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1. Das Landesarbeitsgericht ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Berufung an die Wertfestsetzung im erstinstanzlichen Urteil gebunden, wenn sie nicht offensichtlich unrichtig ist.
2. Offensichtlich unrichtig ist die Streitwertfestsetzung nur dann, wenn sie in jeder Beziehung unverständlich und unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist und außerdem der zutreffende Streitwert auf den ersten Blick die für den Beschwerdewert maßgebliche Grenze unterschreitet oder übersteigt.
Einzelfallentscheidung zur Zulässigkeit der Berufung.
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 21.02.2024 –4 Ca 1925/22– wird als unzulässig verworfen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Die Beklagte macht im Rahmen einer Widerklage die Kosten für ihre Rechtsverteidigung als Schadenersatz geltend.
3Der Kläger ist der Bruder des Geschäftsführers der Beklagten. Die familiären Beziehungen sind u.a. durch sehr viele Rechtsstreitigkeiten belastet.
4Die Beklagte verfügt über eine Rechtsschutzversicherung mit einer Selbstbeteiligung von 153,- Euro pro Rechtsschutzfall.
5In der Sache 3 Ca 137/20 (ArbG Bonn) machte der Kläger Zahlungsansprüche gegen die Beklagte geltend. Nachdem sich für die Beklagte ein Rechtsanwalt bestellt hatte, nahm der Kläger noch vor der streitigen Verhandlung die Klage zurück.
6Die gleichen Ansprüche machte er in der weiteren Klage 3 Ca 821/21 (ArbG Bonn) erneut geltend. Nachdem sich für die Beklagte ein Rechtsanwalt bestellt hatte, nahm der Kläger wiederum vor der streitigen Verhandlung die Klage zurück.
7Die gleichen Ansprüche machte er in der weiteren Klage 4 Ca 26/22 (ArbG Bonn) erneut geltend. Nachdem sich für die Beklagte ein Rechtsanwalt bestellt hatte, nahm der Kläger wiederum vor der streitigen Verhandlung die Klage zurück.
8Die gleichen Ansprüche hat der Kläger nochmals mit der vorliegenden Klage 4 Ca 1925/22 (ArbG Bonn) geltend gemacht. Daraufhin hat die Beklagte Widerklage erhoben mit dem Antrag, dass der Kläger ihr Schadenersatz in Höhe der Selbstbeteiligung für die Rechtsanwaltskosten in den o.g. Verfahren von jeweils 153,- Euro (insgesamt also 459,- Euro) zu zahlen habe. Für das laufende Verfahren hat sie einen unbezifferten Feststellungsantrag gestellt, dass der Kläger verpflichtet sei, ihr die durch die Inanspruchnahme ihrer Prozessbevollmächtigten entstehenden Rechtsanwaltskosten für das vorliegende Verfahren zu erstatten.
9Der Kläger hat wiederum vor der streitigen Verhandlung die Klage zurückgenommen.
10In den folgenden Verfahren (jeweils ArbG Bonn) ist der Kläger vergleichbar vorgegangen: 4 Ca 1926/22, 6 Ca 2617/20, 4 Ca 510/22, 4 Ca 1927/22, 3 Ca 181/20, 4 Ca 486/22, 4 Ca 24/23, 4 Ca 2224/21 und 4 Ca 64/23. In den unterstrichenen Verfahren hat die Beklagte jeweils Widerklage erhoben. Die Rechtsschutzversicherung der Beklagten ist jeweils eingetreten. Der Beklagten verblieb eine Selbstbeteiligung von 153,- Euro pro Rechtsschutzfall.
11Mit Versäumnisurteil vom 22.11.2023 hat das Arbeitsgericht Bonn auf die Widerklage den Kläger zur Zahlung von 459,- Euro nebst Zinsen verurteilt und festgestellt, dass der Kläger verpflichtet sei, der Beklagten die durch die Inanspruchnahme ihrer Prozessbevollmächtigten entstehenden Rechtsanwaltskosten für das vorliegende Verfahren zu erstatten.
12Den Einspruch des Klägers hat das Arbeitsgericht Bonn mit Urteil vom 21.02.2024 zurückgewiesen und die Berufung nicht zugelassen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beklagten gegen den Kläger ein Anspruch auf Erstattung der entstandenen Kosten für die Beauftragung ihres Rechtsanwalts für die Vorverfahren und das hiesige Verfahren aus §§ 826, 823 Abs. 2 BGB zustehe. Der Anspruch sei nicht aufgrund der Anwendung von § 12 a Abs. 1 S. 1 ArbGG ausgeschlossen. Den Rechtsmittelstreitwert hat das Arbeitsgericht auf 581,40 Euro festgesetzt, wobei es den Streitwert des Feststellungsantrags mit 80 % von 153,- Euro bewertet hat. Wegen der Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.
13Gegen dieses ihm am 06.03.2024 zugestellte Urteil hat der Kläger am Montag, den 08.04.2024, Berufung eingelegt und diese – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 06.06.2024 – am 06.06.2024 begründet.
14Der Kläger ist der Ansicht, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,- Euro überschreite. Das Arbeitsgericht habe den Feststellungsantrag zu Unrecht mit 122,40 Euro (80 % v. 153,- Euro) bewertet. Gegenstand sei nicht die Selbstbeteiligung, sondern die gesamten Rechtsanwaltskosten. Denn sonst hätte die Beklagte einen Leistungsantrag stellen können. Der Rechtsmittelstreitwert hätte insgesamt 1.367,- Euro betragen müssen.
15Die Widerklage sei auch unbegründet. Er habe nicht rechtsmissbräuchlich gehandelt und die Verfahren nicht in der Absicht geführt, der Beklagten die Kosten ihres Prozessbevollmächtigten aufzubürden. Die Klagerücknahmen seien erfolgt, weil die Beklagte ihm Unterlagen vorenthalten habe, die er zur Klagebegründung gebraucht hätte.
16Der Kläger beantragt,
17das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 21.02.2024 – 4 Ca 1925/22 – abzuändern, das Versäumnisurteil vom 22.11.2023 aufzuheben und die Widerklage der Beklagten abzuweisen.
18Die Beklagte beantragt,
19die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise sie zurückzuweisen.
20Sie hält den Berufungswert für nicht erreicht. Die Streitwertfestsetzung des Arbeitsgerichts sei zutreffend. Ihr Feststellungsinteresse und ihr wirtschaftliches Interesse belaufe sich nur auf die Selbstbeteiligung in Höhe von jeweils 153,- Euro.
21Die Widerklage sei auch materiell begründet. Der Kläger führe die Verfahren nur, um die Beklagte zu schikanieren und unnötigen Belastungen auszusetzen.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
23Entscheidungsgründe
24I. Die Berufung des Klägers ist unzulässig, weil sie unstatthaft ist.
25Denn der Wert des Beschwerdegegenstands iSd. § 64 Abs. 2 b) ArbGG übersteigt nicht 600,- Euro. Die Voraussetzungen des § 64 Abs. 2 a), c) oder d) ArbGG liegen ebenfalls nicht vor.
26Der Arbeitsgericht Bonn hat im Urteil den Rechtsmittelstreitwert auf 581,40 Euro festgesetzt. Die vom Arbeitsgericht nach § 61 Abs. 1 ArbGG vorgenommene Wertfestsetzung ist für das Landesarbeitsgericht bindend, da sie nicht offensichtlich unrichtig ist.
271. Der vom Arbeitsgericht nach § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festgesetzte Streitwert ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der sich die Kammer anschließt, vom Landesarbeitsgericht zugrunde zu legen, wenn es ermittelt, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 Euro übersteigt und deshalb die Berufung statthaft ist. Diese Bindung an den vom Arbeitsgericht festgesetzten Streitwert entfällt nur dann, wenn die Streitwertfestsetzung offensichtlich unrichtig ist.
28Da die Streitwertfestsetzung nach § 61 Abs. 1 ArbGG Urteilsbestandteil ist, muss sie an den Wirkungen des § 318 ZPO teilhaben, also bindend sein. Die Festsetzung des Streitwertes durch das Arbeitsgericht dient der Rechtsmittelklarheit hinsichtlich der Berufung. Da der Beschwerdewert nie höher liegen kann als der Streitwert zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht, begrenzt der festgesetzte Streitwert die Höhe der Beschwer. Aus Streitwert, Urteil und Anträgen kann die Höhe der Beschwer ermittelt werden. In allen Rechtsstreitigkeiten, in denen eine Partei in vollem Umfang unterliegt, ergibt sich ihre Beschwer unmittelbar aus dem Streitwert. Ist der Streitwert verbindlich, so ist mit der Verkündung der Entscheidung absolut oder jedenfalls weitgehend (bei teilweisem Unterliegen oder nur eingeschränkt beabsichtigter Berufung) erkennbar, ob die Berufung statthaft ist. Bei fehlender Bindung an die Streitwertfestsetzung bliebe die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils stets ungewiss, bis das Berufungsgericht über den Beschwerdewert erkannt hat. Die unterlegene Partei könnte auch bei einem unter dem maßgeblichen Wert festgesetzten Streitwert versuchen, die Statthaftigkeit der Berufung zu erreichen, indem sie geltend macht, der Streit- und Beschwerdewert liege höher. Für beide Parteien würden sich danach Unwägbarkeiten ergeben, die sich mit dem im arbeitsgerichtlichen Verfahren in besonderem Maße gebotenen Grundsatz der Rechtsmittelklarheit nicht vereinbaren lassen. Diese Gesichtspunkte der Prozesspraxis werden von der Gegenauffassung, die dem nach § 61 ArbGG festgesetzten Streitwert nur eine “indizielle” oder “gewisse” Bedeutung beimessen will, nicht ausreichend gewichtet.
29Von der grundsätzlichen Bindung an die Wertfestsetzung im erstinstanzlichen Urteil kann nur dann eine Ausnahme gelten, wenn die Wertfestsetzung offensichtlich unrichtig ist. Offensichtlich unrichtig ist die Streitwertfestsetzung nur dann, wenn sie in jeder Beziehung unverständlich und unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist und außerdem der zutreffende Streitwert auf den ersten Blick die für den Beschwerdewert maßgebliche Grenze unterschreitet oder übersteigt. Dabei kommt es auf die Sicht des über die Statthaftigkeit des Rechtsmittels entscheidenden Berufungsgerichts an (BAG, Beschluss vom 16. Mai 2007 – 2 AZB 53/06 –, Rn. 4 – 7 mwN.).
302. Gemessen an diesen Voraussetzungen war die Wertfestsetzung des Arbeitsgerichts nicht offensichtlich unrichtig.
31a) Die Wertfestsetzung des Arbeitsgerichts ist nicht in jeder Beziehung unverständlich und unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen.
32aa) Die Wertfestsetzung steht hinsichtlich der Bewertung des bezifferten Zahlungsantrags und des grundsätzlichen „Feststellungsabschlags“ von 20 % zwischen den Parteien auch nicht in Streit. Der Kläger hält lediglich den Ausgangswert des Feststellungsantrags von 153,- Euro für fehlerhaft.
33bb) Der Wert einer positiven Feststellungsklage ist unter Rückgriff auf § 3 ZPO zu bestimmen, dabei hat sich in der Praxis die Bemessung nach einem entsprechenden Leistungsantrag, jedoch - wegen der fehlenden Vollstreckbarkeit - mit einem Abschlag von 20 % allgemein durchgesetzt (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2022 – IV ZR 282/21 –, Rn. 4, juris).
34Im Hinblick auf den Feststellungsantrag sind maßgebend für die Höhe des Streitwerts grundsätzlich die Erwartungen der widerklagenden Partei im Zeitpunkt der Widerklageerhebung. Diese bilden die Grundlage für die Festsetzung des Streitwerts nach freiem Ermessen (§ 3 ZPO) durch das Gericht. Allerdings steht die Bemessung des wirtschaftlichen Interesses nicht im Belieben der widerklagenden Partei, sondern hat nach objektiven Gesichtspunkten zu erfolgen (vgl. LAG Köln, Beschluss vom 22.12.2014 – 11 Ta 244/14 –, juris, Rn. 2).
35cc) Vorliegend hatte die Beklagte und Widerklägerin keine konkreten Erwartungen an die Höhe des Schadenersatzes geäußert, sondern ausdrücklich angegeben, dass die zu erwartenden Kosten noch nicht beziffert werden könnten.
36Einerseits spricht dies dafür, dass der Schaden nicht nur die Selbstbeteiligung der Rechtsschutzversicherung umfassen soll, weil diese bereits bezifferbar gewesen wäre. Hierfür spricht auch die Formulierung des Klageantrags, der „die durch die Inanspruchnahme ihrer Prozessbevollmächtigten entstehenden Rechtsanwaltskosten für das vorliegende Verfahren“ umfasst, ohne ausdrücklich auf die Selbstbeteiligung beschränkt zu sein.
37Dementsprechend wäre es sicherlich gut vertretbar gewesen, den Streitwert für den Feststellungsantrag auf die geschätzten Rechtsanwaltskosten nach dem RVG abzüglich des Feststellungsabschlags von 20 % festzusetzen.
38Andererseits hat die Beklagte ihren Schaden für die bereits abgeschlossenen Verfahren 4 Ca 26/22, 3 Ca 821/21, 3 Ca 137/20, 6 Ca 2617/20, 4 Ca 510/22, 3 Ca 181/20, 4 Ca 486/22 und 4 Ca 2224/21 immer jeweils mit der Selbstbeteiligung von 153,- Euro angegeben und die Anträge entsprechend beziffert. Insoweit ist nicht ersichtlich, weshalb der Schaden für das laufende Verfahren anders zu bewerten sein soll als der Schaden für die abgeschlossenen Verfahren.
39Es war deshalb nicht in jeder Beziehung unverständlich und unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt zu rechtfertigen, den Streitwert des Feststellungsantrags genauso zu bewerten wie die bezifferten Schadenersatzforderungen für die abgeschlossenen Verfahren, also mit 153,- Euro, und einen Abschlag von 20 % vorzunehmen.
40b) Zudem war es für die Berufungskammer nicht auf den ersten Blick erkennbar, dass der „zutreffende“ Streitwert die für den Beschwerdewert maßgebliche Grenze übersteigt. Denn selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausginge, dass der „zutreffende“ Streitwert auf Basis der „vollen“ Rechtsanwaltskosten zu berechnen wäre abzüglich des Abschlags von 20 %, wäre das Überschreiten des Beschwerdewerts nicht auf den ersten Blick erkennbar. Denn die Rechtsanwaltskosten richten sich nach den Regelungen des RVG, den dortigen Gebühren- und Auslagentatbeständen sowie dem Gebührenstreitwert. Hierfür sind Berechnungen notwendig. Weder aus dem Urteil noch aus der erstinstanzlichen Akte ist auf den ersten Blick erkennbar, wie hoch die Rechtsanwaltskosten sind.
41II. Die Berufung des Klägers war deshalb gemäß §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 522 Abs. 1 ZPO mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.