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Wenn kurz nach Zugang einer fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Arbeitnehmer Urlaubsabgeltung geltend macht und sich später herausstellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der fristlosen, wohl aber aufgrund der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung sein Ende gefunden hat, dann kann sich die Arbeitgeberin nicht auf den Einwand des tariflichen Verfalls berufen mit der Begründung, die Geltendmachung sei vor Ende des Arbeitsverhältnisses geschehen, also vor Entstehung des Abgeltungsanspruchs, mithin unwirksam zu früh. Denn in einem solchen Fall hatte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis mit der fristlosen Kündigung bis zur gegenteiligen Feststellung des Arbeitsgerichts derart gestaltet, dass es im Zeitpunkt der Geltendmachung beendet war und der Urlaubsabgeltungsanspruch entstehen konnte. Im Übrigen ist für die Arbeitgeberin die Berufung auf die Unwirksamkeit der eigenen Kündigung in einem solchen Fall treuwidrig und daher wirkungslos.
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 10.01.2024 - 18 Ca 6500/22 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Nachdem zwischenzeitlich rechtskräftig feststeht, dass das zwischen den Parteien einstmals bestehende Arbeitsverhältnis nicht etwa durch eine fristlose Kündigung vom 01.02.2022 sondern erst drei Wochen später durch eine ordentliche Kündigung nach Ablauf der tarifvertraglichen Kündigungsfrist am 22.02.2022 sein Ende gefunden hat (ArbG Köln v. 13.09.2022 - 10 Ca 730/22; LAG Köln v. 14.09.2023 - 8 Sa 75/23), streiten die Parteien nun über den dem Kläger noch zustehenden Entgeltanspruch aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges für den Monat Februar 2022 sowie um die Forderung des Klägers auf Urlaubsabgeltung für 13 Tage aus dem Jahre 2021 und aus dem Zeitraum im Jahre 2022 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses, die der Kläger der Beklagten gegenüber mit Schreiben vom 10.02.2022 geltend gemacht hatte. Die Geltendmachung ist also in einem Zeitraum zwischen dem Zugangszeitpunkt der später als unwirksam erkannten fristlosen Kündigung (01.02.2022) und dem sodann unstreitigen Ende des Arbeitsverhältnisses (22.02.2022) geschehen.
3Im Vorverfahren (ArbG Köln 10 Ca 730/22 und LAG Köln 8 Sa 75/23) waren neben einem Kündigungsschutzantrag auch Forderungen auf (weiteres) Entgelt für die Monate September, November und Dezember 2021 Gegenstand des Rechtsstreits. Das Arbeitsgericht (10 Ca 730/22) hat die Entgeltklage unter anderem mit der Begründung teilweise abgewiesen, die Ansprüche seien aufgrund des „allgemeinverbindlichen Tarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe im Land Nordrhein-Westfalen“ verfallen. Diese Klageabweisung ist mangels einer Berufung des Klägers rechtskräftigt geworden. Für die Rechtskraft der Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis erst am 22.02.2022 sein Ende gefunden hat, war nach der Berufung der Beklagten noch eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts notwendig (8 Sa 75/23).
4Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 25.03.2021 als Sicherheitsmitarbeiter beschäftigt. Arbeitsvertraglich war eine wöchentliche Arbeitszeit von „mindestens 40 Stunden“ vereinbart. Diese wurden in der Fünf-Tage-Woche geleistet. Nach dem Wortlaut der Arbeitsvertragsurkunde finden die „betrieblich und fachlich jeweils einschlägigen Tarifverträge der jeweils letzten Fassung …“ Anwendung. In der Berufungsverhandlung haben die Parteien unstreitig gestellt, dass damit der Manteltarifvertrag für Sicherheitsdienstleistungen in Nordrhein-Westfalen vom 16.01.2017 (im Folgenden MTV 2017) anwendbar ist, auch wenn im zitierten Vorverfahren noch von einem anderen Tarifvertrag die Rede war. Im Tariftext des MTV 2017 finden sich die folgenden Regelungen zum Urlaubsanspruch und zum Verfall von Ansprüchen:
5§ 5 Urlaub
61. Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr einen unabdingbaren Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.
72. Der Urlaub beträgt 26 Werktage.
8[…]
95. Neu eintretende und/oder ausscheidende Arbeitnehmer erhalten so viel Zwölftel des ihnen zustehenden Jahresurlaubs, wie sie volle Monate im laufenden Kalenderjahr beschäftigt waren. Die Zwölftelung erfolgt nur in den Grenzen des § 5 BUrlG.
106. […]
117. Urlaub, der im laufenden Kalenderjahr nicht gewährt werden konnte, ist bis zum 31. März des folgenden Kalenderjahres nachzugwähren. Eine Urlaubsabgeltung ist nur zulässig, wenn beim Ausscheiden aus dem Betrieb der Urlaub nicht mehr gewährt werden kann.
128. Drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres erlischt der Urlaubsanspruch. Der Durchschnittsverdienst je Urlaubstag wird dadurch ermittelt, dass der Gesamtbruttoverdienst des Arbeitnehmers während der letzten 12 Monate durch 312 geteilt wird. Zahlungen im Krankheitsfalle (über den Entgeltfortzahlungsanspruch hinaus), Gratifikationen oder sonstige Einmalzahlungen und Aufwandsentschädigungen bleiben bei der Ermittlung des Gesamtbruttoverdienstes außer Ansatz. Die Vergütung für Mehrarbeit ist einzubeziehen. Arbeitstage, an denen der Arbeitnehmer ohne Entgeltfortzahlungsanspruch arbeitsunfähig erkrankt war, und Arbeitstage, für die der Arbeitnehmer infolge Freistellung von der Arbeit (unbezahlter Urlaub) keinen Lohn erhalten hat, werden von der Teilungszahl 312 abgezogen, nicht dagegen pflichtwidrig versäumte Arbeitszeit. Im Übrigen gilt das Bundesurlaubsgesetz.
13§ 9 Ausschlussfristen
141. Sämtliche gegenseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis erlöschen beiderseits drei Monate nach Fälligkeit, sofern sie nicht vorher unter Angabe der Gründe schriftlich geltend gemacht worden sind.
152. Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von 3 Monaten nach der Ablehnung gerichtlich geltend gemacht wird.
163. Von dieser Ausschlussfrist werden jedoch Schadensersatzansprüche, die auf vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Handlungen beruhen, nicht erfasst.
17Wie bereits erwähnt machte der Kläger mit Schreiben vom 10.02.2022 gegenüber der Beklagten unter anderem Urlaubsabgeltung geltend. Ebenfalls am 10.02.2022 hatte sich der Kläger mit einer Kündigungsschutzklage (10 Ca 730/22) gegen die Kündigung vom 02.10.2022 gewandt.
18Mit der seit dem 02.12.2022 beim Arbeitsgericht Köln anhängigen Klage - 18 Ca 6500/22 - hat der Kläger im hier zu entscheidenden Verfahren restliche Entgeltansprüche und Urlaubsabgeltung begehrt.
19Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, nach seiner Auffassung stehe ihm, neben dem Entgeltanspruch aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges für die Zeit bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (Antrag zu 1), aus dem Jahre 2021 und aus dem Monat Januar 2022 noch eine Urlaubsabgeltung für 13 Urlaubstage zu (Antrag zu 2). Zur Bestimmung des noch zu leistenden Annahmeverzugslohns gehe er von der folgenden Berechnung aus: 160 Stunden x 12,00 € = 1.920,00 €. Für den Monat Februar 2022 habe die Beklagte bisher nur 7,75 Stunden mit 93,00 EUR abgerechnet. So bleibe ein zuzahlender Betrag in Höhe von 1.827,00 EUR. Für die Urlaubsabgeltung berechne er einen Tagessatz in Höhe von (1.920 EUR x 3 Monate / 65 Tage =) 88,62 EUR. Multipliziere man die 13 noch abzugeltenden Urlaubstage mit diesem Tagessatz so ergebe sich ein Gesamtbetrag in Höhe von 1.152,06 EUR.
20Diese Berechnungen zugrunde gelegt, ist im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht Köln am 21.12.2022 gegen die Beklagte ein Versäumnisurteil mit folgendem Inhalt erlassen worden:
211. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.827,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.03.2022 zu zahlen.
222 Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.152,06 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.03.2022 zu zahlen.
233. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
24[…]
25Gegen dieses ihr am 04.01.2023 zugestellte Versäumnisurteil hat die Beklagte am 06.01.2023 Einspruch eingelegt.
26Der Kläger hat beantragt,
27das Versäumnisurteil vom 21.12.2022 aufrecht zu erhalten.
28Die Beklagte hat beantragt,
29das Versäumnisurteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
30Zur Begründung ihres Einspruchs und zur Verteidigung gegen die Klage hat die Beklagte unter Vorlage einer Abrechnung behauptet, bereits 672,00 EUR brutto auf die Forderung nach Urlausabgeltung gezahlt zu haben. Gegen die Annahmeverzugsansprüche hat sie eingewandt, dass der Kläger nach ihrer Kenntnis zuletzt arbeitsunfähig krank gewesen sei und ihm daher neben der notwendigen Leistungsfähigkeit die Aktivlegitimation fehle. Der Kläger sei über den 01.02.2022 hinaus auch nicht leistungswillig gewesen, weil er während seiner Arbeitszeit den Aufbau eines eigenen Unternehmens betrieben habe. Einer Zahlungspflicht stehe weiter entgegen, dass der Kläger die Auskunft schuldig geblieben sei, was er in der Zeit ab 01.02.2022 getan und verdient habe. Wegen dieser Pflichtverletzung habe sie zurecht ein Zurückbehaltungsrecht ausgeübt. Schließlich wende sie den Verfall der Urlaubsansprüche aufgrund der tarifvertraglichen Verfallklausel ein.
31Mit Urteil vom 10.01.2024 hat das Arbeitsgericht Köln auf den Einspruch der Beklagten das Versäumnisurteil nur teilweise aufrechterhalten und im Übrigen die Klage abgewiesen. Statt der im Versäumnisurteil mit dem Tenor zu 1 berechneten 1.827,00 EUR an Entgelt aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges sprach das Arbeitsgericht nur noch einen Betrag in Höhe von 1.440,00 EUR zu; statt der im VU mit dem Tenor zu 2 titulierten 1.152,06 EUR an Urlaubsabgeltung sprach das Arbeitsgericht nur noch einen Betrag in Höhe von 480,06 EUR zu. Im Übrigen hat das Arbeitsgericht das Versäumnisurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, der Kläger könne für den Zeitraum vom 02.02.2022 bis zum Auslaufen der ordentlichen Kündigungsfrist am 22.02.2022 noch die Zahlung von 15 Arbeitstagen x 8 Stunden x 12 EUR = 1.440,00 EUR als Entgelt aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges verlangen. Die hiergegen von der Beklagten erhobenen Einwände seien nicht zu berücksichtigen: Anderweitige Einkünfte oder böswillig unterlassener Verdienst im Sinne des § 11 KSchG seien ebenso wenig ersichtlich wie ein Anspruchswegfall wegen einer Arbeitsunfähigkeit oder wegen eines Anspruchsübergangs. Der Kläger behaupte arbeitsfähig gewesen zu sein und im maßgeblichen Zeitraum aufgrund der Verhängung einer Sperre kein Arbeitslosengeld erhalten zu haben. Er habe also zur Frage seiner Leistungswilligkeit und zur Frage des anderweitigen Verdienstes Auskunft erteilt. Es sei nun Aufgabe der Beklagten gewesen, hierzu Tatsachen vorzutragen, aus denen sich wenigstens entgegenstehende Indizien ergäben. Das sei nicht geschehen.
32Daneben könne der Kläger - so das Arbeitsgericht weiter - nach der Regelung in § 7 Abs. 4 BUrlG die geltend gemachte Abgeltung der Urlaubsansprüche aus dem Jahre 2021 und aus dem Monat Januar 2022 in Höhe von noch restlichen 478,06 EUR verlangen. Auf die insoweit geschuldete Urlaubsvergütung in Höhe des zuletzt geltend gemachten Betrages sei die von der Beklagten ausweislich der als Anlage zum Schriftsatz vom 23.10.2023 zur Akte gereichten Abrechnung als Abgeltung gezahlte Summe in Höhe von 672,00 EUR anzurechnen, sodass nur die besagten 478,06 EUR übriggeblieben seien. Einem tariflichen Verfall stehe die Geltendmachung am 10.02.2022 entgegen. Ungeachtet der höchstgerichtlich noch ungeklärten Frage der Vorratsgeltendmachung sei es jedenfalls treuwidrig im Sinne von § 242 BGB, sich nach Ausspruch einer fristlosen Kündigung auf eine verfrühte Geltendmachung des mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehenden Abgeltungsanspruchs zu berufen, wenn die Geltendmachung nach Ausspruch der fristlosen Kündigung erfolgt sei, wie hier.
33Gegen dieses ihr am 16.01.2024 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15.02.2024 Berufung eingelegt und sie hat diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 16.04.2024 am 15.04.2024 begründet.
34Zur Begründung ihrer Berufung hat die Beklagte vorgetragen, nach ihrer Auffassung beruhe das Urteil auf der unzutreffenden Annahme der Zulässigkeit einer vorfristigen „Vorratsgeltendmachung“ zur Wahrung der Ausschlussfrist. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts seien daher sowohl die Entgeltansprüche als auch die Urlaubsabgeltungsansprüche verfallen. Zwar sei am 10.02.2022 eine Kündigungsschutzklage gegen die fristlose Kündigung vom 01.02.2022 erhoben worden, beide Ansprüche hätten aber erst mit der Klage vom 04.10.2022 eine gerichtliche Geltendmachung erfahren. Die Urlaubsabgeltungsansprüche seien aus einem weiteren Grunde untergegangen: Das Schreiben vom 10.02.2022 sei vorfällig gewesen, denn die Kündigung habe das Arbeitsverhältnis - wie vom Arbeitsgericht später festgestellt - nicht zum 01.02.2022, sondern erst drei Wochen später zum 22.02.2022 beendet. Das letztgenannte Datum markiere die Fälligkeit des möglichen Abgeltungsanspruchs, denn für eine Abgeltung des Urlaubsanspruchs bedürfe es der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Erst an diesem Tag habe somit die Verfallfrist zu laufen begonnen. Da damit die Geltendmachung vom 10.02.2022 keine Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Verfallfrist gehabt habe, sei erst mit der Klage vom 04.10.2022, also lange nach Ablauf der ersten Stufe der Verfallfrist, der Urlaubsabgeltungsanspruch geltend gemacht worden. Im Übrigen gingen gemäß § 5 des Tarifvertrages Urlaubsansprüche mit dem Ende des Monats März des Folgejahres unter, hier also am 31.03.2022.
35Die vom Arbeitsgericht zugesprochenen Entgeltansprüche seien nicht nur verfallen, sie bestünden auch dem Grunde nach nicht. Sie habe schon erstinstanzlich eingewandt, dass der Kläger einer selbständigen Tätigkeit nachgehe. Dazu passe die Erklärung des Klägers, die Bundesagentur für Arbeit habe mit Blick auf die Zahlung von Arbeitslosengeld eine Sperre verhängt. Diese Sperre sei nicht erklärbar, außer mit der besagten freiberuflichen Tätigkeit. Außerdem habe sie mit Schreiben vom 28.03.2022 zurecht ein Zurückbehaltungsrecht ausgeübt, das weiterhin bestehe. Sie habe vom Kläger Auskünfte verlangt über (1.) anderweitige Einkünfte, die der Kläger in dem Zeitraum vom 01.09.2021 bis 31.01.2022 erzielt habe, (2.) über Leistungen der Arbeitsagentur und/oder des Jobcenters, die der Kläger im genannten Zeitraum erhalten habe, (3.) über den Zeitpunkt der Meldung bei der zuständigen Arbeitsagentur als arbeitssuchend sowie (4.) über die Vermittlungsvorschläge der Arbeitsagentur/oder des Jobcenters in dem Zeitraum ab 01.02.2022.
36Die Beklagte beantragt,
37das Urteil des Arbeitsgerichts Köln, vom 10.01.2024- 18 Ca 6500/22 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
38Der Kläger beantragt,
39die Berufung zurückzuweisen.
40Er verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts Köln und vertieft seinen erstinstanzlichen Vortrag. Die Abgeltungsansprüche seien mit Schreiben vom 10.02.2022 geltend gemacht worden. Zu diesem Zeitpunkt seien die Ansprüche auch schon fällig gewesen. Die Beklagte habe 9 Tage zuvor, am 01.02.2022, die fristlose Kündigung ausgesprochen, das Arbeitsverhältnis also mit einer einseitigen Willenserklärung gestaltet. Vorbehaltlich der nachfolgenden rechtlichen Überprüfung der Kündigung sei das Arbeitsverhältnis auch und insbesondere aus dem Blickwinkel der Beklagten zunächst am 01.02.2022 beendet gewesen. Von einer „Vorratsgeltendmachung“ durch das Schreiben vom 10.02.2022 könne daher keine Rede sein. Anderweitiger Verdienst sei nicht anzurechnen: Er sei während der Kündigungsfrist keiner selbstständigen Tätigkeit nachgegangen; er habe den Anspruch auf ALG l bis zum 22.02.2022 nicht realisieren können, ein gesetzlicher Forderungsübergang sei daher nicht eingetreten; ein Zurückbehaltungsrecht stehe der Beklagten nicht zu, weil sie kein Gegenrecht geltend machen könne; anderweitige Einkünfte habe er im Februar 2022 nicht erzielt; im gleichen Zeitraum sei kein Jobangebot der Bundesagentur eingegangen; Stellenangebote Dritter hätten in diesem Zeitraum nicht vorgelegen.
41Auf Nachfrage in der Berufungsverhandlung, wurde ist die ursprünglich streitige Zahlung in Höhe von 672,00 EUR unstreitig gestellt worden.
42Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
43E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
44Die Berufung der Beklagten ist zwar zulässig aber nicht begründet.
45I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).
46II. Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zu Recht und mit zutreffender Begründung verurteilt, an den Kläger restliches Entgelt für den Monat Februar 2022 (1.) und restliche Urlaubabgeltung (2.) zu zahlen. Insgesamt kann auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen werden. Die nachfolgenden Hinweise erfolgen nur zur Vertiefung und soweit sie durch die Berufungsbegründung der Beklagten veranlasst sind.
471. Zurecht hat das Arbeitsgericht die Beklage verurteilt, an ihn restliche 1.440,00 EUR brutto an Entgelt für den Monat Februar 2022 aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges zu zahlen. Der Anspruch folgt aus § 611 a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag und §§ 615, 293 ff BGB. Der Betrag kann gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als rechnerisch unstreitig unterstellt werden, nachdem der Kläger ihn im Einzelnen vorgerechnet und die Beklagte dazu nichts Erhebliches eingewandt hat. Insbesondere ist in der Berufungsinstanz der vor dem Arbeitsgericht noch streitige Zahlbetrag in Höhe von 672,00 EUR brutto unstreitig geworden, sodass es rechnerisch tatsächlich bei den streitgegenständlichen 1.440,00 EUR verblieb.
48Die Voraussetzungen für einen Entgeltanspruch aus § 615 BGB sind dem Grunde nach erfüllt (a.). Es ist kein anderweitiger Verdienst und auch kein böswillig unterlassener anderweitiger Verdienst anrechenbar (b.). Dem Anspruch steht ein von der Beklagten erklärtes Zurückbehaltungsrecht nicht entgegen (c.). Der so bestehende Anspruch ist auch nicht verfallen (d.).
49a. Die Voraussetzungen des § 615 BGB sind erfüllt, denn der Kläger war leistungswillig und leistungsbereit, während die Beklagte seine Arbeitsleitung nicht angenommen hat. Gemäß § 615 BGB kann die arbeitnehmende Person von der arbeitgebenden Person die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein, wenn die arbeitgebende Person mit der Annahme der Dienste in Verzug ist. Allerdings hat sie sich dabei den Wert desjenigen anrechnen zu lassen, was sie infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung ihrer Dienste erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt.
50Gemäß §§ 293, 296 BGB ist nach Ausspruch einer unwirksamen fristlosen Kündigung zur Auslösung des Annahmeverzuges ein wörtliches Leistungsangebot der arbeitnehmenden Person entbehrlich, weil die arbeitgebende Person mit dem Ausspruch der fristlosen Kündigung deutlich gemacht hat, dass er nicht gewillt sei, der arbeitnehmenden Person das Arbeitssubstrat zur Verfügung zu stellen und ihr gegenüber durch Ausübung des Direktionsrechts den Inhalt der geschuldeten Arbeitsleistung zu konkretisieren. Der Anspruch aus § 615 BGB entsteht folglich bereits mit Ablauf des Tages, an dem die Kündigungserklärung der arbeitnehmenden Person zugegangen ist, ohne dass die arbeitgebende Person von der Erhebung einer Kündigungsschutzklage Kenntnis haben müsste. Einzige Voraussetzung bleibt dann im Übrigen die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der arbeitnehmenden Person, um den Einwand des Unvermögens aus § 297 BGB entgegen zu treten.
51Nach diesem Maßstab sind die allgemeinen Voraussetzungen erfüllt: Zwischen den hier streitenden Parteien bestand bis zum 22.02.2022 ein Arbeitsverhältnis; dieses Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung vom 01.02.2022 nicht bereits an diesem 01.02.2020 beendet worden; durch diese Kündigung hat die Beklagte, als Gläubigerin des Anspruchs auf Arbeitsleistung, dem Kläger, also dem Schuldner der Arbeitsleistung, deutlich gemacht, dass sie nicht gewillt sei, dem Kläger das Arbeitssubstrat zur Verfügung zu stellen.
52Der Kläger war auch jedenfalls bis zum 22.02.2022 leistungswillig und leistungsbereit. Dies hat er konkret vorgetragen, indem er mitgeteilt hat, er sei gesund gewesen und er habe nicht selbständig gearbeitet. Nach § 138 Abs. 2 ZPO wäre es nun die prozessuale Obliegenheit der Arbeitgeberin, Tatsachen vorzutragen, aus denen sich zumindest die Vermutung ergeben könnte, der Kläger sei arbeitsunfähig erkrankt oder selbstständig tätig gewesen. Solche Tatsachen sind aber weder vorgetragen, noch ersichtlich. Insbesondere ist der Rückschluss der Beklagten von einer „Sperre“ der Arbeitslosengeldzahlung einerseits auf eine selbständige Tätigkeit andererseits wenig überzeugend. Plausibel ist vielmehr, dass eine „Sperre“ wegen der durch die Beklagte ausgesprochenen fristlosen Kündigung verhängt worden ist.
53b. Es ist kein anderweitiger Verdienst und auch kein böswillig unterlassener anderweitiger Verdienst anrechenbar.
54Anrechenbarer anderweitiger Verdienst ist nicht ersichtlich. Wie erwähnt hat die Beklagte lediglich pauschal behauptet, der Kläger gehe einer selbständigen Tätigkeit nach und habe dies auch während der hier streitigen drei Wochen zwischen dem 01.10.2022 (Zugang der fristlosen Kündigung) und dem 22.02.2022 (Ende des Arbeitsverhältnisses) getan. Ohne weitere Konkretisierung ist diese Behauptung nicht einlassungsfähig, damit nicht vollständig im Sinne des § 138 Abs. 1 ZPO und folglich unerheblich.
55Während der besagten drei Wochen hat der Kläger auch nicht die Erzielung anderweitigen Verdienstes böswillig unterlassen. Eine arbeitnehmende Person unterlässt böswillig im Sinne des § 615 BGB das Erzielen anderweitigen Verdienstes, wenn ihr ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass sie während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihr nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) unter Beachtung des Grundrechts auf freie Arbeitsplatzwahl nach Art. 12 GG zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Maßgebend sind dabei die gesamten Umstände des Einzelfalls.
56Der Kläger hat es nicht böswillig unterlassen sich gemäß § 38 Abs. 1 SGB III bei der Bundesagentur für Arbeit zu melden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Beklagte macht die „Sperre“ der Bundesagentur als Indiz für eine anderweitige Tätigkeit geltend. Die Bundesagentur kann aber nur dann eine Leistung „sperren“, wenn sie zuvor bewilligt oder zumindest beantragt wurde. Von einer ordnungsgemäßen Meldung muss dann ausgegangen werden.
57c. Dem Anspruch steht ein von der Beklagten erklärtes Zurückbehaltungsrecht nicht entgegen. Gemäß § 273 BGB kann der Schuldner die Leistung von Entgelt verweigern, bis der Gläubiger eine ihn treffende Pflicht erfüllt. Ein solches Zurückbehaltungsrecht scheidet aus zwei Gründen aus.
58Der Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts durch die Beklagte steht das Aufrechnungsverbot aus § 394 BGB in Verbindung mit § 850 c ZPO entgegen, das für den Fall des Zurückbehaltungsrechts entsprechend anzuwenden ist.
59Selbst wenn aber entgegen dem vorbenannten Verbot aus § 394 BGB die Zulässigkeit des Zurückbehaltungsrechts angenommen würde, kommt seine Ausübung mangels eines Gegenanspruchs nicht in Betracht. Als einen solchen Gegenanspruch hat die Beklagte die Auskunftspflicht des Klägers zu den von ihr gestellten Fragen angenommen. Diese zu ihren Gunsten angenommene Pflicht ist aber in jedem Falle erfüllt und daher gemäß § 362 BGB untergegangen. Der Kläger hat nämlich mitgeteilt, dass er im Zeitraum vom 01.09.2021 bis 31.01.2022 keine anderweitigen Einkünfte erzielt habe; er hat mitgeteilt, dass weder die Arbeitsagentur und/oder der Jobcenter ihm im genannten Zeitraum Leistungen erbracht hat; er hat mitgeteilt, dass er sich bei der zuständigen Arbeitsagentur als arbeitssuchend gemeldet hat und er hat mitgeteilt, dass er von der Arbeitsagentur oder vom Jobcenter im besagten Zeitraum keine Vermittlungsvorschläge erhalten habe.
60d. Der somit dem Grunde nach bestehende Anspruch auf Zahlung von Annahmeverzugsentgelt ist auch nicht verfallen. Das in einer tariflichen Verfallklausel vorgesehene Erfordernis einer schriftlichen Geltendmachung, wie hier in § 9 Abs. 1 MTV 2017, gilt mit der Erhebung einer Bestandsschutzklage als erfüllt, soweit die fraglichen Ansprüche vom Bestand des Arbeitsverhältnisses abhängen (BVerfG v. 01.12.20101 BvR 1682/07; BAG v. 19.09.2012 5 AZR 628/11). Die Frist für die zweite Stufe der hier anwendbaren tariflichen Ausschlussfrist (§ 9 Abs. 2 MTV 2017) beginnt erst zu laufen, wenn der geltend gemachte Anspruch abgelehnt worden ist. Eine konkrete Ablehnung der hier streitigen Entgeltansprüche mehr als drei Monate vor der hier am 02.12.2022 erhobenen Klage (also vor dem 02.09.2022) ist aber weder vorgetragen noch ersichtlich.
612. Gleichfalls zurecht hat das Arbeitsgericht die Beklage verurteilt, an ihn restliche 478,06 EUR brutto an Urlaubsabgeltung zu zahlen. Der Anspruch folgt aus § 611 a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag und § 7 Abs. 4 BUrlG und § 5 des MTV 2017. Auch wenn die Berechnung des Klägers nicht dem § 5 Abs. 8 MTV 2017 folgt und insbesondere nicht die rechtskräftige Entscheidung berücksichtigt, dass im Vorjahr gut 900,00 EUR weniger an Entgelt verdient worden war, als arbeitsvertraglich vereinbart, kann der Klage-Betrag gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als rechnerisch unstreitig unterstellt werden, nachdem die Beklagte zur Berechnung des Klägers nichts Erhebliches eingewandt hat.
62Der Abgeltungsanspruch ist nicht gemäß § 9 MTV 2017 verfallen, denn er wurde mit dem Schreiben vom 10.02.2022 rechtzeitig geltend gemacht. Dabei war ausreichend, den Urlaubsabgeltungsanspruch dem Grunde nach zu bezeichnen (BAG v. 16.04.2013 - 9 AZR 731/11 -).
63Diese Geltendmachung vom 10.02.2022 ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht deshalb unerheblich, weil sie vor dem Datum erfolgt ist, zu dem das Arbeitsverhältnis nach Durchführung des Kündigungsschutzverfahrens sein Ende gefunden hat, also nicht nur vor der Fälligkeit des geltend gemachten Abgeltungsanspruchs sondern auch vor dessen Entstehen.
64Auf die Fälligkeit kommt es schon deshalb nicht an, weil entstandene Ansprüche auch schon vor ihrer Fälligkeit wirksam geltend gemacht werden können (BAG v. 11.12.2003 - 6 AZR 539/02 -).
65Im speziellen hier vorliegenden Fall geht es aber gleichfalls nicht um einen Fall der Geltendmachung nach Entstehung des Anspruchs. Denn die Beklagte hat mit Ausspruch der fristlosen Kündigung das Arbeitsverhältnis zunächst zum 01.02.2022 gestaltet, nämlich beendet. Damit ist auch der Urlaubsabgeltungsanspruch - zunächst - entstanden. Die Geltendmachung durch den Kläger geschah nach diesem Zeitpunkt, also nach Entstehen des Anspruchs und nach dessen Fälligkeit. Es handelte sich damit nicht um eine „Vorratsgeltendmachung“.
66Im Übrigen handelt die Beklagte auch entgegen den Grundsätzen von Treu und Glauben, wenn sie sich auf die Unwirksamkeit der von ihr selbst ausgesprochenen Kündigung beruft, um der Wirksamkeit der Geltendmachung entgegen zu treten. Unter den vorliegenden Voraussetzungen ist das Sichberufen auf die Ausschlussfrist selbst treuwidrig. Denn die Geltendmachung durch den Kläger nach Ausspruch der fristlosen Kündigung erfüllt den Normzweck der Ausschlussfrist (Hinweis, Warnung, Rechtssicherheit) und verletzt gerade nicht den Grundsatz des Verbots der querulatorischen Rechthaberei und der Zerstörung des Rechtsfriedens.
67III. Nach allem bleibt es somit bei der Entscheidung des Arbeitsgerichts. Als unterliegende Partei hat die Beklagte die Kosten der Berufung zu tragen. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des Einzelfalls beruht.