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Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung im Übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 12.08.2022 – 3 Ca 1447/21 – teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.199,07 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2021 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 838,20 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.08.2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 85 % und der Kläger zu 15 %.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
3Der am 1990 geborene Kläger ist seit dem Juni 2016 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Kunststoffherstellung, als Mitarbeiter in der Produktion beschäftigt.
4Der Kläger war in dem Zeitraum 02.06.2020 bis zum 31.05.2021 an 65 Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung und an 106 Arbeitstagen mit Krankengeldbezug arbeitsunfähig. Seit dem 01.06.2021 leistete die Beklagte keine Entgeltfortzahlung mehr. Für die Zeit vom 31.05.2021 bis 04.06.2021 war Arbeitsunfähigkeit gemäß dem ICD-Code M 79, 18 vom behandelnden Arzt diagnostiziert. Vom 10.06.2021 an war der Kläger laut ärztlicher Attestierung laufend arbeitsunfähig nach dem ICD-Code F 41.2 (Angst und depressive Störung, gemischt), vom 05.07.2021 laufend arbeitsunfähig gemäß ICD-Code F 33.1 (Rez. Depressive Störung, z.Zt. mittelgradige Episode) sowie dem ICD-Code F 45.9 (Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet). Wegen der weiteren Einzelheiten der Zeiträume der Arbeitsunfähigkeit ab dem 07.02.2020, der jeweiligen Diagnosen sowie der Angabe der behandelnden Ärzte wird auf die Auskunft der A R/H vom 13.09.2021 (Bl. 71 ff. d.A.) Bezug genommen.
5Das Arbeitsgericht Siegburg hat mit Urteil vom 12.08.2022 (Bl. 142 ff. d.A.) die Beklagte zum einen für den Juni 2021 zur Zahlung von 2.199,07 € (unstreitiges Urlaubsgeld iHv. 613,50 € brutto sowie Entgeltfortzahlung für 22 Arbeitstage) und weiteren 1.362,08 € brutto für den Juli 2021 (Entgeltfortzahlung für 13 Arbeitstage) nebst Verzugszinsen verurteilt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, für die Zeit vom 01.06.2021 bis zum 04.06.2021 habe keine Fortsetzungserkrankung vorgelegen, sondern aufgrund des Krankheitsbilds eine neue Erkrankung. Für den Folgezeitraum könne offen bleiben, ob der Kläger aufgrund eines Grundleidens erkrankt sei. Zwar liege zwischen dem erstmaligen Auftreten der psychischen Erkrankungen ab dem 14.08.2020 kein Zeitraum von mindestens zwölf Monaten, aber der (einheitliche) Verhinderungsfall, zu dem die psychischen Leiden hinzugetreten seien, habe bereits am 02.06.2020 begonnen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens und der Antragstellung der Parteien erster Instanz wird auf den Tatbestand, wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichtes wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
6Gegen das ihr am 16.08.2022 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 07.09.2022 Berufung eingelegt und diese innerhalb der verlängerten Begründungsfrist am 16.11.2022 begründet.
7Die Beklagte führt aus, dass für den Zeitraum 01.06.2021 bis 04.06.2021 anrechenbare Vorerkrankungen bestanden hätten. Es handele sich dabei um die Erkrankungen vom 15.06.2020 bis 24.11.2020 (M 54.14 und M 99.82), vom 06.07.2020 bis 24.11.2020 (R 51) und vom 08.03.2021 bis 12.03.2021 (M 79.19). Die Erkrankung ab dem 08.06.2021 beruhe auf demselben Grundleiden wie die Erkrankungen vom 15.06.2020 bis 24.11.2020 als auch die Erkrankung vom 19.03.2021 bis 24.03.2021. Die Grundsätze des einheitlichen Verhinderungsfalles seien für die Berechnung der Frist des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EFZG nicht relevant.
8Die Beklagte beantragt,
9das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 12.08.2022 – Aktenzeichen 1447/21 – abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
10Der Kläger beantragt,
11die Berufung zurückzuweisen.
12Der Kläger verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Er trägt vor, dass die Kopfschmerzen in der Zeit vom 06.07.2020 bis zum 24.11.2020 lediglich zu einer bestehenden Erkrankung (Radikulopathie im Thorakalbereich) als Begleiterscheinung hinzugetreten seien. Zwar sei bei der Diagnose des Zervikobrachialsystems auch die Brustwirbelsäule betroffen, jedoch handele es sich um eine Veränderung der Halswirbelsäule und nicht um eine Reizung der Nerven. Die von der Krankenkasse mit Schreiben vom 13.09.2021 nach Einholung ärztlicher Stellungnahme vorgenommenen Wertungen zur Frage anrechenbarer Krankheitszeiten seien daher nicht zu beanstanden.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze der Parteien vom 16.11.2022 und 24.01.2023, die Sitzungsniederschrift vom 22.03.2023 sowie den übrigen Akteninhalt Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, denn sie ist gemäß § 64 Abs. 2b) ArbGG statthaft und wurde ordnungsgemäß innerhalb der Fristen des § 66 Abs. 1 ArbGG eingelegt und begründet.
16II. Die Berufung ist nur zum Teil unbegründet. Die Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG für den Juni 2020 neben dem zugestandenen Urlaubsgeld iHv. 613,50 € brutto Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in rechnerisch unstreitiger Höhe von 1.585,57 € brutto zu zahlen, für den Juli besteht ein Entgeltfortzahlungsanspruch nur in Höhe von 838,20 € brutto, so dass die weitergehende Klage abzuweisen war. Der zugesprochene Anspruch auf Verzugszinsen folgt aus den §§ 286 Abs. 1 Satz 1, 288 Abs. 1 BGB.
171. Die Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG bestimmt, dass der Arbeitnehmer, der infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig wird, den Anspruch nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nicht verliert, wenn er entweder er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war (§ 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EFZG) oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist (§ 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EFZG).
182. Eine Arbeitsunfähigkeit beruht auch dann auf derselben Krankheit, wenn sich - trotz verschiedener Krankheitssymptome - eine Erkrankung als eine Fortsetzung der früheren Krankheit darstellt, weil die wiederholte Arbeitsunfähigkeit auf demselben nicht behobenen Grundleiden beruht. Eine auf demselben Grundleiden beruhende Vorerkrankung begründet den Fortsetzungszusammenhang wegen des Zwecks der Sonderregelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG nur dann, wenn diese Vorerkrankung zu einer Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers geführt hat. Hieran kann es etwa fehlen, wenn die Vorerkrankung während einer anderen Erkrankung eintrat und wegen des Grundsatzes des einheitlichen Versicherungsfalles keine Pflicht zur Fortzahlung des Entgelts ausgelöst hat, sondern die andere Erkrankung für sich alleine zur Entgeltfortzahlung verpflichtete (vgl.: BAG, 19.06.1991 – 5 AZR 304/90 -; Staudinger/Oetker (2022) BGB § 616 BGB Rn. 412 m.w.N.). Es gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Bestreitet der Arbeitgeber, dass eine neue Erkrankung vorliegt, hat der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Dabei hat er den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden. Die Folgen der Nichterweislichkeit einer Fortsetzungserkrankung hat der Arbeitgeber zu tragen (BAG, 26.10.2016 – 5 AZR 167/16 – m.w.N.).
193. Entgegen der Ansicht der Beklagten scheidet hiernach der Anspruch des Klägers auf Entgeltfortzahlung für die Zeit 01.06.2021 bis 04.06.2021 nicht deshalb nach § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EFZG) aus, weil der Kläger in der Zeit vom 08.03.2021 bis 12.03.2021 u.a. wegen einer Myalgie arbeitsunfähig war. Es handelt sich nicht um dieselbe Erkrankung im Rechtssinne, denn die Myalgie war in beiden Krankheitszeiträumen jeweils eine Begleiterkrankung, die zudem in unterschiedlichem krankheitsbedingten Kontext aufgetreten ist. Während die Myalgie vom 08.03.2021 bis 12.03.2021 im Zusammenhang mit einer Unterschenkel- bzw. Knieerkrankung sowie einer Venenerkrankung aufgetreten ist, stand die Migräne vom 28.05.2021 bis 04.06.2021 im Kontext eines Zervikobrachialsyndroms im Brustwirbelbereich. Es sind keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich oder vorgetragen, dass erst durch die hinzugetretene Myalgie eine Entgeltfortzahlungspflicht ausgelöst wurde. Der begleitende Charakter der Myalgie spricht gegen die Annahme der Verwirklichung eines fortbestehenden Grundleidens. Bereits die Unterschenkel- bzw. Knieerkrankung sowie die Venenerkrankung im März 2021 lösten – unabhängig von der begleitenden Myalgie – bereits für sich alleine kausal die Entgeltfortzahlungspflicht aus.
204. Der Entgeltfortzahlungsanspruch für den Zeitraum bis zum 04.06.2021 scheitert auch nicht an der Zwölfmonatshürde des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 EFZG. Die Kopfschmerzen (R 51) in der Zeit vom 06.07.2020 bis 24.11.2020 sind in Folge der ab dem 02.06.2020 bestehenden Arbeitsunfähigkeit auf- und hinzugetreten, waren also für das Entstehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs nicht ursächlich. Diese Arbeitsunfähigkeitsphase ist charakterisiert durch Beschwerden im Zusammenhang mit dem Thorakalbereich der Brustwirbelsäule (M 54.14/M 99.82), bei dem es sich im Übrigen um einen anatomisch anderen Körperbereich als bei dem Zervikobrachialbereich (M53.1), dem Halswirbelbereich, handelt, so dass eine medizinisch begründete verbindende Klammer eines Grundleidens zwischen den Arbeitsunfähigkeitszeiten nicht feststellbar ist.
215. Hinsichtlich des Zeitraums vom 08.06.2021 bis zum 19.07.2021 ist die Berufung jedoch insoweit erfolgreich als dass die Entgeltfortzahlungszeit vom 19.03.2021 bis zum 24.03.2021 gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EFZG anrechenbar ist und sich dadurch die Entgeltfortzahlung um eine Woche mindert. Die Arbeitsunfähigkeit vom 19.03.2021 bis zum 24.03.2021 beruhte auf der Diagnose „Angst und depressive Störung (gemischt, F 41.2)“, ebenso wie die ärztliche Feststellung ab dem 10.06.2021. Der Kläger hat keine verwertbaren Tatsachen dafür vorgetragen, dass und aus welchen Gründen die psychische Erkrankung ab dem 25.03.2021 ausgeheilt war und aus welchem Grund der wiederholte Eintritt des Krankheitsbildes innerhalb des Sechsmonatszeitraums des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EFZG nicht auf einem Grundleiden beruhen soll. Folglich ist der rechnerisch unstreitige Entgeltfortzahlungsanspruch für den Juli 2021 von 1.362,08 € brutto auf 838,20 € brutto zu reduzieren.
22III. Die Kostenentscheidung beruht auf den § 92 Abs. 1 ZPO.
23IV. Die Revision wurde nicht zugelassen, da die gesetzlichen Zulassungsvoraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorliegen.