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1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 22.06.2023 – 12 Ca 720/23 – wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten zu 90 % und dem Kläger zu 10 % auferlegt.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten um die Wirksamkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
3Der am 1994 geborene Kläger wird seit dem 01.04.2020 bei der Beklagten, einem medizinischen Personaldienstleister, als Krankenpfleger beschäftigt. Sein Einsatz erfolgte zuletzt im K St. A Krankenhaus.
4Am 25.01.2023 konfrontierten die Leiterin der Pflege-Anästhesie, der Chefarzt der Anästhesie sowie der Pflegedirektor des St. A Krankenhaus den Kläger mit dem Vorwurf wiederholt fehlerhafter Dokumentation des Betäubungsmittels Dipidolor. Es bestehe der Verdacht einer bewussten Fehldokumentation, um unauffällig Betäubungsmittel (BtM) entwenden zu können. Das Vertrauensverhältnis sei nachhaltig gestört, der Vertrag mit der Beklagten werde fristlos gekündigt. Über den Gesprächsinhalt hat der Pflegedirektor ein Gesprächsprotokoll angefertigt, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird Bl. 31 f. d.A. ArbG.
5Mit Schreiben vom 03.02.2023 erklärte die Beklagte die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses, hilfsweise fristgerecht zum 31.03.2023 (Bl. 5 d.A. ArbG).
6Mit Versäumnisurteil vom 14.03.2023 hat das Arbeitsgericht Köln festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 03.02.2023 nicht aufgelöst worden ist und auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht (Bl. 21 d.A. ArbG).
7Nach form- und fristgerecht eingelegtem Einspruch der Beklagten hat das Arbeitsgericht Köln mit Urteil vom 22.06.2023 (Bl. 69 ff. d.A. ArbG) das Versäumnisurteil vom 14.03.2023 aufrechterhalten. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, das Gesprächsprotokoll ersetze weder einen substantiierten Vortrag noch sei es als Beweismittel geeignet. Eine Pflichtverletzung im Zusammenhang mit Dokumentationspflichten, insbesondere eine bewusste Fehldokumentation des Klägers, sei daher nicht hinreichend feststellbar. Eine Verdachtskündigung scheitere an der mangelnden vorherigen Anhörung durch die Beklagte als Arbeitgeber. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens und der Antragstellung der Parteien erster Instanz wird auf den Tatbestand, wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichtes wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
8Gegen das ihr am 28.06.2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12.07.2023 Berufung eingelegt und die Berufung zugleich begründet.
9Unter Bezugnahme auf das Gesprächsprotokoll vom 25.01.2023 führt die Beklagte aus, der drogenabhängige Kläger habe mehrfach im Betäubungsmittelbuch Dipidolor auf den Namen von Patienten ausgetragen, ohne dies in der Patientenakte zu dokumentieren. Wenn der Kläger die Betäubungsmittel durch systematische Manipulation der Dokumentationen nicht an sich genommen habe, so verbleibe nur die Möglichkeit, dass er die Medikamente an die Patienten ohne ärztliche Anweisung ausgegeben habe. Die Weiterbeschäftigung des Klägers stelle dann eine Gefahr für Leib und Leben der Patienten dar. Zudem habe der Kläger dreimal vorschriftswidrig Ampullenbrüche einseitig dokumentiert, statt sich die Brüche der Ampullen vorschriftsgemäß durch eine Zweitunterschrift bestätigen zu lassen.
10Die Beklagte beantragt,
11unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichtes Köln vom 22.06.2023, Az.: 12 Ca 720/23, die Klage abzuweisen.
12Der Kläger beantragt,
13die Berufung zurückzuweisen.
14Der Kläger bestreitet, drogenabhängig zu sein. Er rügt die mangelnde Konkretisierung der Vorwürfe und bestreitet BtM-Dokumentationen bewusst manipuliert zu haben. Unstimmigkeiten zwischen den Eintragungen im BtM-Buch und der Patientenakte seien der Hektik des Krankenhausalltags geschuldet.
15Den allgemeinen Fortbestandsantrag hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht zurückgenommen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze der Parteien vom 12.07.2023, 18.07.2023, 24.07.2023, 14.08.2023, 16.08.2023 und 28.08.2023, die Sitzungsniederschrift vom 06.03.2024 sowie den übrigen Akteninhalt erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
18I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, denn sie ist gemäß § 64 Abs. 2c) ArbGG statthaft und sie wurde ordnungsgemäß innerhalb der Fristen des § 66 Abs. 1 ArbGG eingelegt und begründet.
19II. Der Berufung blieb der Erfolg versagt. Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass weder ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB noch ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG vorliegt, so dass die Kündigung mit Schreiben vom 03.02.2023 das Arbeitsverhältnis weder fristlos noch fristgerecht zum 31.03.2023 aufgelöst hat.
201. Eine Kündigung ist iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist (BAG, 07.05.2020 – 2 AZR 619/19 – m.w.N.). Das wiederum ist nicht der Fall, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken (BAG, 31.07.2014 – 2 AZR 434/14 – m.w.N.). Der wissentliche und vorsätzliche Verstoß gegen eine dem Arbeitnehmer obliegende Dokumentationspflicht ist darüber hinaus „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung iSv. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Es handelt sich in aller Regel um einen schweren Vertrauensmissbrauch. Der Arbeitnehmer verletzt damit in erheblicher Weise seine Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) gegenüber dem Arbeitgeber. Es hat jedoch stets eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten (z.B. Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung) unzumutbar sind. Zweck der Kündigung ist nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses (Abmahnung) positiv beeinflusst werden kann. Einer solchen Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits im Voraus erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG, 13.12.2018 – 2 AZR 370/21 – m.w.N.).
212. Der Kläger ist als Krankenpfleger im Aufwachraum verantwortlich dafür, dass er im Falle der Entnahme und Verabreichung des BtM Dipidolor, die Entnahme des Medikaments aus dem Tresor im Aufwachraum im BtM-Buch und die Verabreichung in der jeweiligen Patientenakte ordnungsgemäß dokumentiert. Unter Vorhalt des Gesprächsprotokolls vom 25.01.2023 hat der Kläger in seiner persönlichen Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht eingeräumt, dass am 23.01.2023 in einem Fall zwar die Entnahme des Medikaments im BtM-Buch vermerkt war, nicht hingegen die Abgabe von Dipidolor an eine Patientin in der Patientenakte. Zu einem weiteren Mehrbestand einer Ampulle, der anlässlich einer Kontrolle am 23.01.2023/24.01.2023 festgestellt worden sein soll, vermochte er sich mangels näherer Kenntnis des Tatbestands nicht zu äußern. Zugunsten der Beklagten kann unterstellt werden, dass der Kläger in der Zeit vom 23.01.2023 bis 24.01.2023 zweimal die Eintragung der Entnahme von Dipidolor im BtM-Buch vermerkt hat, ohne dass die Abgabe in der Patientenakte vermerkt wurde. Ebenfalls kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger innerhalb der letzten zehn Diensttage vor der Anhörung am 25.01.2023 dreimal anweisungswidrig Ampullenbrüche hinsichtlich des BtM Dipidolor nur durch eigene Unterschrift und nicht durch die gebotene Zweitunterschrift dokumentiert hat. Der Kläger hat in seiner gerichtlichen Anhörung die gelegentliche einseitige Dokumentation der Ampullenbrüche eingeräumt und die vorgehaltene Anzahl in dem besagten Zeitraum nicht substantiiert bestritten. Hieraus folgt, dass der Kläger wiederholt seine Dokumentationspflichten in einem sensiblen Verantwortungsbereich als Krankenpfleger verletzt hat. Diese wiederholten Pflichtverletzungen rechtfertigen jedoch nicht die ordentliche oder die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses, da der Beklagten eine mildere Reaktion zumutbar war. Selbst wenn es sich bei der zweifach unterlassenen Dokumentation in der Patientenakte bzw. das dreimalige Nichteinholen einer Zweitunterschrift im Falle des Bruches von Ampullen um ein schwerwiegendes fahrlässiges Verhalten des Klägers gehandelt haben sollte, so war sein Verhalten steuerbar und sein künftiges Verhalten durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses (Abmahnung) positiv beeinflussbar. Soweit die Beklagte ausführt, der Kläger habe in den genannten Fällen nicht nur fehlerhaft dokumentiert, sondern das Dipidolor an die Patienten nicht verabreicht bzw. die Ampullenbrüche nur vorgetäuscht, um in den Besitz des BtM zu gelangen, mangelt es an einer hinreichenden Tatsachengrundlage zur Rechtfertigung dieser Annahme. Es lässt sich mangels Sachvortrag nicht positiv feststellen, dass die Abgabe des BtM nicht erfolgt ist oder die Ampullen tatsächlich nicht gebrochen waren. Die (wahlweise) Schlussfolgerung der Beklagten, der Kläger müsse, wenn er das Dipidolor nicht selbst an sich genommen habe und die Abgabe in der Patientenakte nicht dokumentiert sei, zwingend das BtM ohne ärztliche Anordnung herausgegeben haben, überzeugt nicht mit der gebotenen Gewissheit, denn dies setzt voraus, dass in den genannten Fällen sichergestellt war, dass sämtliche Eintragungen auf dem Aufwachprotokoll, einschließlich ärztlicher Anordnungen, vollständig in die Patientenakte übernommen wurden. Mangels konkreter Darlegung des Geschehensablaufs einzelner Fälle der Verabreichung von Dipidolor ist dies nicht feststellbar.
223. Die Berufungskammer teilt im Ansatz die Argumentation der Beklagten, dass eine besonders hohe Anzahl von Fehldokumentation innerhalb eines kurzen Dokumentationszeitraums ein Anzeichen für eine systematische, vorsätzliche Verletzung der Dokumentationspflicht darstellen kann. In diesem Fall wäre ausnahmsweise auch eine vorherige, einschlägige Abmahnung entbehrlich gewesen. Jedoch steht nicht zur Überzeugung des Gerichts (§ 286 ZPO) fest, dass der Kläger in weiteren sechs Fällen auf den Namen von Patienten im BtM-Buch Dipidolor ausgetragen hat, welches nicht in der Patientenakte aufgeführt wurde. Das Gesprächsprotokoll vom 25.01.2023 enthält zwar diesen Vorhalt in allgemeiner Art und Weise, ohne jedoch Datum, den Namen der Patienten oder sonstige Umstände der Identifikation der Vorfälle zu bezeichnen. Auch der Vorwurf, dies sei auch bei Patienten während eines Kurzaufenthalts im Aufwachraum von 30 Minuten geschehen, bei denen nach Aktenlage keine Schmerzen dokumentiert seien, wird nicht individualisiert. Der Kläger hat ausdrücklich in seiner Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht bekundet, dass über einzelne Fälle der Fehldokumentation insoweit nicht gesprochen wurde, was dem Wortlaut des Gesprächsprotokolls entspricht. Die Beklagte vermochte die weiteren sechs Fälle auch nicht zu benennen oder auf sonstige Art und Weise zu konkretisieren, so dass vor diesem Hintergrund das im Gesprächsprotokoll enthaltene Eingeständnis des Klägers gravierender Fehler im Zusammenhang mit seinen Dokumentationspflichten nicht die Bedeutung zukommt, er habe unstreitig auch in weiteren sechs Fällen auf den Namen von Patienten im BtM-Buch Dipidolor ausgetragen, ohne diesen Vorgang oder vorhandene Schmerzen in der Patientenakte zu vermerken.
23III. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 97 Abs.1, 269 Abs. 3 ZPO.
24IV. Die Revision wurde nicht zugelassen, da die gesetzlichen Zulassungsvoraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorliegen.