielmehr hat er nach dem Telefonat mit Schreiben vom selben Tag gegen insgesamt zehn Bescheide Einspruch eingelegt. Auf Grund dieses Geschehens kann nicht angenommen werden, dass eine ausdrückliche Einspruchseinlegung für entbehrlich gehalten wurde.
45Auch fehlt es an einem rechtzeitig gestellten ausdrücklichen Erstattungsantrag. Die hierfür nach Art. 236 Abs. 2 Unterabs. 1 ZK bestimmte dreijährige Antragsfrist war bei nämlich Antragstellung am 27.12.2010 abgelaufen.
46Eine Verlängerung der Frist nach Art. 236 Abs. 2 Unterabs. 2 ZK, die nur in Betracht kommt, wenn der Antragsteller nachweist, dass er infolge eines unvorhersehbaren Ereignisses oder höherer Gewalt an einer fristgerechten Antragstellung gehindert war, scheidet im Streitfall aus.
47Dabei kann offenbleiben, ob der überraschende Tod des Geschäftsführers der Komplementärin der Spedition am 16.09.2007 als unvorhersehbares Ereignis oder ein Fall höherer Gewalt angesehen werden könnte, denn dadurch war die Schuldnerin nicht gehindert, innerhalb von drei Jahren nach dem 09.07.2007 einen Erstattungsantrag zu stellen. Insoweit war der Tod des Geschäftsführers für eine rechtzeitige Antragstellung nicht ursächlich.
48Das gilt auch angesichts des Umstandes, dass die vom Beklagten gewünschten Zollanmeldungen unter der Unterposition 8521 90 00 KN die Schuldnerin mit einem höheren als dem tatsächlich geschuldeten Zoll belastet hatten, denn dadurch war sie weder an einer Anfechtung der ergänzenden Zollanmeldung, einer Steueranmeldung (s. Witte ZK Vor Art. 220 Rz. 14), noch an der Stellung eines Erstattungsantrags gehindert. Die Anfechtungsmöglichkeit der ergänzenden Zollanmeldung ergab sich sogar aus der in ihr enthaltenen Rechtsbehelfsbelehrung.
49Auf die Erhebung des angebotenen Beweises kam es daher nicht an.
50Gerade im Hinblick auf die zahlreichen Einfuhren der MP3-Player durch die Schuldnerin und das sich länger hinziehende Verfahren des vorangegangenen Rechtsstreits hätte sich für die Schuldnerin eine Prüfung der Frage, ob hinsichtlich weiterer Einfuhrvorgänge in Deutschland anspruchswahrende Maßnahmen getroffen werden sollten, geradezu aufgedrängt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schuldnerin in den bekannt gewordenen Verfahren entweder durch die Spedition mit den Befugnissen nach § 4 Nr. 9 Buchst. a des Steuerberatungsgesetzes oder durch die Prozessvertreter des Klägers steuerlich vertreten war.
51Eine konkludente Verlängerung der Erstattungsantragsfrist ist gesetzlich weder vor-gesehen noch vom Beklagten ausgesprochen worden. Der Beklagte hat, wenn er andere Einspruchsverfahren der Schuldnerin gegen Steueränderungsbescheide gemäß § 363 AO ausgesetzt oder mit Einverständnis der Schuldnerin zum Ruhen gebracht hat, keine Erklärungen abgegeben, die über diese Verfahren hinausgingen. Zur Einfuhr mit Anschreibungsmitteilung vom 29.06.2007 und mit ergänzender Zollanmeldung vom 09.07.2007 hat der Beklagte keine Erklärung abgegeben.
52Eine Hemmung der Antragsfrist des Art. 236 Abs. 2 ZK durch die Führung eines Parallelrechtsstreits ist weder vom ZK noch durch die AO vorgesehen. Selbst bei entsprechender Anwendung des § 204 Nr. 1 BGB ist eine Hemmung durch eine Klage nur im Rahmen des Streitgegenstands möglich (s. Palandt-Ellenberger BGB 71. Aufl. § 204 Rz. 13). Streitgegenstand des vorangegangenen Rechtsstreits war jedoch eine andere Einfuhr.
53Eine entsprechende Anwendung des Art. 266 AEUV ist nicht möglich. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift haben die Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der EU, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der EU ergebenden Maßnahmen zu ergreifen.
54Im Streitfall fehlt es schon an einem für nichtig erklärten Handeln. Im vorangegangenen Rechtsstreit waren nur die Auslegung der KN streitig und der angefochtene Steueränderungsbescheid rechtswidrig.
55Zudem ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV eine allein durch Unionsrecht geregelte Klage, für die damit auch durch Unionsrecht die Wirkungen eines Urteils, das die Nichtigkeit einer Handlung eines Organs der Union bestimmt, geregelt werden muss. Demgegenüber ist eine Entscheidung des EuGH, die in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ergeht, lediglich eine Entscheidung in einem Zwischenrechtsstreit, dessen Wirkungen sich grundsätzlich nach dem Ausgangsrechtsstreit richten. Ging es wie im Verfahren C-193/10 nur um die Rechtswidrigkeit eines Steueränderungsbescheids, beschränkt sich die vom EuGH getroffene Auslegungsentscheidung nur auf die Beurteilung des Steueränderungsbescheids.
56Weitergehende Wirkungen kommen dem Beschluss vom 09.12.2010 C-193/10 nur hinsichtlich der Auslegung der streitigen Positionen der KN zu. Insoweit hat der EuGH deren Auslegung verbindlich festgelegt.
57Verfahrensrechtlich folgt daraus nur, dass immer dann, wenn auf Grund unrichtiger Auslegung der streitigen Positionen eine Änderung ergangener Bescheide möglich ist, diese Änderung den Beschluss vom 09.12.2010 C-193/10 zu beachten hat. Hier aber ergibt sich aus Art. 236 Abs. 2 ZK, wie bereits dargelegt wurde, dass eine Erstattung zu unterbleiben hat.
58Soweit der Generalanwalt in den Schlussanträgen des Verfahrens C-533/10, Tzn. 64 bis 69 der Auffassung war, dass dann, wenn in einem Urteil die Ungültigkeit festgestellt worden sei, die Wirkungen dieser Feststellungen zeitlich nicht begrenzt seien, ist der EuGH dem im Urteil vom 14.06.2012 C-533/10 nicht gefolgt, sondern hat an der dreijährigen Antragsfrist festgehalten (Urteil vom 14.06.2012 C-533/10, Rz. 21; Urteil v. 27.09.2007 C-351/04, Rz. 67). Zudem hat der EuGH die Anwendbarkeit des Art. 266 AEUV für einzelstaatliche Gerichte im Verhältnis zu den Zollbehörden ausgeschlossen (Urteil v. 27.09.2007 C-351/04, Rz. 68).
59§ 130 AO ist bei den hier streitigen Zollfestsetzungen nicht anzuwenden. Diese Vorschrift gilt nach § 1 Abs. 1 Satz 2 AO nur vorbehaltlich des Rechts der EU. Dieses enthält in Art. 236 ZK eine die Erstattung gesetzlich nicht geschuldeter Zölle abschließend regelnde Vorschrift.
60Zudem wäre § 130 AO für die Änderung einer Zollfestsetzung nicht anzuwenden. Die Korrektursysteme der AO, §§ 130, 131 AO einerseits und §§ 172 ff. AO für Steuerbescheide andererseits, schließen sich gegenseitig aus (BFH Beschlüsse vom 24.02.1999 X B 149/98, BFH/NV 1999, 1056, und vom 08.03.2004, VIII B 269/03).
61Aus den EuGH-Urteilen vom 13.01.2004, C-453/00, Rz. 28 und vom 19.09.2006, C‑392/04, Rz. 52 folgt nichts anderes, denn nach diesen Entscheidungen ist eine Änderung einer unionsrechtswidrigen Entscheidung auf Grundlage einer höchstrichterlichen Entscheidung eines einzelstaatlichen Gerichts, das ein an sich erforderliches Vorabentscheidungsverfahren nicht eingeleitet hat, nur möglich, wenn das nationale Recht eine Änderung dieser Entscheidung erlaubt. Hier fehlt es schon an einer Änderungsbefugnis. § 130 AO ist wie dargelegt nicht anzuwenden.
62Zudem ist die Entscheidung, deren Änderung begehrt wird, nicht durch ein Gericht, sondern durch den Beklagten als Verwaltungsbehörde getroffen worden und war innerhalb einzuhaltender Fristen anfechtbar gewesen. Zudem hätte ebenfalls fristgerecht ein Erstattungsantrag gestellt werden können.
63Aus dem EuGH-Urteil v. 25.07.1991, C-208/90 folgt auch keine Verlängerung der Antragsfrist, denn diese Entscheidung betrifft nur Regelungen für den Fall einer unzureichenden Richtlinienumsetzung, durch die die Durchsetzung des Rechts erschwert wird. Hier aber war die Schuldnerin nicht an der Durchsetzung ihres Rechts gehindert.
64Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision aus § 115 Abs. 2 FGO.