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1) Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 10.08.2022 – 2 Ca 747/22 – wird zurückgewiesen.
2) Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
3) Die Revision wird zugelassen
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten im bestehenden Arbeitsverhältnis um die Auslegung einer tarifvertraglichen Regelung. Dabei haben die Parteien unterschiedliche Ansichten zur Frage der Berechnung der korrekten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle.
3Der Kläger ist seit dem 01.05.2012 als Werkschutzfachkraft bei der Beklagten, einem Wach- und Sicherheitsunternehmen, beschäftigt. Bei einem Stundengrundlohn in Höhe von derzeit 17,64 Euro brutto erzielt er eine monatliche Vergütung in Höhe von etwa 4.000 Euro brutto.
4Für die Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr erhält der Kläger eine Nachtschichtzulage in Höhe von 10 % des Stundengrundlohns der Lohngruppe 7, mithin 1,44 Euro brutto je Stunde. Für Sonntagsarbeit erhält er in der Zeit zwischen 00:00 Uhr und 24 Uhr einen Zuschlag in Höhe von 50 % seines Stundengrundlohns, mithin 8,82 Euro brutto je Stunde. Zudem bezieht er von der Beklagten für Schichten, in denen er als Schichtführer eingeteilt worden ist, eine Schichtführerzulage in Höhe von 2,12 Euro brutto je Stunde.
5Der Tarifvertrag zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 13.11.1997 (im Folgenden: TV Entgeltfortzahlung) enthält unter §§ 2, 3 nachfolgende Regelung:
6„§ 2 Höhe und Berechnung
7Der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall regelt sich nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz in der jeweils gültigen Fassung mit folgenden Abweichungen:
81. Höhe
9Die Höhe der Entgeltfortzahlung beträgt:
10vom 1. - 14. Tag der Arbeitsunfähigkeit 80 %
11vom 15. Tag der Arbeitsunfähigkeit 100 %
122. Berechnungsgrundlage
13Das fortzuzahlende Entgelt des Arbeitnehmers berechnet sich auf der Grundlage des Einkommens des Arbeitnehmers in den letzten drei voll abgerechneten Kalendermonaten ohne Einmalbezüge und Aufwandsentschädigungen, geteilt durch die Anzahl der Kalendertage der letzten drei voll abgerechneten Kalendermonate, multipliziert mit der Anzahl der Kalendertage der Arbeitsunfähigkeit.
14Stehen als Referenzzeitraum nicht drei voll abgerechnete Kalendermonate zur Verfügung, gelten als Referenzzeitraum die tatsächlich abgerechneten vollen Kalendermonate. Steht als Referenzzeitraum kein voller abgerechneter Kalendermonat zur Verfügung, gilt das Lohnausfallprinzip.
15§ 3 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab 1.Mai 1999
16Ab dem 01.Mai 1999 wird ab dem 1. Tag der Arbeitsunfähigkeit ein Entgelt in Höhe von 100 % der tariflichen Vergütung des Arbeitnehmers gezahlt (1).
17Die 100 % berechnen sich nach der Lohngruppe des Arbeitnehmers, in die er eingruppiert ist.
18Es gilt das Lohnausfallprinzip. Leistungen nach Ziffer 3.3.1 und 3.3.2 des Manteltarifvertrages für das Wach- und Sicherheitsgewerbe NRW bleiben bei der Ermittlung der tariflichen Vergütung unberücksichtigt.
19Mit Ausnahme dieser Regelung und der Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 2.April 1993 gilt das Entgeltfortzahlungsgesetz in der jeweils gültigen Fassung.
20(1) Über die weitere Einbeziehung der Sonn- und Feiertagszuschläge in die Berechnungsgrundlage für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wird 1998 erneut verhandelt.“
21Der Kläger nahm weisungsgemäß am 26.03.2022 seine Tätigkeit in der Nachtschicht auf. Im Verlaufe dieser Schicht traten Symptome einer Corona-Erkrankung auf. Der von ihm daraufhin durchgeführte Schnelltest wies ein positives Ergebnis aus, woraufhin er sich am 27.03.2022 um 03:30 Uhr in häusliche Absonderung begab. In der Zeit vom 27.03.2022 bis zum 05.04.2022 war er arbeitsunfähig erkrankt. Auf die entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird verwiesen, Blatt 11 der Akte.
22Während dieser Krankheitsphase war er in der Zeit vom 27.03.2022 bis zum 29.03.2022, am 31.03.2022, 02.04.2022 sowie am 03.04.2022 als Schichtführer in der Nachtschicht eingeteilt. Nachtschicht ohne Schichtführertätigkeiten waren geplant am 01.04.2022 und am 05.04.2022. Auf den entsprechenden Schichtplan wird verwiesen, Blatt 43 der Akte.
23Mit Schreiben vom 20.04.2022 forderte der Kläger die Beklagte zur Zahlung eines weiteren Betrages in Höhe von 275,81 Euro für den Monat März 2022 auf, Blatt 10 der Akte. Nach Klageerhebung zahlte die Beklagte hierauf einen Betrag in Höhe von 44,10 Euro brutto. Damit bezahlte sie für den streitgegenständlichen Zeitraum allein den Grundlohn.
24Die Klageerweiterung hinsichtlich der Ansprüche für den Monat April 2022 ging am 30.05.2022 beim Arbeitsgericht ein, Blatt 26 der Akte.
25Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass sich sein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf die Schichtführerzulage, den Nachtzuschlag sowie den Sonntagszuschlag erstrecke. Dieser Anspruch ergebe sich aus § 3 des allgemeinverbindlichen TV Entgeltfortzahlung. Zwar könne nach § 4 Absatz 4 Satz 1 EFZG durch Tarifvertrag eine von den Absätzen 1, 1a und 3 des § 4 EFZG abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Entgelts festgelegt werden. Nach Auslegung der maßgeblichen Tarifverträge sei jedoch davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien eine Fortzahlung der Schichtleiterzulage sowie der Sonntags- und Nachtzuschläge festgelegt hätten. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut der streitgegenständlichen Klausel, nach der die tarifliche Vergütung zu zahlen sei, das Lohnausfallprinzip gelte und eine „Ermittlung“ überflüssig wäre, wenn allein die Grundvergütung gezahlt werden müsste. Die Festlegung von 100 % der Vergütung sei in Abgrenzung zur Vorgängerregelung zu verstehen. Der Kläger hat weiter die Ansicht vertreten, dass auch der tarifliche Gesamtzusammenhang für seine Auslegung spreche, da nur Urlaubs- und Weihnachtsgeld ausgeschlossen worden seien, was im Umkehrschluss bedeute, dass weitere Bestandteile gezahlt werden müssten.
26Der Höhe nach hat der Kläger die Ansicht vertreten, dass er für den Kalendermonat März 2022 einen Anspruch auf eine weitere Schichtführerzulage im Umfang von insgesamt 44,5 Stunden, einen Nachtzuschlag für 28,5 Stunden sowie einen Sonntagszuschlag für 8,5 Stunden habe, woraus sich ein weiterer Vergütungsanspruch in Höhe von 210,35 Euro brutto ergebe. Für den Kalendermonat April 2022 habe er Anspruch auf Schichtführerzulage für 30 Stunden, auf Nachtzuschlag für 32 Stunden und auf Sonntagszuschlag für 12 Stunden, woraus sich ein weiterer Vergütungsanspruch in Höhe von 215,52 Euro brutto ergebe.
27Der Kläger hat nach übereinstimmender Teilerledigungserklärung in Höhe von 44,10 Euro und Teilrücknahme im Übrigen erstinstanzlich beantragt,
281) die Beklagte zu verurteilen, an ihn 210,35 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 06.05.2022 zu zahlen;
292) die Beklagte zu verurteilen, an ihn 215,52 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 17.05.2022 zu zahlen.
30Die Beklagte hat beantragt,
31die Klage abzuweisen.
32Sie hat die Ansicht vertreten, dass sie sämtliche Entgeltfortzahlungsansprüche erfüllt habe, indem sie ausschließlich den Stundengrundlohn von 17,64 Euro brutto gezahlt habe. Zu mehr sei sie nach Auslegung der tarifvertraglichen Bestimmungen nicht verpflichtet, nachdem Zuschläge und Zulagen nur als Ausgleich für besondere Erschwernisse gezahlt werden müssten. Die 100%ige tarifliche Vergütung richte sich nach der Lohngruppe, in welche der Kläger eingruppiert sei.
33Mit Urteil vom 10.08.2022 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben, im Wesentlichen mit folgender Begründung:
34Die Klage sei zulässig und begründet. Der Kläger habe einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gegen die Beklagte in zuletzt eingeklagter Höhe. Dies ergebe sich aus der allgemeinverbindlichen Regelung des § 3 TV Entgeltfortzahlung in Verbindung mit §§ 3,4 EFZG. Der Anspruch erstrecke sich der Höhe nach auf die Schichtleiterzulage sowie die Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit. Nach § 4 Absatz 1 EFZG sei dem Arbeitnehmer für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 6 Wochen das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen. Dies beinhalte grundsätzlich auch etwaige Zuschläge. Zwar könne nach § 4 Absatz 4 Satz 1 EFZG eine hiervon abweichende Bemessungsgrundlage durch Tarifvertrag festgelegt werden. Eine Auslegung der tarifvertraglichen Regelungen ergebe jedoch, dass dies vorliegend nicht erfolgt sei. Schon der Wortlaut nehme Zulagen und Zuschläge der Arbeitnehmer nicht von der Entgeltfortzahlung aus, sondern verweise auf das Lohnausfallprinzip sowie die tarifliche Vergütung. Hierzu zählten neben dem Stundengrundlohn auch verschiedene Zuschläge gemäß § 3 des allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrages für Sicherheitsdienstleistungen in Nordrhein-Westfalen. Damit schließe die „tarifliche Vergütung“ auch Zulagen und Zuschläge ein. Für diese Auslegung spreche auch der Umstand, dass ausdrücklich nur die nach Ziffer 3.3.1 und 3.3.2 des Manteltarifvertrages für das Wach- und Sicherheitsgewerbe NRW geschuldeten Vergütungsbestandteile bei der Ermittlung der tariflichen Vergütung im Falle der Entgeltfortzahlung unberücksichtigt blieben. Eine ausdrückliche Herausnahme von weiteren Zuschlägen und Zulagen sei in § 3 TV Entgeltfortzahlung nicht vorgesehen. Auch die Wortwahl, dass die tarifliche Vergütung zu „ermitteln“ sei, spreche dafür, dass die Tarifvertragsparteien nicht lediglich die Grundvergütung ohne Zuschläge im Sinn gehabt haben dürften, da ansonsten nichts ermittelt werden müsste. Schließlich verweise die Protokollnotiz zu § 3 TV Entgeltfortzahlung darauf, dass über die „weitere Einbeziehung“ der Sonn- und Feiertagszuschläge für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 1998 erneut verhandelt werde. Die Frage der „weiteren Einbeziehung“ könne sich begrifflich nur stellen, wenn sie bisher schon einbezogen worden sei, weil anderenfalls über deren erstmalige Einbeziehung hätte verhandelt werden müssen. Zuletzt spreche auch der historische Zusammenhang für die Auslegung. Soweit § 3 TV Entgeltfortzahlung auf 100 % der tariflichen Vergütung verweise, sei dies in Abgrenzung zu der zuvor geltenden Regelung in § 2 TV Entgeltfortzahlung zu verstehen, nach der in den ersten zwei Wochen der Arbeitsunfähigkeit lediglich eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % der Vergütung zu zahlen sei. Die Beklagte sei daher antragsgemäß zu verurteilen, nachdem die Berechnungen der Höhe nach zuletzt korrekt erfolgt seien.
35Gegen das der Beklagten am 18.08.2022 zugestellte Urteil richtet sich deren am 14.09.2022 beim Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung, die sie am 18.11.2022 innerhalb der bis zum 18.11.2022 verlängerten Berufungsbegründungsfrist unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags im Wesentlichen wie folgt begründet:
36Maßgeblich für die Vergütung und die Prägung der Lebensverhältnisse bzw. des Lebensstandards seien die Stundenlohnhöhe und die Anzahl der Arbeitsstunden. 100 % der tariflichen Vergütung beziehe sich auf das Stundenentgelt gemäß der klägerischen Lohngruppe. Das BAG-Urteil vom 13.03.2022, 5 AZR 648/00, unterstütze die Auffassung der Beklagten, da hier ausgeführt werde, dass Zuschläge in der Regel nur als Ausgleich für entsprechende Erschwernisse bezahlt würden. Auch auf die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg, 15 Sa 802/14, verweise die Beklagte, nach der ein am Flughafen tätiger Sicherheitsmitarbeiter nur Anspruch auf die ausgefallene Grundvergütung habe. Bei der hier erstinstanzlich vorgenommenen Auslegung sei übersehen worden, dass im Zeitpunkt des Abschlusses des TV Entgeltfortzahlung der unter § 3 einbezogene Manteltarifvertrag vom 02.04.1993 weder in § 3 noch an anderer Stelle eine ausdrückliche Regelung zur Bezahlung von Sonn-, Nacht- bzw. Feiertagszuschlägen und Schichtleiterzulagen beinhaltet habe. Dies sei erst über 2 Jahre später erfolgt, so dass es ausgeschlossen sei, dass die Tarifvertragsparteien zum Zeitpunkt des Abschlusses des TV Entgeltfortzahlung Vergütungsbestandteile regeln wollten, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bestanden hätten. Das Argument, nur die nach 3.3.1 und 3.3.2 des Manteltarifvertrages für das Wach- und Sicherheitsgewerbe NRW aufgeführten Vergütungsbestandteile müssten unberücksichtigt bleiben, sei daher entkräftet. Abschließend könne auch die erwähnte Protokollerklärung zu keinem anderen Ergebnis führen.
37Die Beklagte beantragt,
38das am 10.08.2022 zum Aktenzeichen 2 Ca 747/22 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Bonn aufzuheben und die Klage abzuweisen.
39Der Kläger beantragt,
40die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 10.08.2022, 2 Ca 747/22, zurückzuweisen.
41Er verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil, wiederholt und vertieft seine erstinstanzlichen Ausführungen und führt ergänzend aus:
42Der Entscheidung des BAG vom 13.03.2022 sei lediglich zu entnehmen, dass die Tarifvertragsparteien nach § 4 Absatz 4 EFZG weitere Bestandteile des Entgelts von der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausnehmen könnten. Den vorliegenden Tarifverträgen könne ein entsprechender Wille jedoch nicht entnommen werden. Der Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg liege ein anderer Tarifvertrag mit anderem Wortlaut zugrunde. Die dortige Ausgangslage sei also nicht vergleichbar. Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten liege es keineswegs auf der Hand, dass 100 % der tariflichen Vergütung des Arbeitnehmers lediglich den Stundenlohn ohne jegliche Zuschläge erfasse. Der Stundengrundlohn sei nur der Ausgangspunkt der Berechnung. Der Folgesatz „Es gilt das Lohnausfallprinzip“ sei überflüssig, wenn die Auslegung der Beklagten korrekt wäre. Hätten die Tarifvertragsparteien bei der Berechnung der Entgeltfortzahlungshöhe die nunmehr streitgegenständlichen Zuschläge und Zulagen unberücksichtigt lassen wollen, so wäre dies im Jahr 2000 mit Einführung dieser Vergütungsbestandteile erfolgt.
43Wegen des weiteren Sach- und Rechtsvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die ausweislich der Sitzungsprotokolle abgegebenen Erklärungen ergänzend Bezug genommen.
44E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
45I) Zulässigkeit der Berufung
46Die Berufung der Beklagten ist an sich statthaft (§ 64 Absatz 1, Absatz 2 lit. a) ArbGG) und nach den §§ 64 Absatz 6, 66 Absatz 1 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit § 519 ZPO am 14.09.2022 gegen das am 18.08.2022 zugestellte Urteil form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der bis zum 18.11.2022 verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 18.11.2022 ordnungsgemäß begründet worden. Sie ist damit insgesamt zulässig
47II) Begründetheit der Berufung
48Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht und mit überzeugender Begründung hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben.
491) Die zulässige Klage ist mit ihren zuletzt gestellten Anträgen begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle für den Zeitraum vom 27.03.2022 bis zum 05.04.2022 gemäß § 3 TV Entgeltfortzahlung in Verbindung mit §§ 3,4 EFZG in ausgeurteilter Höhe.
50Nach § 4 Absatz 1 EFZG ist dem Arbeitnehmer für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 6 Wochen das ihm bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen.
51Nach § 3 TV Entgeltfortzahlung, der kraft Allgemeinverbindlichkeitserklärung vom 30.03.1998 auf das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis Anwendung findet, wird ab dem 1. Tag der Arbeitsunfähigkeit ein Entgelt in Höhe von 100 % der tariflichen Vergütung des Arbeitnehmers gezahlt.
52Dies war dem Grunde nach zwischen den Parteien nicht im Streit, da der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum arbeitsunfähig erkrankt war.
532) Der Höhe nach waren die letzten Berechnungen des Klägers korrekt. Der Anspruch erstreckt sich auf die Schichtleiterzulage sowie die Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit. Dies ergab sich wiederum aus folgenden Überlegungen:
54a) Grundsätzlich erhält das in § 4 Absatz 1 EFZG verankerte Entgeltausfallprinzip dem Arbeitnehmer die volle Vergütung einschließlich etwaiger Zuschläge (BAG vom 14.01.2009, 5 AZR 89/08; LAG Köln vom 12.03.2009, 7 Sa 1258/08; ErfK/Reinhard EFZG § 4 Rn. 8).
55b) Es kann jedoch gemäß § 4 Absatz 4 Satz 1 EFZG eine von den Absätzen 1,1a und 3 EFZG abweichende Bemessungsgrundlage durch Tarifvertrag festgelegt werden.
56Dies ist hier nicht erfolgt, was sich aus einer Auslegung der tarifvertraglichen Bestimmungen ergibt.
57Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebende Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG vom 20.07.2022, 7 AZR 247/21; BAG vom 23.07.2019, 9 AZR 475/18; BAG vom 19.09.2007, 4 AZR 670/06).
58aa) Bereits der Wortlaut des § 3 TV Entgeltfortzahlung verdeutlicht, dass die Tarifvertragsparteien die streitgegenständlichen Vergütungsbestandteile - Schichtführerzulage, Nachtzuschlag und Sonntagszuschlag – nicht von der Entgeltfortzahlung ausnehmen wollten.
59So wird ausgeführt, dass 100 % der „tariflichen Vergütung“ zu zahlen ist. Sowohl die Schichtführerzulage als auch die Nachtzuschläge sowie die Sonntagszuschläge werden tarifvertraglich geregelt. Der entsprechende Anspruch hierauf ergibt sich aus tarifvertraglichen Vereinbarungen. Alle 3 Vergütungsbestandteile sind somit Teil der „tariflichen Vergütung“. § 3 des ebenfalls allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrages für das Wach- und Sicherheitsgewerbe Nordrhein-Westfalen erwähnt demzufolge auch, dass „auf den tariflichen Stunden-Grundlohn“ die nachfolgenden Zuschläge gezahlt werden. Damit werden diese Zuschläge begriffsnotwendig Teil der tariflichen Vergütung.
60Des Weiteren wird in § 3 TV Entgeltfortzahlung explizit erwähnt, dass das Lohnausfallprinzip gilt. Der Begriff des Lohnausfallprinzips ist eng verbunden mit der Regelung des § 4 EFZG (BeckOK ArbR/Ricken EFZG § 4 Rn. 1). In den Fällen, in denen sich Tarifvertragsparteien eines Rechtsbegriffs bedienen, der im juristischen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, ist dieser Begriff in seiner allgemeinen juristischen Bedeutung auszulegen, sofern sich nicht aus dem Tarifvertrag etwas anderes ergibt (BAG vom 18.07.2017, 9 AZR 850/16; LAG Hamm vom 08.11.2017, 2 Sa 756/17). Bei dem Begriff „Lohnausfallprinzip“ handelt es sich um einen Rechtsbegriff, der im juristischen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, nämlich, dass dem Arbeitnehmer das Entgelt fortzuzahlen ist, das er verdient hätte, wenn die Arbeit nicht wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ausgefallen wäre (BAG vom 16.07.2014, 10 AZR 242/13; BAG vom 09.10.2002, 5 AZR 356/01; LAG Hamm vom 08.11.2017, 2 Sa 756/17). Bei der Vergütungsfortzahlung nach dem Lohnausfallprinzip sind mithin auch die streitgegenständlichen Vergütungsbestandteile zu zahlen (LAG Hamm a.a.O.). Dass die Tarifvertragsparteien genau diese Begrifflichkeit wählten, die eng verbunden ist mit der gesetzlichen Regelung des § 4 EFZG, verdeutlicht, dass gerade nicht beabsichtigt war, eine hiervon abweichende Vereinbarung zu treffen. Ansonsten wäre nicht zu erklären, weshalb die Begrifflichkeit einer Vorschrift gewählt wird, deren Inhalt angeblich abgeändert werden sollte. Diesen Widerspruch in ihrer gegenteiligen Argumentation konnte die Beklagte nicht aufklären. Gerade der Wechsel vom Referenzprinzip bis zum 30.04.1999 – vgl. § 2 TV Entgeltfortzahlung – zum Lohnausfallprinzip ab dem 01.05.1999 – vgl. § 3 TV Entgeltfortzahlung – verdeutlicht, dass die Tarifvertragsparteien gerade diese Unterscheidung im Blick hatten. Sie wählten also bewusst einen Rechtsbegriff, so dass kein Grund erkennbar ist, weshalb nicht auch die dahinterstehende Bedeutung gelten sollte.
61Unterstützt wird dieses Ergebnis dadurch, dass ausweislich der tarifvertraglichen Regelung die tarifliche Vergütung zu „ermitteln“ ist. Richtigerweise verweist das Arbeitsgericht in diesem Zusammenhang darauf, dass nichts zu ermitteln wäre, wenn die Tarifvertragsparteien nur die Grundvergütung im Blick gehabt hätten. Diese müsste nicht ermittelt werden, sondern ließe sich ohne Weiteres aus den Angaben im Lohntarifvertrag entnehmen.
62Abgerundet wird dieses Ergebnis durch die Formulierung im Rahmen der Protokollnotiz zu § 3 TV Entgeltfortzahlung, nach der über die „weitere Einbeziehung“ der Sonn- und Feiertagszuschläge für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall im Jahr 1998 erneut verhandelt werde. Eine „weitere“ Einbeziehung kann grundsätzlich nur so verstanden und ausgelegt werden, dass diese Zuschläge zuvor bereits einbezogen waren. Zwar kann es sich insofern auch um eine – sodann jedoch unglückliche – Formulierung dergestalt handeln, dass lediglich ausgedrückt werden sollte, dass hierüber „erstmals“ verhandelt werden sollte. Gerade aufgrund des Umstandes, dass der Wille, eine Abweichung von der gesetzlichen Regelung des § 4 EFZG zu vereinbaren, hinreichend deutlich niedergelegt werden muss (BAG vom 27.04.2016, 5 AZR 229/15), wäre zu erwarten gewesen, dass die Tarifvertragsparteien bei diesem Verständnis eine deutlichere Regelung getroffen hätten.
63bb) Auch die Systematik spricht – wie das Arbeitsgericht richtigerweise ausführt – dafür, dass die streitgegenständlichen Vergütungsbestandteile im Falle der Entgeltfortzahlung zu zahlen sind. § 3 TV Entgeltfortzahlung führt ausdrücklich auf, welche Leistungen bei der Ermittlung der tariflichen Vergütung unberücksichtigt bleiben. Es werden die Ziffern 3.3.1 und 3.3.2 des Manteltarifvertrages für das Wach- und Sicherheitsgewerbe NRW erwähnt, die zum damaligen Zeitpunkt das Urlaubsgeld und die Weihnachtszuwendung zum Inhalt hatten. Zum einen wäre eine solche ausdrückliche Ausnahme entbehrlich gewesen, wenn die Tarifvertragsparteien – wie die Beklagte meint – bereits durch den vorherigen Hinweis auf die tarifliche Vergütung allein die Grundvergütung hätten einbeziehen wollen (so auch LAG Hamm vom 08.11.2017, 2 Sa 756/17). Dass im Folgenden ausdrücklich das Urlaubsgeld und die Weihnachtszuwendung ausgeschlossen werden, verdeutlicht gerade, dass die Tarifvertragsparteien zuvor keineswegs nur die Grundvergütung eingeschlossen hatten, sondern der Hinweis auf die tarifliche Vergütung umfassend zu verstehen ist.
64Entgegen der Auffassung der Beklagten verbietet sich diese Interpretation der Systematik auch nicht deswegen, weil zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 3 TV Entgeltfortzahlung – am 01.05.1999 - die hier streitgegenständlichen Zulagen noch nicht existierten. Denn zum einen hätten die Tarifvertragsparteien im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Zulagen – zum 01.03.2000 – die Regelung des § 3 TV Entgeltfortzahlung abändern können und müssen, wenn sie eine Herausnahme auch dieser Vergütungsbestandteile beabsichtigt hätten. Zum anderen übersieht die Beklagte bei ihrem Hinweis auf die am 01.12.1997 noch nicht existente Regelung zu den Zuschlägen, dass ihre Rechtsansicht nur dann korrekt sein kann, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien, Vergütungsbestandteile in Abweichung zur gesetzlichen Regelung im Falle der Entgeltfortzahlung auszuschließen, hinreichend deutlich niedergelegt worden ist. Eine derartige Deutlichkeit lässt sich aber kaum anhand einer Regelung aus dem Jahr 1999 annehmen, bei der zum Zeitpunkt ihrer Entstehung die nunmehr streitgegenständlichen Ansprüche tarifvertraglich noch gar nicht existierten. Die Tarifvertragsparteien können denklogisch nichts ausschließen, was zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses noch nicht existierte.
65cc) Schließlich spricht – wie das Arbeitsgericht richtigerweise erkannt hat - auch eine Auslegung im historischen Zusammenhang der tariflichen Regelung für die Erfassung der streitgegenständlichen Entgeltbestandteile im Falle der Entgeltfortzahlung. Der ausdrückliche Verweis auf 100 % der tariflichen Vergütung lässt sich von der Begrifflichkeit her dergestalt erklären, als dass zuvor in § 2 TV Entgeltfortzahlung in den ersten 2 Wochen der Arbeitsunfähigkeit lediglich eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % der Vergütung zu zahlen war. Die Tarifvertragsparteien haben also gerade diese Formulierung gewählt, um zu verdeutlichen, dass es nunmehr 100 % statt der vorherigen 80 % sein sollten. Ein Hinweis lediglich auf den Stundengrundlohn verband sich damit nicht.
66Dieses Auslegungsergebnis steht nicht im Widerspruch zu den von der Beklagten erwähnten Entscheidungen des BAG vom 13.03.2002, 5 AZR 648/00, sowie des LAG Berlin-Brandenburg vom 15.07.2015, 15 Sa 802/15 (nicht 15 Sa 802/14, wie die Beklagte zitiert). Gegenstand der Entscheidungen waren der Manteltarifvertrag für die Molkereien und Käsereien im Lande NRW vom 10.04.1997 beziehungsweise der Manteltarifvertrag für Sicherheitskräfte an Verkehrsflughäfen vom 11.09.2013. Beide Tarifverträge beinhalten anderslautende Regelungen zur Frage der Entgeltfortzahlung. Die diesbezüglichen Auslegungsergebnisse sind auf den vorliegenden Rechtsstreit also nicht zu übertragen.
67Nachdem die rechnerische Richtigkeit der zuletzt vorgenommenen Berechnungen nicht im Streit war, erfolgte die entsprechende Verurteilung zu Recht.
683) Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 64 Absatz 6 ArbGG, 97 ZPO.
694) Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 72 Absatz 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen. Dieser Tatbestand liegt vor, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt und diese Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils der Allgemeinheit eng berührt (BAG vom 08.12.2020, 3 AZN 849/20; BAG vom 16.09.1997, 9 AZN 133/97; Germelmann/Matthes/Prütting, Arbeitsgerichtsgesetz, § 72 Rn. 12). Eine allgemeine Bedeutung in diesem Sinne ist zu bejahen, wenn die tatsächlichen Auswirkungen der Entscheidung von wirtschaftlicher Tragweite für die Allgemeinheit oder einen größeren Teil der Allgemeinheit sind (BAG vom 08.12.2020, 3 AZN 849/20; Germelmann/Matthes/Prütting, Arbeitsgerichtsgesetz, § 72 Rn. 17). Da eine allgemeinverbindliche Regelung eines landesweit anwendbaren Tarifvertrages auszulegen war, hat das Gericht eine solche allgemeine Bedeutung angenommen.