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I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 27. Oktober 2017 – 2 Ca 356/16 FW – wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten über die Verpflichtung des Beklagten, für das Jahr 2015 Beiträge zu dem Förderungswerk des Bäckerhandwerks zu entrichten.
3Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Bäckerhandwerks. Das Förderungswerk beruht auf zwei Tarifverträgen zwischen dem Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die zuletzt 2002 geändert und 2003 für allgemeinverbindlich erklärt wurden.
4§ 3 des Tarifvertrages vom 18. Dezember 2002 (TV 2002) bestimmt zum Zweck des Förderungswerkes:
5„Zweck des ‚Förderungswerkes‘ ist es, ohne Begründung eines Rechtsanspruches aus den ihm nach § 4 zufließenden Mitteln der Bildung, insbesondere der Aus- und Weiterbildung dienenden Maßnahmen zu bestreiten und insbesondere Beihilfen an Einrichtungen zur beruflichen und staatsbürgerlichen Bildung zu leisten.
6Über die Förderung von Bildungseinrichtungen und Bildungsmaßnahmen im Rahmen der vorhandenen Mittel wird nach Maßgabe der Satzung entschieden.“
7In der Satzung des Klägers vom 22. Juni 2005 heißt es:
8„§ 2 Zweck des Vereins
9Der Zweck des Vereins ist nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet. Er hat die Aufgabe, Beihilfen und Einrichtungen zur beruflichen staatsbürgerlichen Bildung zu gewähren.“
10Wegen des weiteren Inhalts der Satzung wird auf die Kopie Blatt 190 ff. d. A. Bezug genommen.
11In einer Stellungnahme des Zentralverbandes des Deutschen Bäckerhandwerks e. V., die in der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in B am 19. Juni 2017 durch den Ausschuss des Deutschen Bundestages für Arbeit und Soziales ergangen ist, ist wörtlich ausgeführt:
12„Zweck des Förderungswerks ist es, aus den ihm auf Grund der beiden Tarifverträge zufließenden Mittel Maßnahmen der Bildung, insbesondere der Aus- und Weiterbildung zu bestreiten und insbesondere Beihilfen an Einrichtungen zur beruflichen und staatsbürgerlichen Bildung zu leisten.
13Nach den tarifvertraglichen Bestimmungen haben die Betriebe des Bäckerhandwerks zur Finanzierung dieser Aufgaben jährlich einen Beitrag von 1,1 Promille der Lohnsumme des Vorjahres zu entrichten. Das Förderungswerk unterstützt mit diesen Mitteln die Bildungseinrichtungen des Bäckerhandwerks: Den gemeinnützigen Verein B e. V. sowie die ebenfalls gemeinnützige Akademie D . Weiterhin werden von den Landesinnungsverbänden getragene Bildungsangebote und Bildungseinrichtungen unterstützt. Diese bieten mit Hilfe der zugewiesenen Mittel weit über die Vorbereitung zur Meisterprüfung hinausgehende Aus- und Weiterbildungsangebote an. Das Förderungswerk sichert damit die finanziellen Grundlagen der Aus- und Weiterbildung im Bäckerhandwerk. Es trägt damit nicht nur Sicherung von qualifiziertem Fachpersonal, sondern auch zur Sicherung von Arbeitsplätzen im Bäckerhandwerk bei.“
14Der Beklagte betreibt eine handwerkliche Bäckerei, in der er Arbeitnehmer beschäftigt, die in den Geltungsbereich der Tarifverträge fallen. Er entrichtete den am 30. Juni 2015 für das Jahr 2015 fälligen Mitgliedsbeitrag in Höhe von 45,65 € nicht.
15Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der geltend gemachte Anspruch ergebe sich aus dem SoKaSiG II. Die in diesem Gesetz vorgesehene echte Rückwirkung sei zulässig.
16Der Kläger hat beantragt,
17den Beklagten zu verurteilen, an ihn 45,65 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2015 zu zahlen.
18Der Beklagte hat beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Er hat geltend gemacht, dass SoKaSiG II sei unwirksam. Der Gesetzgeber habe sich dazu entschlossen, formale Mängel des Allgemeinverbindlichkeitsverfahrens zu heilen. Er könne jedoch nicht per Gesetz verordnen, dass in bestimmten Fällen die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlichkeit vorliegen. Solange kein Interesse an einer Allgemeinverbindlichkeit bestehe, helfe auch die Heilung von Verfahrensmängeln nicht. Ob die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlichkeit vorliegen, habe allein das Gericht zu prüfen.
21Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten.
22Der Beklagte ist nach wie vor der Meinung, der Kläger könne seinen Anspruch nicht auf das SoKaSiG II stützen. Dies enthalte eine unzulässige echte Rückwirkung. Anders als die Sozialkasse des Baugewerbes erbrächte der Kläger absolut keine Leistungen an Arbeitnehmer, welche man als sozialstaatsnah bezeichnen könne. Auf die Leistungen des Klägers bestehe noch nicht einmal ein Rechtsanspruch. In Br erbringe der Kläger keinerlei Leistungen für die Berufsbildung. Die Beitragspflicht verstoße gegen die grundgesetzlich geschützte Koalitions – und Vereinigungsfreiheit sowie gegen das Gebot weltanschaulicher Neutralität. Verletzt sei auch das Gleichbehandlungsgebot, weil Nichtinnungsmitglieder höhere Seminarkosten entrichten müssten als Innungsmitglieder. Er bestreitet mit Nichtwissen, dass der Kläger irgendeine Tätigkeit im Rahmen der Berufsausbildung ausübt oder auch finanziell fördert.
23Der Beklagte beantragt,
24unter Abänderung des am 27.10.2017 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Siegburg – 2 Ca 356/16 FW – die Klage abzuweisen.
25Der Kläger beantragt,
26die Berufung zurückzuweisen.
27Er hält die Berufung des Beklagten mangels ausreichender Begründung bereits für unzulässig. Jedenfalls sei die Berufung unbegründet. Das SoKaSiG II sei aus mehreren Gründen verfassungsgemäß. Der Beklagte habe kein schutzwürdiges Vertrauen entwickeln können, für das Jahr 2015 nicht in Anspruch genommen zu werden. Die gesamte Branche habe Jahrzehnte auf die Funktion der Sozialkassensysteme vertraut und sei von der Rechtmäßigkeit der Beitragspflicht ausgegangen. Darüber hinaus lägen überragende Belange des Gemeinwohls vor. Der Kläger erfülle sozialstaatliche wichtige Aufgaben.
28Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils, die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Unterlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
29E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
30I. Die Berufung des Beklagten ist zulässig.
311. Sie ist gemäß § 64 Abs. 1 und Abs. 2 ArbGG statthaft und wurde gemäß §§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 und 5 ArbGG, § 519 ZPO frist- und formgerecht eingelegt.
322. Die Berufung des Beklagten ist auch ordnungsgemäß begründet worden.
33a) Eine Berufungsbegründung muss gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben.
34Die Berufungsbegründung muss auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen oder tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen, wenn sie diese bekämpfen will. Eine schlüssige, rechtlich haltbare Begründung kann zwar nicht verlangt werden. Für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es aber nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder dieses zu wiederholen (BAG 26. April 2017 – 10 AZR 275/16).
35b) Diesen Anforderungen wird die Berufungsbegründung gerecht.
36Der Beklagte hat in der Berufungsbegründung (erneut) geltend gemacht, bei Abgabe der Allgemeinverbindlicherklärung im Jahre 2003 seien nicht 50 % der Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt gewesen. Sie sei daher unwirksam gewesen. Hierauf sei das Arbeitsgericht nicht eingegangen. Dies sei jedoch entscheidungserheblich. Die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung führe auch zur Unwirksamkeit des SoKaSiG II, weil das Gesetz nur Versäumnisse im Bereich des Ministeriums habe korrigieren sollen.
37Damit erweist sich die Berufung als zulässig. Maßgeblich ist, dass das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen gewesen wäre, wenn die Rechtsauffassung des Beklagten zuträfe. Darauf, ob die Begründung inhaltlich zutrifft, kommt es im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nicht an.
38II. Die Berufung des Beklagten ist unbegründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch zu. Dies hat das Arbeitsgericht zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen erkannt. Der Kläger kann seinen Anspruch auf das SoKaSiG II stützen. Das Gesetz ist jedenfalls insoweit, als es Regelungen für das Bäckerhandwerk enthält, verfassungsgemäß. Zwar sieht das Gesetz eine echte Rückwirkung vor. Diese ist jedoch gerechtfertigt. Eine Verletzung von weiteren Grundrechten des Beklagten ist nicht gegeben.
391. Der Kläger hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Zahlung von 45,65 € als Mitgliedsbeitrag für das Jahr 2015 aus den §§ 28, 29 SoKaSiG II i.V.m. § 4 TV 2002.
40a) Zutreffend hat das Arbeitsgericht angenommen, dass das SoKaSiG II auf den vorliegenden Rechtsstreit Anwendung findet und eine eigenständige Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch des Klägers begründet.
41Der auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. zielende Einwand des Beklagten, dass im Zeitpunkt der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht mindestens 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben, führt zu keiner anderen Betrachtung.
42aa) Dies gilt schon deswegen, weil der diesbezügliche Vortrag des Beklagten unsubstantiiert ist.
43Die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags ist durch die Gerichte für Arbeitssachen grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen, soweit es entscheidungserheblich auf diese ankommt (vgl. a. § 98 ArbGG). Eine Überprüfung von Amts wegen bedeutet aber nicht, dass die Gerichte verpflichtet sind, von sich aus das Vorliegen aller Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung zu überprüfen. Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die obersten Arbeitsbehörden der Länder die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nur unter Beachtung der gesetzlichen Anforderungen vornehmen. Der erste Anschein spricht deshalb für die Rechtmäßigkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung. Es genügt daher nicht, wenn die Prozessparteien die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung pauschal bestreiten. Erforderlich ist vielmehr entweder ein substantiierter Parteivortrag, der geeignet ist, ernsthafte Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 TVG aufkommen zu lassen, oder das Vorliegen entsprechender gerichtsbekannter Tatsachen (vgl. BAG 10. Januar 2015 – 10 AZB 109/14).
44Der Beklagte hat zu den tatsächlichen Voraussetzungen des Quorums nicht konkret vorgetragen. Er hat lediglich eine Behauptung ohne jegliche Darlegung der tatsächlichen Grundlage aufgestellt.
45bb) Unabhängig davon käme das SoKaSiG II auch dann zur Anwendung, wenn davon auszugehen wäre, dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a. F. im Zeitpunkt der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages nicht vorlagen.
46Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 28 SokaSiG II, der nach seiner sprachlichen Fassung nicht nur auf eine „Korrektur von Versäumnissen der Ministerialbürokratie im Verfahrensgang des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. im Zeitpunkt der Allgemeinverbindlicherklärung gerichtet ist“, wie der Beklagte meint. Vielmehr wird die Geltung des Tarifvertrages angeordnet, ohne dass es dem Wortlaut nach darauf ankommt, ob und welche Fehler bei der Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt sind.
47Die Berücksichtigung des Sinns und Zwecks der gesetzlichen Regelung weist in dieselbe Richtung. Der Gesetzgeber wollte für das Bäckerhandwerk Rechtssicherheit herstellen. Es sollte gerade nicht darauf ankommen, ob die Allgemeinverbindlicherklärung fehlerbehaftet war.
48Besonders deutlich ergibt sich das angenommene Ergebnis aus der Gesetzesgeschichte. Mit dem SokaSiG I und anschließend mit dem SoKaSiG II hat der Gesetzgeber nicht nur auf die Annahme des BAG reagiert, dass die Allgemeinverbindlicherklärung als Ausübung von Staatsgewalt der demokratischen Legitimation in Form der zustimmenden Befassung des Ministers oder seines Staatssekretärs mit der Angelegenheit bedarf (BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15). Vielmehr hat sich der Gesetzgeber auch durch die Entscheidung des BAG vom 25. Januar 2017 (10 ABR 43/15) zum Handeln veranlasst gesehen. In der Entscheidung hat das BAG erkannt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung vom 3. Mai 2012 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 18. Dezember 2009 in der Fassung des Änderungstarifvertrags vom 21. Dezember 2011 unwirksam war, weil nicht festgestellt werden konnte, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber bei Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung nicht weniger als 50 v. H. der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigt haben.
49b) Das SoKaSiG II ist jedenfalls insoweit, als es Regelungen für das Bäckerhandwerk enthält, verfassungsgemäß. Es verstößt nicht gegen das Rückwirkungsverbot. Der Beklagte wird nicht in seinem verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG geschützten Vertrauen verletzt, nicht mit in unzulässiger Weise rückwirkenden Gesetze belastet zu werden. Ebenso wenig verletzt das SoKaSiG II weitere Grundrechte des Beklagten.
50aa) Das Gesetz verstößt jedenfalls insoweit, als es Regelungen für das Bäckerhandwerk enthält, nicht gegen das Verbot echter Rückwirkung.
51(1) Das auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes beruhende grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (BVerfG 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11).
52Normen mit echter Rückwirkung sind danach grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Eine Rechtsnorm entfaltet „echte" Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen"; vgl. BVerfG 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11).
53Eine „echte" Rückwirkung ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen") ist nur ausnahmsweise bei Vorliegen strenger Voraussetzungen zulässig. Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war. Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handelt es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden berechtigten Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage (BVerfG 16. Dezember 2015 – 2 BvR 1958/13; 17. Dezember 2013 – 1 BvL 5/08).
54Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist danach gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten. Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste, oder wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden. Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern, wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte, oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (BVerfG 17. Dezember 2013 – 1 BvL 5/08).
55(2) Für die Frage, ob die Rückwirkung zulässig oder unzulässig ist, kommt es allein auf den TV 2002 und die Satzung des Beklagten an. Nicht maßgeblich ist, ob einzelne Angebote des Klägers dem Tarifvertrag und der Satzung entsprechen bzw. ob einzelne Angebote einen Verstoß gegen gesetzliche und grundgesetzliche Bestimmungen enthalten. Auch insoweit schließt sich die Kammer den Ausführungen des Arbeitsgerichtes an. Selbst wenn einzelne Angebote des Klägers oder der von ihm unterstützten Institutionen rechtlich zu beanstanden wären, würde dies die Rechtmäßigkeit der gesetzlich geregelten Beitragspflicht nicht infrage stellen.
56(3) Nach diesen Grundsätzen verstößt das SokaSiG II jedenfalls insoweit, als es Regelungen für das Bäckerhandwerk enthält, nicht gegen das Verbot echter Rückwirkung.
57Zwar handelt es sich um eine echte Rückwirkung. Mit dem aus dem Jahr 2017 stammenden SoKaSiG II hat der Gesetzgeber nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingegriffen, indem er eine Regelung geschaffen hat, die für das Jahr 2015 eine Zahlungspflicht des Beklagten begründet.
58Die echte Rückwirkung ist jedoch aus mehreren Gründen zulässig. Die Kammer teilt die übereinstimmende Auffassung der Sachverständigen, die diese in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages vom 19. Juni 2017 geäußert haben (Ausschussdrucksache 18 (11) 1097; abrufbar im Internet). Damit ergibt sich für das Förderungswerk für die Beschäftigten des deutschen Bäckerhandwerkes die gleiche Rechtslage wie für die Sozialkassen im Baugewerbe (Hessisches LAG 19. Juni 2017 – 10 Ta 524/16; 02. Juni 2017 – 10 Sa 907/16; Ulber NZA 2017, 1104; Bader jurisPR-ArbR 31/2017 Anm. 2; Engels NZA 2017, 680; a.A. Thüsing NZA-Beilage 2017 Nr. 3, 1).
59Die Zulässigkeit der echten Rückwirkung ergibt sich zunächst aus der Überlegung, dass sich bei den betroffenen Arbeitgebern kein schutzwürdiges Vertrauen bilden konnte, nicht zu Beiträgen zu dem Förderungswerk herangezogen zu werden.
60Dies gilt schon deswegen, weil ein Vertrauen nur insoweit schutzwürdig ist, als es sich auf die Gültigkeit einer Norm bezieht. Ein mögliches Vertrauen in die Nichtigkeit einer Tarifnorm ist nicht schutzwürdig (vgl. Hessisches LAG 02. Juni 2017 – 10 Sa 907/16 – Rn. 84).
61Unabhängig hiervon konnte sich kein schutzwürdiges Vertrauen bilden, weil bis zur Verkündung der Entscheidungen des BAG vom 21. September 2016 (10 ABR 33/15) und vom 25. Januar 2017 (10 ABR 43/15) allgemein von der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung ausgegangen worden ist.
62Die echte Rückwirkung ist auch deswegen zulässig, weil sich der Gesetzgeber auf überragende Belange des Gemeinwohls berufen kann. Die im Tatbestand wiedergegebene Stellungnahme des Deutschen Bäckerhandwerkes e. V., die insoweit inhaltlich mit den Ausführungen der Gewerkschaft NGG übereinstimmt, lässt erkennen, welche überragende Bedeutung das Förderungswerk für den Fortbestand des Bäckerhandwerkes in einem sich verschärfenden Wettbewerb hat. Es ist für die Kammer unmittelbar einsichtig, dass das Bäckerhandwerk seinen Fortbestand nur dann als gesichert ansieht, wenn es Qualitätsprodukte anbietet, welche die billigere Konkurrenz nicht im Sortiment hat. Qualitätsprodukte kann das Bäckerhandwerk nur dann anbieten, wenn es über qualifiziertes Personal verfügt. Hierzu leistet das Förderungswerk nach seiner Satzung einen erheblichen und wichtigen Beitrag.
63Demgegenüber ist zu bedenken, dass die mit der echten Rückwirkung verbundene Belastung des einzelnen Arbeitgebers die Bagatellgrenze nicht überschreitet. Konkret wird der Beklagte mit der rückwirkend für das Jahr 2015 begründeten Zahlungsverpflichtung in Höhe von 45,65 €, die 1,1 Promille der Lohnsumme des Vorjahres seines Unternehmens beträgt, nicht erheblich belastet.
64Schließlich ergibt sich die Zulässigkeit der Rückwirkung auch daraus, dass mit dem Gesetz eine für das Bäckerhandwerk eingetretene unklare und verworrene Rechtslage geklärt worden ist. Es bestand ein Zustand allgemeiner und erheblicher Rechtsunsicherheit, sodass für eine Vielzahl Betroffener Unklarheit darüber herrschte, was rechtens war. Für das Bäckerhandwerk ist zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidungen BAG des vom 21. September 2016 (10 ABR 33/15) und vom 25. Januar 2017 (10 ABR 43/15) zu einer anderen Branche ergangen sind. Es mag zwar viel dafür sprechen, dass die vom BAG entwickelten Grundsätze auch zu der Annahme der Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge für das Bäckerhandwerk führen würden. Allerdings ist diese Frage nicht abschließend gerichtlich geklärt.
65bb) Das SoKaSiG II verletzt den Beklagten nicht in weiteren Grundrechten. Die Kammer folgt auch insoweit den Gründen der angefochtenen Entscheidung und sieht insoweit gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG von der Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
662. Der Zinsanspruch beruht auf § 288 BGB.
67III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 97 Abs. 1 ZPO.
68IV. Die Kammer hat die Revision gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.