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Zur Bedeutung der Meinungsfreiheit des Betriebsrats bei Abfassung und Versand eines Rundschreibens an die Belegschaft.
I. Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Aachen vom 05.08.2021 – 1 BV 9/21 – abgeändert. Der Antrag der Arbeitgeberin, den in ihrem im Betrieb bestehenden Betriebsrat aufzulösen, wird zurückgewiesen.
II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
2I.
3Die Arbeitgeberin beantragt die Auflösung des bei ihr bestehenden Rumpfbetriebsrats wegen eines Rundschreibens an die Belegschaft.
4Die Arbeitgeberin ist ein Zustellunternehmen mit rund 132 Arbeitnehmern und einem ursprünglich siebenköpfigen Betriebsrat. Sie ist eine Tochtergesellschaft der M GmbH, die unter anderem die A Zeitung sowie die A Nachrichten verlegt. Um die Zustellerinnen und Zusteller zu erreichen, versandte die Arbeitgeberin für den Betriebsrat mehrfach im Jahr das Rundschreiben „Der Betriebsrat informiert“.
5Am 18.12.2020 legten vier Mitglieder des Betriebsrats, darunter der vormalige Vorsitzende, ihr Amt nieder. Die vier ausgeschiedenen Betriebsratsmitglieder wandten sich mit Schreiben vom 23.12.2020, wegen dessen näheren Inhalts auf Blatt 38 der Akte Bezug genommen wird, an „alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“ der Arbeitgeberin. Darin erhoben sie gegen den derzeitigen Betriebsratsvorsitzenden und dessen Stellvertreter ua. den Vorwurf, während der Corona-Pandemie trotz Vorerkrankungen von Betriebsratsmitgliedern auf Präsenzsitzungen bestanden und die gebotenen Hygienemaßnahmen (Handdesinfektion, Tragen einer Atemschutzmaske) nicht eingehalten zu haben. Dies sage, so das Schreiben, „viel über ihre moralische und soziale Kompetenz aus, die (…) gerade bei Betriebsratsmitgliedern sehr hoch angesiedelt sein sollte, entscheiden sie doch im Rahmen des Gesundheitsschutzes auch über eure Gesundheit mit“.
6Nach der Amtsniederlegung der vier Mitglieder beabsichtigte der Betriebsrat den Versand des nächsten Rundschreibens mitsamt der zuvor abgeschlossenen „Betriebsvereinbarung zur Regelung der Vergütung für Zustellerinnen und Zusteller“ (im Folgenden: BV Vergütung) zu verschicken.
7In dem Rundschreiben wird zunächst der Rücktritt der vier Betriebsratsmitglieder und deren Schreiben vom 23.12.2020 thematisiert. In dem Schreiben heißt es unter anderem, dass der aktuelle Anlass für den Rücktritt die Weigerung des Geschäftsführers der Arbeitgeberin gewesen sei, aufgrund der verschärften Bedingungen der Corona-Pandemie eine Präsenzsitzung des Betriebsrates zuzulassen. Die von den ehemaligen Betriebsratsmitgliedern in dem Brief vom 23.12.2020 beschriebene Darstellung der Verhältnisse sei verlogen, einseitig und verantwortungslos. Es sei zudem verantwortungslos, die gewählten Mitglieder mit Hilfe des Geschäftsführers „auszubooten“. Der seit längerem schwelende Konflikt habe mehrere Ursachen, unter anderem die Inhalte, die Verhandlungen und das Zustandekommen der BV Vergütung, die der ehemalige Vorsitzende im Mai 2020 unterschrieben habe und die nunmehr bei vielen Arbeitnehmern zu großer Verärgerung bei den Abrechnungen führe. Der das Gremium in dieser Sache beratende Rechtsanwalt habe den letzten Entwurf der Betriebsvereinbarung gegenüber dem ehemaligen Vorsitzenden als unzureichend kommentiert, wie sich aus seinem auszugsweise zitierten Schreiben ergebe. In dem Verfahren gegen den Geschäftsführer zur weiteren Nutzung der Sitzungsräume sei eindeutig belegt worden, dass die ehemaligen Betriebsratsmitglieder die Glaubwürdigkeit der Arbeitgeberin mit mehreren Schriftstücken unterstützt hätten. Das Rundschreiben könne erst jetzt verschickt werden, weil der Geschäftsführer ihn, den Betriebsrat, seit Dezember 2020 massiv behindere. Von rechtswidriger Zensur bis zu unsinnigen Vorwürfen hätten die Versuche gereicht, mit denen der Versand habe verhindert werden sollen.
8Die Arbeitgeberin verweigerte den Versand des Rundschreibens und untersagte ihn auch dem Betriebsrat unter anderem mit der Begründung, dass das Schreiben gegen das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit verstoße, wahrheitswidrige Behauptungen enthalte und dass die Herausgabe von Betriebsvereinbarungen nicht gestattet sei. Gleichwohl verschickte der Betriebsrat das Rundschreiben, wegen dessen vollständigen Inhalts auf Blatt 12 und 13 der Akte Bezug genommen wird, nebst einer Kopie der benannten Betriebsvereinbarung auf eigene Kosten.
9Die Arbeitgeberin hat die Ansicht vertreten, der Betriebsrat habe mit dem Versand des Schreibens nebst der Betriebsvereinbarung eine grobe Verletzung betriebsverfassungsrechtlicher Pflichten begangen. Das Schreiben enthalte diffamierende Äußerungen unter anderem gegenüber ihrem Geschäftsführer; es sei respekt- und rücksichtslos. Der Betriebsrat habe hierdurch gegen das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit und gegen Geheimhaltungspflichten verstoßen und seine Kompetenzen massiv überschritten. Eine Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung sei nicht mehr denkbar. Der Betriebsrat beschäftigte sie zudem permanent mit der Anforderung von Unterlagen, Tabellenaufbereitungen, Bücherbestellungen und Gerichtsverfahren. Insbesondere werde die Neuwahl des Betriebsrates verzögert.
10Die Arbeitgeberin hat beantragt,
111. den in ihrem Betrieb bestehenden Betriebsrat aufzulösen;
2. für den Fall einer rechtskräftigen stattgebenden Entscheidung über den Antrag zu 1. einen aus drei Personen bestehenden Wahlvorstand zur Durchführung der Betriebsratswahl zu bestellen. Der Wahlvorstand setzt sich zusammen aus:
1) Herr P V ,
162) Frau M H ,
173) Herr C B .
18Der Betriebsrat hat beantragt,
19die Anträge abzuweisen.
20Er hat gemeint, die Voraussetzungen für eine Auflösung lägen nicht vor. Das konsequente Ausschöpfen betriebsverfassungsrechtlicher Möglichkeiten und Befugnisse stelle keine Pflichtverletzung dar. Der Versand des Rundschreibens sei Ausdruck des betriebsverfassungsrechtlichen Informationsrechts. Das Schreiben enthalte Meinungsäußerungen, die nicht zu beanstanden seien. Ebenso wenig enthalte das Schreiben Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse. Die Kenntnis der BV Vergütung sei für das Verständnis der Lohnabrechnungen essentiell.
21Das Arbeitsgericht hat den Betriebsrat mit einem am 05.08.2021 verkündeten Beschluss aufgelöst und dies im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Betriebsrat habe seine gesetzlichen Pflichten grob verletzt und sei deshalb gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG aufzulösen. Der Betriebsrat habe durch den Versand des Rundschreibens „Der Betriebsrat informiert“ nebst der BV Vergütung in grober Weise gegen das Gebot zur vertrauensvollen Zusammenarbeit gemäß § 2 Abs. 1 BetrVG verstoßen, was geeignet gewesen sei, den Betriebsfrieden erheblich zu stören. Das Vorgehen des Betriebsrates drücke seine Weigerung aus, mit der Arbeitgeberin und insbesondere ihrem Geschäftsführer weiterhin vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Der Geschäftsführer sei in den internen Konflikt des Betriebsrates mit hineingezogen und in dem Schreiben an mehreren Stellen über das zulässige Maß einer sachlichen Kritik hinaus herabgewürdigt worden. Seine Führungsposition werde im Ergebnis negiert. Dabei könne sich der Betriebsrat nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Das Schreiben enthalte keine sachliche Kritik am Handeln und Vorgehen der Arbeitgeberin und des Geschäftsführers, sondern erschöpfe sich in massiven, völlig pauschalen Vorwürfen. Der Belegschaft sei es anhand dieses Schreibens nicht möglich, die erheblichen Vorwürfe angeblich rechtswidrigen Handelns zu verifizieren. Jedenfalls sei für die Kammer nach der mündlichen Anhörung der Beteiligten der klare Eindruck entstanden, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit beider Betriebsparteien im Interesse und zum Wohle der Belegschaft nicht mehr möglich sei. Über den Hilfsantrag sei mangels Rechtskraft der Auflösungsentscheidung noch nicht zu entscheiden.
22Der Beschluss ist dem Betriebsrat am 17.08.2021 zugestellt worden. Seine dagegen gerichtete Beschwerde ist am 06.09.2021 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen und nach Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bis zum 29.10.2021 mit einem am 28.10.2021 eingegangenen Schriftsatz begründet worden.
23Der Betriebsrat ist der Auffassung, er habe mit dem Versand des Rundschreibens samt der Betriebsvereinbarung nur seine betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse konsequent ausgeschöpft. Der gesamte Inhalt dieses Schreibens sei vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, was vom Arbeitsgericht verkannt worden sei. Da es keine zentrale Betriebsstätte gebe, an der die Arbeitnehmer zusammenkommen und angesprochen werden könnten, sei der Versand des Rundschreibens durch die Arbeitgeberin von essentieller Bedeutung. Diesen Versand habe die Arbeitgeberin nicht verweigern dürfen.
24Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts werde der Geschäftsführer der Arbeitgeberin in dem Rundschreiben nicht über das zulässige Maß einer sachlichen Kritik herabgewürdigt. Das Rundschreiben sei, was einleitend klargestellt worden sei, eine unmittelbare Erwiderung auf das Rundschreiben der „alten“ Betriebsratsmitglieder vom 23.12.2020 sowie eine Auseinandersetzung mit der Amtsführung der vorherigen Betriebsratsmitglieder gewesen. Er, der Betriebsrat, habe in dem Rundschreiben Tatsachen und Geschehnisse richtig gestellt. Anders als das Arbeitsgericht annehme, werfe er lediglich den ausgetretenen Betriebsratsmitgliedern vor, dass sie ihn, den Betriebsrat, „ausbooten“ wollten. Ein konkreter Vorwurf gegenüber dem Geschäftsführer sei darin nicht zu sehen. Vielmehr werde betont, dass der Geschäftsführer unwillentlich die Handlungen der ausgeschiedenen Betriebsratsmitglieder unterstützt habe und in deren Zwecke eingespannt worden sei.
25Trotz entsprechender Zusicherungen der Arbeitgeberin sei er, der Betriebsrat, mehrmals seines Büros verwiesen worden. Eine Telefon-und/oder Videokonferenz sei für die Wahl seines Vorsitzenden und des Stellvertreters nicht möglich gewesen, da der periodisch eingeführte § 129 BetrVG nur die Beschlussfassung, nicht aber die Wahl des Vorsitzenden auf diese Weise erlaubt habe. Auch die Nutzung des Betriebsratsraums einer Schwestergesellschaft der Arbeitgeberin sei untersagt worden. Zuletzt seien die Betriebsratsmitglieder am 18.01.2021 in Anwesenheit eines Gewerkschaftssekretärs aus dem Betriebsratsbüro der Arbeitgeberin verwiesen worden. Deshalb habe er, der Betriebsrat, zwei einstweilige Verfügungsverfahren angestrengt, um eine Sitzung in Präsenz durchführen zu können. Dabei hätten die ausgetretenen Betriebsratsmitglieder die Glaubwürdigkeit der Arbeitgeberin mit eidesstattlichen Versicherungen gestützt. Nichts anderes habe er, der Betriebsrat, in dem Rundschreiben zum Ausdruck bringen wollen.
26Die Wiedergabe des Zitats seines ehemaligen Rechtsanwalts stelle nicht die Veröffentlichung eines Geschäftsgeheimnisses dar, da es aus der Korrespondenz Rechtsanwalt/Betriebsrat und nicht aus der Korrespondenz Betriebsrat/Arbeitgeberin stamme. Das Zitat sei im Rahmen des gesamten Rundschreibens zu beurteilen und belege, dass Ausgangspunkt des Konflikts innerhalb des Gremiums die Inhalte, die Verhandlungen und das Zustandekommen der Betriebsvereinbarung Vergütung gewesen sei.
27Der Betriebsfrieden sei nicht einmal ansatzweise gestört oder beeinträchtigt. Die Betriebsparteien würden nach wie vor zusammenarbeiten, wobei es ihnen in den meisten Fällen gelinge, eine pragmatische Lösung von Streitigkeiten herbeizuführen.
28Der Betriebsrat beantragt,
29den Beschluss des Arbeitsgerichts Aachen vom 05.08.2021, Az. 1 BV 9/21, abzuändern und den Antrag der Arbeitgeberin, den im Betrieb der V GmbH bestehenden Betriebsrat aufzulösen, zurückzuweisen.
30Die Arbeitgeberin beantragt,
31die Beschwerde zurückzuweisen.
32Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts und bestreitet, dass ihr Geschäftsführer dem Betriebsrat Präsenzsitzungen verboten habe. Vielmehr habe es sich um die Aufforderung gehandelt, in Zeiten des Lockdowns und ansteigender Inzidenzen sorgfältig abzuwägen, ob wirklich jede Betriebsratssitzung in Präsenz erfolgen müsse oder ob nicht von einer Telefonkonferenz Gebrauch gemacht werden könne. Dadurch habe sich der Betriebsrat aber nicht beeindrucken lassen, sondern weiter Präsenzsitzungen durchgeführt und zwei sinnlose Beschlussverfahren auf Gestattung von Präsenzsitzungen eingeleitet, bei denen nicht festgestellt worden sei, dass der Geschäftsführer ein Verbot ausgesprochen habe. Die späte Konstituierung des Betriebsrats habe nicht an der etwaigen Verhinderung einer Präsenzsitzung, sondern an der fehlenden Fachkunde des Vorsitzenden gelegen.
33In dem Rundschreiben habe der Betriebsratsvorsitzende nicht die Interessen der Belegschaft vertreten, sondern allein seine persönlichen Interessen und damit sein Amt missbraucht. Den Versand des Rundschreibens habe sie, die Arbeitgeberin, untersagt, um den noch sehr unerfahrenen Betriebsrat vor einer Dummheit zu bewahren. Entgegen dem Vortrag des Betriebsrats habe ihr Geschäftsführer nicht untersagt, die Betriebsvereinbarung an einzelne Mitarbeiter herauszugeben. Er habe nur darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber ein Einsichtsrecht in Betriebsvereinbarungen beim Betriebsrat oder bei der Geschäftsführung vorschreibe und dass eine Herausgabe von Betriebsvereinbarungen nicht vorgesehen sei.
34Durch die Veröffentlichung der Stellungnahme des ehemaligen Rechtsanwalts des Betriebsrats werde versucht, das alte Gremium zu demontieren und die Betriebsvereinbarung schlecht zu machen. Dies hinterlasse den Eindruck, dass die Betriebsvereinbarung ungesetzlich sei und die Arbeitnehmer übervorteilt würden. Nicht nur, dass eine solche Vorgehensweise geeignet sei, den Betriebsfrieden zu stören, sabotiere sie auch die Arbeit zwischen dem damaligen Betriebsrat und ihr, der Arbeitgeberin. Tatsächlich stoße die Betriebsvereinbarung auch nicht bei der Arbeitnehmerschaft auf große Verärgerung. Vielmehr werde sie reibungslos umgesetzt und von beiden Seiten akzeptiert.
35Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sei aufgrund des Verhaltens des Betriebsratsvorsitzenden nicht mehr möglich. Dieser nutze seine Position aus, um alleine schalten und walten zu können, sowie um ihrem Geschäftsführer Schwierigkeiten zu bereiten. Es sei schon Hohn, wenn der Betriebsrat behaupte, dass die Betriebsparteien nach wie vor vertrauensvoll zusammenarbeiten würden. Pragmatische Lösungen gebe es keine.
36Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses, die im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Unterlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
37II.
38Die an sich statthafte, form- und fristgerecht eingelegte sowie ordnungsgemäß begründete Beschwerde des Betriebsrats hat auch in der Sache selbst Erfolg. Der Betriebsrat ist nicht gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten aufzulösen. Die gegen ihn seitens der Arbeitgeberin erhobenen Vorwürfe reichen weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit für eine Auflösung des Gremiums aus.
391.) Der Versand des Rundschreibens „Der Betriebsrat informiert“ stellt keine grobe Verletzung gesetzlicher Pflichten dar, die eine weitere Amtsausübung des Betriebsrats untragbar erscheinen ließe.
40a) Ein grober Verstoß gegen gesetzliche Pflichten im Sinne von § 23Abs. 1 BetrVG liegt dann vor, wenn die Pflichtverletzung objektiv erheblich und offensichtlich schwerwiegend ist (BAG, Beschluss vom 23. Juni 1992– 1 ABR 11/92 –, Rn. 35, juris). Da die Auflösung des Betriebsrats eine besonders einschneidende Sanktion darstellt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, der betrieblichen Gegebenheiten und des Anlasses der Pflichtverletzung zu beurteilen, ob eine weitere Amtsausübung des Betriebsrats untragbar erscheint (BAG, Beschluss vom 22. Juni 1993 – 1 ABR 62/92 –, BAGE 73, 291-307, Rn. 53; LAG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Juni 2020 – 14 TaBV 75/19 –, Rn. 154, juris; Richardi/Thüsing, 17. Aufl. 2022, § 23 BetrVG, Rn. 53; vgl. auch BAG, Beschluss vom 27. Juli 2016 – 7 ABR 14/15 –, BAGE 156, 1-7, Rn. 21 zum Ausschluss eines Betriebsratsmitglieds).
41b) Weder der Inhalt des Rundschreibens noch sein Versand stellen so schwerwiegende Pflichtverletzungen dar, dass eine weitere Amtsausübung des Betriebsrats untragbar wäre.
42aa) Soweit die Arbeitgeberin ihren Auflösungsantrag auf in dem Rundschreiben enthaltene diffamierende Äußerungen stützt, ist zunächst festzustellen, dass sich das Schreiben im Wesentlichen und primär gegen die ehemaligen Betriebsratsmitglieder richtet und eine Antwort auf deren Rundschreiben vom 23.12.2020 darstellt. Ein Arbeitgeber kann gemäß § 23 Abs. 1 BetrVG die Auflösung des Betriebsrats aber nur wegen solcher Pflichtverletzungen beantragen, die Rechte und Pflichten des Betriebsrats ihm gegenüber betreffen. Pflichtverletzungen im Verhältnis der Betriebsratsmitglieder untereinander oder im Verhältnis zur Belegschaft kann der Arbeitgeber hingegen nicht geltend machen. Denn er ist weder Anwalt der Belegschaft noch des Betriebsrats (Fitting, 30. Aufl. 2020, § 23 BetrVG, Rn. 10).
43bb) Anders als der Betriebsrat es darzustellen versucht, weist das Rundschreiben jedoch auch Angriffe gegen den Geschäftsführer der Arbeitgeberin auf. So enthält etwa die Passage, die ehemaligen Betriebsratsmitglieder wollten die verbliebenen Mitglieder mit Hilfe des Geschäftsführers „ausbooten“, den Vorwurf, der Geschäftsführer lasse sich instrumentalisieren. Die Äußerungen, der Geschäftsführer habe aufgrund der verschärften Bedingungen der Corona-Pandemie eine Präsenzsitzung nicht zugelassen, ihn, den Betriebsrat, seit Dezember 2020 massiv behindert und mit rechtswidriger Zensur und unsinnigen Vorwürfen versucht, den Versand des Rundbriefs zu verhindern, stellen sogar unmittelbare Vorwürfe an die Adresse des Geschäftsführers dar. Gleichwohl rechtfertigen sie nicht die gerichtliche Auflösung des Betriebsrats. Denn sie sind im Kontext der innerbetrieblichen Konflikte zu sehen und durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Eine grundsätzliche Missachtung des Gebots zur vertrauensvollen Zusammenarbeit ist in den Vorwürfen nicht zu sehen.
44(1) Eine grundsätzliche Missachtung des Gebots zur vertrauensvollen Zusammenarbeit gemäß § 2 Abs. 1 BetrVG kann allerdings durchaus zur Auflösung eines Betriebsrats führen (vgl. Fitting, 30. Aufl. 2020, BetrVG § 23 Rn. 37). So werden etwa die Grundlagen des Vertrauens nachhaltig gestört, wenn in einem Flugblatt ein Verhalten des Arbeitgebers nicht nur sachlich falsch, sondern böswillig entstellend dargestellt wird und eine solche Äußerung geeignet ist, den Arbeitgeber in den Augen der Arbeitnehmerschaft herabzusetzen (BAG, Beschluss vom 21. Februar 1978– 1 ABR 54/76 –, Rn. 80, juris). Etwas anderes gilt, wenn Äußerungen vom Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt sind. Denn die Meinungsfreiheit ist für die Tätigkeit des Betriebsrats ebenso konstitutiv wie für die politische Willensbildung (D/K/W/Berg, 17. Aufl. 2019, § 2 BetrVG, Rn. 37). Betriebsinterne Kritik am Arbeitgeber ist erlaubt, auch wenn sie scharf und polemisch ausfällt (Wichert, DB 2018, 381). Das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit besagt nämlich nicht, dass Betriebsrat und Arbeitgeber verpflichtet sind, Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze zu überspielen. Es hält sie vielmehr zu Ehrlichkeit und Offenheit an. Dazu gehört, dass auch negative Urteile über die Gegenseite zum Ausdruck gebracht und auf diese Weise im Interesse von Betrieb und Belegschaft zur Diskussion gestellt werden können. Selbst eine unangemessene Schärfe im Ausdruck kann gestattet sein. Der Rahmen der vertrauensvollen Zusammenarbeit wird erst dann überschritten, wenn der Betriebsrat die Gespräche und die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber wiederholt oder gar systematisch durch haltlose Anschuldigungen stört (vgl. zum Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Personalrat und Dienststelle LAG Hessen, Urteil vom 02. Mai 2003 – 12 Sa 742/01 –, Rn. 50, juris).
45(2) Die gegen den Geschäftsführer gerichteten Äußerungen in dem Rundschreiben sind in diesem Sinne unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles von der Meinungsfreiheit geschützt. Eine Beachtung dieser Umstände ist notwendig, weil bei der Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Normen wie § 2 Abs. 1 BetrVG grundrechtlich geschützte Positionen berührt werden und interpretationsleitend zu berücksichtigen sind. Bedeutung und Tragweite der Grundrechte ist Rechnung zu tragen, damit ihr wertsetzender Gehalt auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt. Dies verlangt eine Abwägung zwischen der Schwere der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung andererseits, die im Rahmen der auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale des einfachen Rechts unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles vorzunehmen ist (BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2009 – 1 BvR 134/03 –, Rn. 61, juris).
46(3) Insoweit kommt es zunächst auf den Schutzbereich des Grundrechts an. Die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Von der Meinungsäußerung ist im Grundsatz die reine Tatsachenbehauptung zu unterscheiden, da sie – anders als eine Meinung – einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Eine unwahre Tatsachenbehauptung hat keinen Informationswert und fällt eigentlich aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG heraus (dazu ErfK/Schmidt, 22. Aufl. 2022, Art. 5 GG, Rn. 6). Etwas anderes gilt aber, soweit die Tatsachenbehauptung Voraussetzung für die Bildung von Meinungen ist, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in seiner Gesamtheit gewährleistet. Der Schutz von Tatsachenbehauptungen endet erst dort, wo sie zur Meinungsbildung nichts beitragen können, weil sie bewusst oder erwiesen unwahr sind (BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2009 – 1 BvR 134/03 –, Rn. 58, juris). Unter Umständen können sogar falsche meinungsbezogene Tatsachenbehauptungen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG fallen (ErfK/Schmidt, 22. Aufl. 2022, Art. 5 GG, Rn. 7).
47(4) Die Vorwürfe gegenüber dem Geschäftsführer der Arbeitgeberin, er habe sich bei der „Ausbootung“ der verbliebenen Betriebsratsmitglieder von den ausgeschiedenen Mitgliedern instrumentalisieren lassen, er habe eine Präsenzsitzung nicht zugelassen und den Betriebsrat massiv bei dem Versand des Rundbriefs behindert, sind in diesem Sinne meinungsbezogene Tatsachenbehauptungen, da sie jeweils einen Tatsachenkern und eine polemische Bewertung enthalten. Bezogen auf den Kerngehalt der Aussagen sind sie aber nicht bewusst oder erwiesen unwahr.
48(4.1) Denn ihr Geschäftsführer hat nach eigener Darlegung der Arbeitgeberin durchaus versucht, den Betriebsrat durch seine Vorhaltungen von Präsenzsitzungen abzuhalten. Auch wenn die Würdigung seines Verhaltens als „untersagen“ möglicherweise überspitzt ist, trifft sie jedoch den Kern, dass der Geschäftsführer keine Präsenzsitzungen wünschte. Er hatte dies dem Betriebsrat auch eindrücklich vermittelt. So ergibt sich aus dem von der Arbeitgeberin selbst vorgelegten Beschluss des Arbeitsgerichts Aachen vom 07.01.2021 – 1 BVGa 15/20 –, der in dem von dem Betriebsrat eingeleiteten einstweiligen Verfügungsverfahren ergangen ist, dass er den Betriebsrat „eindringlich“ gebeten hatte, während des Lockdowns keine Präsenzsitzungen im Sitzungsraum durchzuführen und sich bei Nichtbeachtung weitere Maßnahmen vorbehalten hatte. Ob dadurch tatsächlich die Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters verzögert wurde oder ob dies eher an der Unerfahrenheit des derzeitigen Betriebsratsvorsitzenden lag, ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Denn diese Einschätzung des Betriebsrats ist jedenfalls von seiner Meinungsfreiheit gedeckt.
49(4.2) Dass sich der Geschäftsführer entgegen der bisherigen Gepflogenheiten geweigert hatte, den Rundbrief zu verschicken, weil er mit seinem Inhalt nicht einverstanden war, ist unstreitig. Es ist nicht völlig falsch, dies als „verhindern“ zu bezeichnen. Dass es sich dabei um eine rechtswidrige Zensur gehandelt habe und dass die seitens der Arbeitgeberin gegenüber dem Betriebsrat geltend gemachten Gründe für den Nichtversand unsinnig gewesen seien, sind eigene Bewertungen und Ansichten des Betriebsrats, die zwar möglicherweise überpointiert sind, die aber unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG fallen.
50cc) Durch den Versand des Rundschreibens hat der Betriebsrat nicht in gesetzwidriger Weise den Betriebsfrieden so nachhaltig gestört, dass seine Auflösung nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gerechtfertigt wäre.
51(1) Dass der Betriebsrat grundsätzlich berechtigt ist, sich in einem Rundschreiben an die Arbeitnehmer zu wenden, stand zwischen den Beteiligten bisher zu Recht außer Streit. Denn die Information der Belegschaft ist dem Betriebsrat als gesetzliche Aufgabe zugewiesen. § 43 Abs. 1 Satz 1 BetrVG regelt zwar ausdrücklich nur den Tätigkeitsbericht des Betriebsrats in der Betriebs- oder Abteilungsversammlung. In Betrieben wie dem der Arbeitgeberin, bei denen die Arbeitnehmer nicht gemeinsam in Betriebsräumlichkeiten arbeiten und sich andere Informationsmittel wie das „Schwarze Brett“ oder eine mündliche Unterrichtung unzulänglich wären, kann die Unterrichtung aber auch durch die Herausgabe eines Informationsblatts erfolgen (vgl. BAG, Beschluss vom 21. November 1978 – 6 ABR 85/76 –, Rn. 11 - 12, juris; LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. August 2018 – 9 TaBV 157/18 –, Rn. 88, juris).
52(2) Auch zum Versand des hier streitigen Rundschreibens war der Betriebsrat berechtigt. Eine nachhaltige Störung des Betriebsfriedens ist darin nicht zu sehen. Denn zum einen war der Betriebsfrieden schon vorher aufgrund des Rücktritts von vier Mitgliedern massiv gestört. Das Rundschreiben ist im Wesentlichen eine Reaktion auf die persönlichen Vorwürfe der ausgeschiedenen Betriebsratsmitglieder, die sie mit ihrem Schreiben vom 23.12.2020 in die Betriebsöffentlichkeit getragen hatten. Zum anderen reicht eine Störung des Betriebsfriedens allein ohnehin nicht für die gerichtliche Auflösung eines Betriebsrats aus. Vielmehr ist erforderlich, dass diese auf einer Überschreitung der gesetzlichen Befugnisse beruht (vgl. Fitting, 30. Aufl. 2020, § 23 BetrVG, Rn. 36), was hier nicht der Fall ist.
53ee) Dass der Betriebsrat mit dem Rundschreiben den Text der BV Vergütung versandt und in dem Schreiben selbst die Einschätzung seines Rechtsanwalts zu dieser Betriebsvereinbarung veröffentlicht hat, stellt ebenfalls keinen Verstoß gegen seine gesetzlichen Pflichten dar.
54(1) Der Inhalt einer Betriebsvereinbarung bedarf keiner Geheimhaltung. Vielmehr sind Betriebsvereinbarungen vom Arbeitgeber gemäß § 77 Abs. 2 Satz 4 BetrVG an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen, damit die Arbeitnehmer davon Kenntnis nehmen können. Da sich die Kenntnisnahme aufgrund der besonderen Verhältnisse in einem Zustellbetrieb, bei dem die Mehrzahl der Arbeitnehmer auf der Straße unterwegs ist, als schwierig darstellt, stellt der Versand durch den Betriebsrat jedenfalls keine grobe Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten und Befugnisse dar.
55(2) Das Zitat aus dem rechtsanwaltlichen Schreiben verstößt nicht gegen § 79Abs. 1 BetrVG, wonach die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Betriebsrats verpflichtet sind, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen wegen ihrer Zugehörigkeit zum Betriebsrat bekannt geworden und vom Arbeitgeber ausdrücklich als geheimhaltungsbedürftig bezeichnet worden sind, nicht zu offenbaren und nicht zu verwerten. Bei dem Schreiben seines ehemaligen Rechtsanwalts handelt es sich nicht um ein solches Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis. Auch führte die Bekanntgabe der Einschätzung des Rechtsanwalts, für die Arbeitnehmer hätte mehr herausgeholt werden können und Nachbesserungen seien in einer Einigungsstelle möglich gewesen, nicht zu einer nachhaltigen Störung des Betriebsfriedens. Die Arbeitgeberin trägt selbst vor, die BV werde reibungslos umgesetzt und von beiden Seiten akzeptiert.
562.) Dass der Betriebsrat die Arbeitgeberin permanent mit der Anforderung von Unterlagen, Tabellenaufbereitungen, Bücherbestellungen und Gerichtsverfahren beschäftigt, rechtfertigt nicht gemäß § 23 Abs. 1 BetrVG die Auflösung des Betriebsrats. Denn darin liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Zwar darf keine Seite gegen die andere arbeiten, um sie in ihrer Funktion innerhalb der Betriebsverfassung zu stören. Für den Arbeitgeber ist das durch § 78 BetrVG konkretisiert; für den Betriebsrat bestimmt § 77 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, dass er nicht durch einseitige Handlungen in die Leitung des Betriebs eingreifen darf. Zusammenarbeit verlangt aber mehr als nur Nichtstörung; sie bedeutet vielmehr für den Arbeitgeber, dass er die gesetzlich geschaffene Einwirkungsmöglichkeit des Betriebsrats auf seinen Rechtskreis anerkennt, wie umgekehrt der Betriebsrat bei der Verfolgung der Arbeitnehmerinteressen auf die Rechte und Rechtsgüter des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen hat. Jedes mutwillige, widersprüchliche, provozierende oder gar rechtsmissbräuchliche Verhalten ist zu vermeiden. Verbalen oder sonstige Entgleisungen ist genauso entgegenzutreten wie von Sturheit geprägtem, unsinnig formalisiertem Auftreten (Richardi/Maschmann, 17. Aufl. 2022, § 2 BetrVG, Rn. 13). Ein solches Verhalten lässt sich im vorliegenden Fall jedoch nicht feststellen. Der Umstand, dass zwischen den Beteiligten eine Vielzahl von Rechtsstreiten anhängig ist, bedeutet nicht, dass dies allein dem Betriebsrat anzulasten ist. Jedenfalls lässt sich dies auch dem Vortrag der Arbeitgeberin nicht entnehmen. Auch das Arbeitsgericht, das, wenn auch ohne nähere Begründung, eine Blockadehaltung des Betriebsrats annimmt, hat ausdrücklich offen gelassen, ob nicht sogar die Arbeitgeberin selbst Teile dazu beigetragen hat, dass diese Haltung seitens des Betriebsrates eingetreten ist.
57d) Schließlich kann nicht zur Auflösung des Betriebsrats führen, dass er, wie die Arbeitgeberin meint, die Neuwahl des Gremiums verzögert. Denn nachdem der Betriebsrat einen Wahlvorstand bestellt hatte, war es gemäß § 18 Abs. 1Satz 1 BetrVG dessen Pflicht, die Betriebsratswahl unverzüglich einzuleiten, durchzuführen und das Wahlergebnis festzustellen. Dass der Wahlvorstand mit dem Betriebsrat personenidentisch ist, ändert daran nichts.
58III.
59Die Kammer hat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen, weil ihre Entscheidung auf den besonderen Umständen des vorliegenden Falles beruht und eine grundsätzliche Bedeutung nicht erkennbar ist.