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Einzelfall zur (unwirksamen) Verdachtskündigung wegen des Diebstahlsverdachts geringwertiger Sachen.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 11.07.2024 - 6 Ca 1669/24 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 05.03.2024 aufgelöst worden ist.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 05.03.2024 aufgelöst worden ist.
3 Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu ¾ zu tragen und der Kläger zu ¼.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die die Beklagte hilfsweise auch als ordentliche Kündigung ausgesprochen hat. Dabei steht die Behauptung der Beklagten oder zumindest deren Verdacht im Raum, der Kläger habe Leergut entwendet. Gegen eine weitere von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung hat der Kläger beim Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage erhoben. Diese Nachkündigung ist nicht Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens und hat hier nur Bedeutung für den Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers.
3Der Kläger wurde am 1975 geboren, er war im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung also 49 Jahre alt. Er ist verheiratet und hat sechs Kinder, von denen 3,5 Kinder auf der Lohnsteuerkarte eingetragen sind. Er ist seit dem 01.04.2014 bei der Beklagten als Staplerfahrer/Kommissionierer beschäftigt und verdiente zuletzt vereinbarungsgemäß ein Tarifentgelt in Höhe von 3.326,00 EUR. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die Arbeitnehmer der Erfrischungsgetränke-Industrie in Nordrhein-Westfalen Anwendung.
4Die Beklagte ist eine Tochtergesellschaft eines internationalen Getränkeherstellers, dessen Marken sie produziert und vertreibt. An ihren mehr als 20 Standorten in D beschäftigt sie derzeit insgesamt ca. 6.500 Arbeitnehmer. Es bestehen ein Gesamtbetriebsrat sowie mehrere Betriebsräte, u.a. auch für den Betrieb in K, an dem derzeit insgesamt ca. 600 Arbeitnehmer tätig sind.
5Der Kläger war am 27.02.2024 als Staplerfahrer/Kommissionierer im Lager am Standort in K in der Frühschicht (06:00 bis 14:00 Uhr) auf dem Leergutplatz eingesetzt. Den Arbeitnehmern ist es erlaubt, sich dort mit bereitgestellten Getränken zu versorgen. Die Mitnahme voller oder leerer Flaschen ist den Arbeitnehmern aber nicht gestattet. Dem Kläger wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, im Pausenraum unberechtigterweise Pfandfalschen an sich genommen zu haben.
6Der Kläger wurde auf den Heimweg nach seiner Schicht außerhalb des Betriebsgeländes von den Zeugen P und T aufgefordert, seinen Tascheninhalt zu zeigen. Der Kläger trug einen blauen Stoffrucksack auf seinem Rücken und hielt eine dunkle Tasche in der Hand. Der Kläger öffnete den Rucksack und die Tasche nicht und rannte davon. Im Einzelnen sind die Geschehnisse rund um die beabsichtigte Taschenkontrolle zwischen den Parteien streitig.
7Am 28.02.2024 wurde der Kläger im Beisein des Betriebsratsvorsitzenden Herrn A von Herrn P und Frau H zu dem Vorfall am Vortag angehört und mit dem Verdacht konfrontiert, er habe Leergut gestohlen. Da der Kläger aus Sicht der Beklagten die gegen ihn bestehenden Verdachtsmomente nicht habe entkräften können, hörte sie am 01.03.2024 den Betriebsrat zu der streitgegenständlichen Kündigung an. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung am 04.03.2024.
8Mit Schreiben vom 05.03.2024 - zugegangen am selben Tag - kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristlos und hilfsweise ordentlich zum 30.06.2024.
9Mit der seit dem 18.03.2024 beim Arbeitsgericht Köln anhängigen Klage hat sich der Kläger gegen die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung gewandt und Weiterbeschäftigung begehrt.
10Der Kläger hat zur Begründung der Klage vorgetragen, er bestreite die Beobachtungen des Zeugen O und die unerlaubte Mitnahme von mehreren Pfandflaschen oder auch nur einer einzigen.
11Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht beantragt,
121. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 05.03.2024, zugegangen am 05.03.2024, nicht aufgelöst worden ist;
132. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 05.03.2024, zugegangen am 05.03.2024, zum 30.06.2024 nicht aufgelöst worden ist;
143. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch andere Beendigungstatbestände aufgelöst worden ist, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 05.03.2024 hinaus ungekündigt fortbesteht;
154. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger für den Fall des Obsiegens mit den Feststellungsanträgen zu 1. und 2. als Staplerfahrer/Kommissionierer über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits weiter zu beschäftigen.
16Die Beklagte hat beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Zur Begründung der Kündigung und damit zur Begründung ihres Abweisungsantrages hat die Beklagte vorgetragen, der Kläger habe einen Rucksack voll mit insgesamt ca. 40 leeren Flaschen vom Betriebsgelände entwendet. Mindestens aber habe er eine Leergutflasche mitgenommen. Der Kläger sei nämlich dabei beobachtet worden, wie er eine Flasche zerdrückt und am Körper versteckt habe. Außerdem sei von einem Zeugen akustisch wahrgenommen worden, wie er eine weitere Flasche zerdrückt habe. Konkret habe der Zeuge C O, ein Kollege des Klägers, durch das gekippte Fenster im Pausenraum der Kommissionierung gehört, wie eine Leichtplastikflasche zerdrückt worden sei und er habe sodann beobachten können, wie der Kläger eine zerdrückte V 0,5 Liter Einwegflasche in seiner Wetterschutz-Jacke durch den vorne halb geöffneten Reißverschluss verstaut habe. Als der Kläger gegen 14:15 Uhr das Betriebsgelände verlassen habe, sei er von den Zeugen P und T mit den Beobachtungen des Zeugen O konfrontiert und mehrfach gebeten worden, seine Taschen zu öffnen. Dabei sei erwähnt worden, dass es dem Kläger freistünde, ein Betriebsratsmitglied hinzuzuziehen. Außerdem sei klargestellt worden, dass es nur um einen Blick in den Rucksack und nicht um dessen Durchsuchung gehe. Dabei habe der Zeuge P geäußert, dass er im Zweifel die Polizei rufen werde, weil es hier um den Verdacht eines Diebstahls zum Nachteil des Unternehmens gehe. Herrn P sei zudem aufgefallen, dass der Rucksack, den der Kläger mit sich geführt habe, so voll gewesen sei, dass der Reisverschluss sich nicht komplett habe schließen lassen und eine kleine Lücke offen gewesen sei, aus der der Deckel einer Einweg V-Flasche (blau) herausgeschaut habe. Sie schätze, dass in den Rucksack des Klägers zerdrückt ca. 40 solcher V-Flaschen (0,5 Liter Einweg) mit jeweils 0,25 € Pfand passen könnten. Der Kläger habe den Zeugen jedenfalls nicht erlaubt, in den Rucksack zu schauen. Vielmehr sei er fluchtartig in Richtung M-B-Straße weggelaufen und habe dabei fast die Zeugin S umgerannt. Ihre Bitte, er möge stehen bleiben, sei ignoriert worden. In einem nachfolgenden Telefonat habe der Kläger angegeben, sich bereits den ganzen Tag nicht wohl gefühlt und starken Durchfall gehabt zu haben, weshalb er dringend die Toilette habe aufsuchen wollen. Nach ihrer Auffassung sei das aber eine untaugliche Schutzbehauptung gewesen. Es sei nämlich nicht verständlich, warum er nicht die naheliegenden Sanitär-Anlagen der Beklagten am Ausgang, durch den er gekommen sei, genutzt habe. Auf eine entsprechende Nachfrage habe er diese Ungereimtheit nicht erklären können.
19Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Ausnahme des als unzulässig erkannten allgemeinen Feststellungsantrages mit Urteil vom 11.07.2024 insgesamt stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung ergebe sich nicht aus den Darlegungen der Beklagten. Eine soziale Rechtfertigung fehle ebenfalls. Die Darlegungen der Beklagten seien nicht ausreichend, um - ihre Richtigkeit unterstellt - einen Diebstahl von Leergut anzunehmen. Das gleiche gelte für die Annahme eines dringenden Tatverdachts, der Kläger habe eine schwere Pflichtverletzung begangen.
20Gegen dieses ihr am 19.08.2024 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 29.08.2024 Berufung eingelegt und sie hat diese am 18.10.2024 begründet.
21Zur Begründung ihrer Berufung trägt die Beklagten nunmehr vor, der Kläger komme bei der Erfüllung seiner vertragsgemäßen Aufgaben bestimmungsgemäß ständig mit den von ihr produzierten, befüllten oder ihm zum Verzehr überlassenen Getränkeflaschen in Berührung. Er habe uneingeschränkten Zugriff auf diese. Das gelte in besonderem Maße auch für die gefüllten und leeren Flaschen im Pausenraum der Kommissionierung. Es seien dort ständig hunderte von vollen Flaschen und mehrere Säcke gefüllt mit Leergut vorhanden. Jede Flasche habe einen Pfandwert von 25 Cent. Es sei den Mitarbeitern strikt untersagt, Flaschen - seien es volle oder leere - vom Betriebsgelände wegzuschaffen. Der Kläger sei am 27.02.2024 während seiner Frühschicht dabei beobachtet worden, wie er eine 0,5 Liter Plastikflasche der Marke V zerdrückt und in seine Jackentasche gesteckt habe. Wenig später habe er mit einem prall gefüllten Rucksack, aus dem eine ebensolche Flasche hervorragte, das Betriebsgelände verlassen. Bei dem Versuch, ihn zur Rede zu stellen und den Inhalt des Rucksacks zu prüfen sei der Kläger fluchtartig davongerannt. Dieses Verhalten mit einer Durchfallerkrankung zu erklären, wie das der Kläger versucht habe, sei abwegig.
22Der Diebstahl bzw. die Unterschlagung von Getränkeflaschen, insbesondere von Leergut, sei bei ihr ein wichtiges Thema. Es entstünde ihr dadurch ein erheblicher finanzieller Schaden. Ihr Vertrauen in die Integrität ihrer Beschäftigten sei angesichts von deren Zugriffsmöglichkeiten auf große Mengen dieser Flaschen umso wichtiger.
23Nachdem der Kläger erstinstanzlich ein irreführendes Video als Beweis dafür angeboten habe, dass man ihn beim Einstecken der zerdrückten Flasche nicht habe sehen können, sei das Arbeitsverhältnis hilfsweise am 09.07.2024 erneut fristlos, hilfsweise ordentlich fristgerecht zum 30.11.2024 u.a. wegen versuchten Prozessbetrugs gekündigt worden. Der Kläger habe nämlich ein Video vorgelegt, das nachweislich nicht die Gegebenheiten am Tattag wiedergegeben habe, dies jedoch trotzdem behauptet. Bis heute hülle er sich in Schweigen darüber, wer das - nach seinem Ausscheiden entstandene - Video angefertigt und ihm überlassen habe. Das gegen diese weitere Kündigung von ihm angestrengte Kündigungsschutzverfahren beim Arbeitsgericht Köln mit dem Geschäftszeichen 8 Ca 4278/24 ruhe derzeit wegen Vorgreiflichkeit des hiesigen Verfahrens.
24Nach ihrer Auffassung sei die Kündigung schon als Tatkündigung wirksam. Sie sei angesichts des Gesamtzusammenhangs und der unstreitigen sowie nachweisbaren Tatsachen der Überzeugung, dass der Kläger am 27.02.2024 einen ganzen Rucksack voll mit ihr gehörendem Leergut entwendet habe. Jedenfalls der dringende Tatverdacht, der Kläger habe eine schwere Vertragspflichtverletzung begangen, sei begründet. Es sei nämlich die Annahme gerechtfertigt, dass der Kläger am 27.02.2024 mindestens eine (zerdrückte) Leergutflasche vom Betriebsgelände der Beklagten entwendet habe. Wenn das Arbeitsgericht meine, die Weigerung des Klägers, den Inhalt des Rucksacks zu zeigen, könne auch andere Gründe gehabt haben als die Verschleierung eines Diebstahls, sei das einseitig ergebnisorientiert. Durch benannte Zeugen beweisbar seien die folgenden vorgetragenen Tatsachen: Der Kläger habe eine Leergutflasche der Beklagten in einem - nach seiner Vorstellung - unbeobachteten Moment auf dem Betriebsgelände zerdrückt und in seiner Jacke, d.h. am Körper versteckt, ohne hierfür einen auch nur ansatzweise plausiblen (Rechtfertigungs-) Grund nennen zu können; der Kläger habe kurze Zeit später am selben Ort eine weitere Flasche zerdrückt; der Kläger habe das Betriebsgelände mit einem prall gefüllten Rucksack und einer Tasche verlassen; aus dem Rucksack herausragend sei der Deckel einer Pfandflasche erkennbar gewesen; der Kläger habe auf Nachfrage die vollständig unplausible Erklärung abgegeben, er habe unter Durchfall gelitten. Nach alledem bestünden - entgegen der lebensfernen Auffassung des Arbeitsgerichts - nicht „mehrere Möglichkeiten“, sondern nur eine einzige, augenfällige Gewissheit: der Kläger sei „in flagranti“, also auf frischer Tat, erwischt worden. Kein anderes Szenario sei „ebenso gut“ real oder gar plausibel. Der Tatverdacht sei daher ausreichend dringend.
25Das Vertrauensverhältnis zum Kläger sei irreparabel zerstört. Das gelte selbst dann, wenn der Verdacht nur ein Bezug auf eine einzige Flasche anzunehmen sei. Denn „eine Flasche“ im Betrieb der Beklagten sei etwas anderes als z.B. eine Flasche im Kühlschrank eines x-beliebigen anderen Unternehmens. Auch auf ihren bloßen materiellen Wert komme es insoweit nicht an. Entscheidend sei vielmehr, dass eine Flasche bzw. das entsprechende Leergut „DAS“ Produkt bzw. „DER“ Gegenstand seien, die das Unternehmen kennzeichne und mit denen der Kläger tausendfach täglich in - ungehinderte - Berührung komme. Die unbedingte Integrität der dortigen Mitarbeiter sei deswegen umso wichtiger und im Fall des Klägers nicht mehr gegeben. Im Übrigen seien pauschale Bagatellgrenzen oder auf ein wie auch immer geartetes „Vertrauenskapital“ gestützte Erwägungen abzulehnen. Hinter ihnen verberge sich letztlich nichts Anderes als ein umkonstruierter (einmaliger) Freibrief für Pflichtverletzungen oder gar Straftaten zum Nachteil des Arbeitgebers.
26Die Beklagte beantragt,
27das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 11.07.2024 - 6 Ca 1669/24 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
28Der Kläger beantragt,
29die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
30Er verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts und vertieft seinen erstinstanzlichen Vortrag. Bis zum Ausspruch der Kündigung vom 05.03.2024 sei das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis völlig problemlos verlaufen und ohne rechtliche Beanstandungen. Nie habe ihn die Beklagte eine Abmahnung erteilt. Er habe daher durch seine langjährige beanstandungsfreie Tätigkeit Loyalität bewiesen.
31Auch die inzwischen ausgesprochene und ebenfalls vor dem Arbeitsgericht angegriffene Kündigung vom 09.07.2024 (nicht Gegenstand dieses Berufungsverfahrens) sei unwirksam. Die Begründung der Beklagten für die weitere Kündigung sei unzutreffend. Er habe kein irreführendes Video zum Beweis der Tatsache angeboten, dass man ihn bei dem von der Beklagten behaupteten (und von ihm bestrittenen) Einstecken einer zerdrückten Flasche, wegen der räumlichen Gegebenheiten gar nicht habe sehen können. Das von ihm vorgelegte Video habe die Gegebenheiten am Tattag korrekt wiedergegeben. Die Annahme der Beklagten, es liege ein versuchter Prozessbetrug vor, sei daher abwegig.
32Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
33E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
34Die Berufung der Beklagten war zwar zulässig, aber weitgehend unbegründet. Nur unter Berücksichtigung der inzwischen ausgesprochenen weiteren Kündigung war das Urteil des Arbeitsgerichts mit Blick auf den Weiterbeschäftigungstitel abzuändern.
35I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).
36II. Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache weitgehend ohne Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage des Klägers mit zutreffender Begründung stattgegeben. Nur wegen der inzwischen ausgesprochenen Nachkündigung war der Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers auf die Berufung der Beklagten abzuweisen.
371. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg, soweit sie sich gegen den Tenor zu 1 und 2 des angegriffenen Urteils des Arbeitsgerichts gewendet hat. Weder hat die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis beenden können, noch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung; weder kommt eine erwiese Tat als Kündigungsgrund in Betracht noch ein dringender Verdacht; weder war Beweis zu erheben zur Behauptung der Beklagten, der Kläger habe eine Leergutflasche in seine Jacke gesteckt, noch zur Behauptung der Beklagten, der Rucksack des Klägers sei vollgepackt gewesen und man habe noch den Drehverschluss einer Wasserflasche sehen können.
38a. Die Rechtfertigung der ausgesprochenen Kündigung durch eine erwiesene Tat als wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB oder als Grund im Verhalten des Klägers gemäß § 1 Abs. 2 KSchG kommt nicht in Betracht.
39Selbst, wenn die Behauptungen der Beklagten als unstreitig oder bewiesen betrachtet würden, der Kläger habe auf dem Betriebsgelände eine Leergutflasche in seine Jacke gesteckt und der Kläger habe das Gelände mit einem vollen Rucksack verlassen aus dem ein Flaschenhals herausgeragt habe, kommt eine Tatkündigung nicht in Betracht.
40Das Einstecken einer Leergutflasche in die Jackentasche während der Arbeitszeit auf dem Betriebsgelände bedeutet nicht zwingend, dass der Kläger das Betriebsgelände mit dieser Leergutflasche auch verlassen hat.
41Das Verlassen des Betriebsgeländes mit einem prall gefüllten Rucksack bedeutet nicht zwingend, dass der Rucksack mit Leergutflaschen gefüllt ist, erst recht nicht mit 40 Leergutflaschen. Die aus dem Rucksack (nach den Darlegungen der Beklagten) herausragende Wasserflasche muss nicht eine Flasche sein, die vom Betriebsgelände der Beklagten stammt.
42Soweit es der Beklagten um die Entwendung einer einzigen Leergutflasche geht, kommt insgesamt eine Kündigung wegen des marginalen Wertes in Höhe von 25 Cent nicht in Betracht. Die erkennende Kammer sieht sich aus Gründen der Evidenz nicht veranlasst, an dieser Stelle weitere Ausführungen zur notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu machen. Zur Abgrenzung soll aber auf eine andere Entscheidung der erkennenden Berufungskammer verwiesen werden, bei der es auch um den Vorwurf ging, der dortige Kläger habe etwas vom Betriebsgelände geschafft, das möglicherweise nur von sehr geringem Wert war, und bei der die dort ausgesprochene Kündigung ohne vorherige Abmahnung als wirksam erkannt werden musste (LAG Köln v. 23.08.2024 - 6 SLa 27/24 -).
43b. Auch der Verdacht der Beklagten, der Kläger habe mehr als eine Leergutflasche vom Betriebsgelände geschafft, ist nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB oder als soziale Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 KSchG geeignet. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob es vorher gemäß § 314 Abs. 2 BGB einer einschlägigen Abmahnung bedurft hätte. Denn der von der Beklagten gehegte Verdacht ist unter Berücksichtigung der vorgetragenen Tatsachen nicht dringend.
44Die Tatsache, dass sich der Kläger geweigert hat, außerhalb des Betriebsgeländes seinen Rucksack zu öffnen oder auch nur über dessen Inhalt Auskunft zu geben ist nicht geeignet, einen Verdacht in irgendeiner Richtung zu begründen. Schon durch mitbestimmte Tor- und Taschenkontrollen wird empfindlich in das Persönlichkeitsrecht des durchsuchten Mitarbeiters eingegriffen. Der Inhalt mitgeführter Taschen oder auch von Mantel- und Jackentaschen betrifft die Privatsphäre der Arbeitnehmer. Die darin mitgeführten Gegenstände möchten die Beschäftigten typischerweise nicht ohne Einwilligung Dritten gegenüber zeigen. Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass es sich hier gar nicht um eine mitbestimmte Taschenkontrolle am Werkstor gehandelt hat.
45Die Tatsache, dass der Kläger weggerannt ist (hier als unstreitig unterstellt) ist ebenso wenig geeignet, einen dringenden Verdacht einer schweren Vertragspflichtverletzung zu begründen. In der von der Beklagten beschriebenen Situation stand der Kläger zwei Beschäftigten gegenüber, die ihn - außerhalb des Betriebsgeländes - mit dem Vorwurf vertragswidrigen Verhaltens konfrontiert und die Auskunft über den Inhalt seines Rucksacks gefordert haben. Ein Fluchtreflex in einer solchen Situation ist ohne weiteres nachvollziehbar. Daraus den Verdacht abzuleiten, der Kläger habe etwas zu verbergen, ist noch naheliegend. Dass das zu Verbergende nicht die besagte Privatsphäre, sondern eine schwere Vertragspflichtverletzung sein soll, ist zusätzlich erklärungsbedürftig.
46Ein sichtbarer Flaschenhals im Rucksack begründet keinen Diebstahlverdacht. Das könnte nur dann anders sein, wenn es den Beschäftigten untersagt wäre, zu Beginn der Schicht Getränke in das Betriebsgelände einzubringen und der logische Schluss damit naheläge, die sichtbare Flasche könne nur aus dem Betrieb stammen. Entsprechendes hat aber die Beklagte nicht vorgetragen. Eine solche Regelung wäre auch ungewöhnlich. Ein Arbeitnehmer, der nach der Schicht eine Sporteinheit plant, könnte dann kein Getränk mitnehmen.
47Auch die später gegebene Erklärung des Klägers, er habe Durchfall gehabt, vertieft nicht einen an dieser Stelle zu Gunsten der Beklagten angenommen Verdacht, der Kläger habe Leergut gestohlen. Da wie gezeigt das Wegrennen als solches schon nicht geeignet ist, einen Verdacht zu vertiefen, dann gilt das erst recht für möglicherweise abwegige Erklärungen, wenn der Betroffene aufgefordert wird, einen Grund für das Wegrennen zu benennen. Würde vom Arbeitnehmer hier eine wahrheitsgemäße Erklärung erwartet, dann würde die gleiche Privatsphäre, die oben noch als schützenswerte erkannt worden war, nunmehr aufgehoben.
48Nach allem muss es bei der Erkenntnis des Arbeitsgerichts, ein Kündigungsgrund sei nicht ersichtlich, bleiben.
492. Erfolg hatte die Berufung der Beklagten nur, soweit sie sich gegen den Tenor zu 3 des arbeitsgerichtlichen Urteils gewandt hat, also gegen den tenorierten Weiterbeschäftigungsanspruch. Zutreffend hatte das Arbeitsgericht am Tag seiner letzten mündlichen Verhandlung und der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts (GS 1/84) folgend angenommen, dass nach Feststellung des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses mit dem Tenor zu 1 und 2 das Interesse des Klägers an seiner Beschäftigung das Interesse der Beklagten an dessen Nichtbeschäftigung überwiege. Aus der gleichen Entscheidung des Großen Senats folgt aber auch die Erkenntnis, dass dieses Überwiegen des Beschäftigungsinteresses dann wieder sein Ende findet, wenn die Arbeitgeberin wie hier eine weitere Kündigung ausspricht. Das gilt nur dann nicht, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist, also zum Beispiel gegen einen Sonderkündigungsschutz verstößt, es an einer notwendigen behördlichen Zustimmung fehlt, oder sich die Kündigung evident als Wiederholungskündigung erweist. Vorliegend mag der von der Beklagten zu Begründung der Nachkündigung vorgebrachte Grund „prozessbetrug“ fragwürdig sein, er gehört aber nicht zu den vorgenannten Kategorien. Die arbeitsgerichtliche Entscheidung war daher abzuändern und der Weiterbeschäftigungsantrag abzuweisen.
50III. Nach allem bleibt es somit weitgehend bei der klagestattgebenden erstinstanzlichen Entscheidung. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 ZPO. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.