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Einzelfallentscheidung zur Verhältnismäßigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung während einer begonnenen stufenweisen Wiedereingliederung (hier verneint) sowie zur Notwendigkeit einer erneuten Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements / bEM-Verfahrens (hier aufgrund wesentlicher zwischenzeitlicher Änderungen bejaht)
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27.01.2022 nicht beendet wird.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.758,79 EUR festgesetzt.
4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen fristgerechten krankheitsbedingten Kündigung.
3Die Klägerin ist bei der Beklagten, einem Unternehmen mit regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, seit dem 01.11.2015 als Lagermitarbeiterin beschäftigt, zuletzt mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von 2.252,93 EUR.
4In den Jahren 2019 bis 2022 war die Klägerin wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2019 fehlte sie an insgesamt 130 Arbeitstagen (davon 69 Tage mit Entgeltfortzahlung), im Jahr 2020 an insgesamt 60 Arbeitstagen (davon 38 Tage mit Entgeltfortzahlung), im Jahr 2021 an 164 Arbeitstagen (davon 56 Tage mit Entgeltfortzahlung) und im Jahr 2022 an 21 Arbeitstagen (sämtliche ohne Entgeltfortzahlung). Die letzte Arbeitsunfähigkeit begann am 06.07.2021 und dauerte bis Februar 2022 an. Wegen der auf die einzelnen Monate entfallenden Krankheitstage wird auf die Auflistung in der Anlage B1 zum Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 06.05.2022 (Bl. 95 d.A.) Bezug genommen.
5In den Jahren 2019 und 2020 wurden betriebliche Eingliederungsmanagemente (bEM) durchgeführt, welche am 11.10.2019 und 03.06.2020 abgeschlossen wurden. Ein weiteres bEM wurde der Klägerin am 25.08.2021 angeboten, das aufgrund der zu diesem Zeitpunkt bestehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht durchgeführt werden konnte.
6Am 04.01.2022 stimmte die Beklagte der Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben über einen Zeitraum von vier Wochen zu, die die Klägerin am 10.01.2022 begann.
7Mit Schreiben vom 11.01.2022 (Bl. 96 – 100 d.A.) hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zur beabsichtigten krankheitsbedingten Kündigung der Klägerin an. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung mit Schreiben vom 18.01.2022 (Bl. 101 – 103 d.A.). Auf beide Schreiben wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen. Im Anschluss kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27.01.2022, welches der Klägerin am selben Tag zuging, ordentlich fristgerecht zum 31.03.2022. In Bezug auf die Erkrankungen im Jahre 2021 wurde der Klägerin nunmehr ein weiteres bEM angeboten.
8Gegen die Wirksamkeit dieser Kündigung wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage, die der Beklagten am 11.02.2022 zugestellt worden ist.
9Die Klägerin ist der Ansicht, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt, insbesondere unverhältnismäßig. Die Krankheitszeiten in den Jahren 2019 bis 2022 seien weit überwiegend auf erlittene Freizeitunfälle zurückzuführen, deren unfallbedingte Erkrankungen vollständig ausgeheilt seien, sodass eine negative Gesundheitsprognose nicht gegeben sei. Hinsichtlich der Einzelheiten der behaupteten Krankheitsursachen wird auf die Ausführungen der Klägervertreterin im Schriftsatz vom 02.06.2022, S. 1, 2 (Bl. 140, 142 d.A.) Bezug genommen. Im Übrigen bestreitet die Klägerin, dass ihre krankheitsbedingten Abwesenheitszeiten für die Beklagte eine betriebliche Beeinträchtigung dargestellt hätten.
10Soweit die Klägerin ursprünglich einen allgemeinen Feststellungsantrag sowie hilfsweise einen Weiterbeschäftigungsantrag gestellt hat, hat sie diese Anträge zurückgenommen.
11Die Klägerin beantragt zuletzt,
12festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27.01.2022 nicht beendet wird.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie ist der Ansicht die Kündigung sei wirksam. Aus den gravierenden Krankheitszeiten seit Beginn des Jahres 2019 ergebe sich eine negative Gesundheitsprognose, sodass sie befürchten müsse, dass die Klägerin auch in Zukunft häufiger krankheitsbedingt ausfallen und erhebliche Entgeltfortzahlungskosten verursachen werde. Ihre betrieblichen Interessen seien zum einen durch die hohe finanzielle Belastung erheblich beeinträchtigt. Zum anderen könnten die Fehlzeiten nicht durch Leiharbeitnehmer ausgeglichen werden und es bestehe eine Arbeitsüberlastung der Kolleginnen und Kollegen. Die Kündigung sei auch verhältnismäßig, eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihr nicht zumutbar.
16Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen Bezug genommen.
17E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
18Die zulässige Klage ist begründet.
19I.
20Die Kündigung der Beklagten vom 27.01.2022 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam. Sie ist sozial ungerechtfertigt, da sie nicht gemäß § 1 Abs. 2 KSchG durch Gründe in der Person der Klägerin bedingt ist.
211. Die Kündigung ist am Maßstab des Kündigungsschutzgesetzes zu prüfen, da das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien länger als sechs Monate bestanden hat (§ 1 Abs. 1 KSchG) und die Beklagte regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG).
22Die Kündigung gilt nicht gemäß §§ 7, 4 S.1 KSchG als wirksam. Die Klägerin hat die Klage mit der Zustellung an die Beklagte am 11.02.2022 rechtzeitig innerhalb von drei Wochen ab Zugang der Kündigung am 27.01.2022 erhoben.
232. Die Kündigung ist nicht aus krankheitsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Denn sie ist zum maßgeblichen Zeitpunkt ihres Zugangs jedenfalls unverhältnismäßig.
24a. Bei häufigen (Kurz-)Erkrankungen ist, damit sie eine Kündigung sozial rechtfertigen können, zunächst eine negative Gesundheitsprognose erforderlich. Es müssen im Kündigungszeitpunkt objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen – erste Stufe. Die prognostizierten Fehlzeiten müssen außerdem zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen, was als Teil des Kündigungsgrundes – zweite Stufe –festzustellen ist. Diese Beeinträchtigungen können sowohl in Betriebsablaufstörungen als auch in zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten liegen, sofern die Zahlungen einen Umfang von sechs Wochen übersteigen. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung – dritte Stufe – ist schließlich zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber gleichwohl hingenommen werden müssen (BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 16, juris). Diese dreistufige Prüfung ist ebenso bei einer Kündigung wegen einer Langzeiterkrankung vorzunehmen (vgl. etwa BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 – Rn. 13, juris).
25b. Treten während der letzten Jahre jährlich mehrere (Kurz-)Erkrankungen auf, spricht dies für eine entsprechende künftige Entwicklung des Krankheitsbildes, es sei denn, die Krankheiten sind ausgeheilt (BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 –Rn. 17, juris). Hier ist der Beklagten zwar grundsätzlich beizupflichten, dass den in den vergangenen drei Jahren aufgetretenen ganz erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin durchaus eine Indizwirkung für einen entsprechenden zukünftigen Verlauf beizumessen sein kann. Ob die Krankheiten entsprechend der Darlegungen der Klägerin ausgeheilt sind und tatsächlich eine negative Gesundheitsprognose besteht, kann vorliegend jedoch dahinstehen.
26Denn jedenfalls die auf der dritten Stufe vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Klägerin aus. Im Zeitpunkt des Zugangs der hier streitgegenständlichen Kündigung am 27.01.2022 war es der Beklagten nicht unzumutbar, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fortzusetzen. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist vorliegend nicht „ultima ratio“ und deshalb unverhältnismäßig.
27aa. Eine auf Gründe in der Person des Arbeitnehmers gestützte Kündigung ist unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern.
28Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gemäß § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die Durchführung eines bEM ist zwar nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe eines bEM können mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden (BAG, Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 12 f., juris).
29bb. In Anwendung dieser Grundsätze ist die Kündigung aus Sicht der Kammer im Zeitpunkt ihres Zugangs am 27.01.2022 als maßgeblichem Beurteilungszeitpunkt unverhältnismäßig.
30Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Klägerin zuletzt nicht mehr häufig kurzzeitig erkrankt war, sondern vielmehr seit Juli 2021 durchgängig seit über einem halben Jahr fehlte, als die Beklagte Ende Januar 2022 die Kündigung aussprach. Hier drängt sich die Frage auf, ob nunmehr im Vergleich zu den vorherigen Jahren andere Krankheitsursachen vorliegen oder ob die vorherigen Krankheitsursachen auch den Grund für diese lange krankheitsbedingte Abwesenheit bilden. Jedenfalls befand sich die Klägerin zur Überwindung dieser zuletzt bestehenden Arbeitsunfähigkeit seit dem 10.01.2022 in einer vierwöchigen stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Diese Maßnahme sollte die in diesem Zeitpunkt bestehende Vertragsstörung beseitigen und zur vollzeitigen Rückkehr der Klägerin in das Arbeitsverhältnis führen. In dieser Phase hätte es der Beklagten nach Auffassung der Kammer oblegen, zunächst abzuwarten, ob diese gerade laufende Maßnahme zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit erfolgreich endet oder nicht. Mit dem erfolgreichen Abschluss der Wiedereingliederung wäre die aktuelle Vertragsstörung durch die langandauernde Arbeitsunfähigkeit auch ohne den Ausspruch der Kündigung überwunden gewesen. Der Ausspruch der Kündigung noch vor Ende der Wiedereingliederung war hierfür nicht erforderlich und unverhältnismäßig.
31Aber auch in Bezug auf die vorherigen und von der Beklagten nachvollziehbar angeführten häufigen Kurzzeiterkrankungen der Klägerin ist die Kündigung in diesem Zeitpunkt unverhältnismäßig. Denn auch diesbezüglich ist unklar, ob nach der Überwindung der langandauernden Arbeitsunfähigkeit nunmehr anderweitige Möglichkeiten bestanden hätten, auch weitere zukünftige Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin zu vermeiden. Die Beklagte wäre verpflichtet gewesen, der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung erneut ein bEM anzubieten. Offensichtlich hat die Beklagte diese Notwendigkeit auch erkannt, da sie der Klägerin nach eigenem Vortrag nunmehr ein weiteres bEM in Bezug auf die Erkrankungen im Jahr 2021 angeboten hat. Ihrer in Bezug auf die hier streitgegenständliche Kündigung gesteigerten Darlegungs- und Beweislast dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten, ist die Beklagte nicht nachgekommen.
32(1.) Der Arbeitgeber hat gemäß § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX grundsätzlich ein neuerliches bEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.
33Dies ergeben neben dem Wortlaut jedenfalls Sinn und Zweck des bEM. Ziel des bEM ist es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, eine bestehende Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu fördern. Der Handlungsbedarf für eine Sicherung des Arbeitsverhältnisses entsteht bereits mit Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen, die sich auf nicht mehr als ein Jahr verteilen. Das ist die kritische Schwelle, die unter weiteren Voraussetzungen zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung führen kann. Um eine Sicherung des Arbeitsverhältnisses durch eine verstärkte Gesundheitsprävention zu erreichen, mit der weiteren Arbeitsunfähigkeitszeiten nach Möglichkeit vorgebeugt werden kann, ist es geboten, dass der Arbeitgeber unverzüglich tätig wird, sobald diese Schwelle überschritten ist. Die Präventionswirkung lässt sich nicht in gleichem Maße erreichen, wenn trotz bereits eingetretener Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen zunächst ein Mindestbetrachtungszeitraum von einem Jahr abgewartet werden könnte. Ein weiteres Zuwarten änderte nichts an der Bestandsgefährdung durch die im Jahreszeitraum erneut aufgetretenen Fehlzeiten, es drohten vielmehr lediglich neue Zeiten von Arbeitsunfähigkeit hinzuzukommen.
34Dem Sinn und Zweck von § 167 Abs. 2 SGB IX widerspräche es demgemäß ebenso, in das Gesetz ein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ von einem Jahr eines bereits durchgeführten bEM hineinzulesen. Erkrankt der Arbeitnehmer nach Abschluss eines bEM erneut innerhalb eines Jahres für mehr als sechs Wochen, ist vielmehr grundsätzlich erneut ein Bedürfnis für die Durchführung eines bEM gegeben. Im vorhergegangenen bEM können nur Erkrankungen berücksichtigt worden sein, die für die bis zu seinem Abschluss aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten ursächlich waren, ebenso wie nur die bis dahin maßgeblichen betrieblichen Abläufe und Verhältnisse. Sowohl die Krankheitsursachen als auch die betrieblichen Umstände können sich danach geändert haben. Dies gilt gleichermaßen für etwaige einschlägige Heilverfahren. Ob das der Fall ist und ob sich daraus ein neuer Ansatz für Maßnahmen zur Vorbeugung vor weiteren Zeiten von Arbeitsunfähigkeit ergibt, kann grundsätzlich nur in einem neuerlichen bEM geklärt werden. In diesem wäre zunächst festzustellen, ob maßgebliche Änderungen in den Krankheitsursachen, den möglichen Heilverfahren oder in den betrieblichen Umständen gegenüber dem zuvor durchgeführten bEM eingetreten sind, die einen neuen Präventionsansatz möglich erscheinen lassen.
35Ein weiteres bEM kann nur dann erforderlich werden, wenn ein vorheriges bereits abgeschlossen war. Ein bEM ist jedenfalls dann abgeschlossen, wenn allein der Arbeitnehmer seine Zustimmung für die weitere Durchführung nicht erteilt. Deren Vorliegen ist nach § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX Voraussetzung für den Klärungsprozess (vgl. BAG, Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 18 ff., juris).
36(2). Nach diesen Erwägungen wäre die Beklagte auch in der hier maßgeblichen Situation Ende Januar 2022 verpflichtet gewesen, der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung erneut die Durchführung eines bEM anzubieten.
37Das zuletzt durchgeführte bEM wurde am 03.06.2020 abgeschlossen und lag rund 20 Monate zurück. Hiernach war die Klägerin wiederholt kurzzeitig und zuletzt mehr als sieben Monate arbeitsunfähig erkrankt. Aber auch das Angebot vom 25.08.2021 genügt nach Auffassung der Kammer nicht. Entgegen der Ausführungen des BAG im zitierten Urteil vom 18.11.2021 war die Klägerin zwar im Anschluss nicht „erneut“ sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt, sondern sie blieb „weiterhin“ länger als sechs Wochen erkrankt. Jedoch ist hier zu berücksichtigen, dass dieses bEM wegen der in diesem Zeitpunkt bestehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht durchgeführt werden konnte. Mit der Durchführung der vorherigen Verfahren war die Klägerin unstreitig einverstanden. Am 11.01.2022, dem Zeitpunkt, als die Beklagte das Mitbestimmungsverfahren beim Betriebsrat einleitete, befand sich die Klägerin schon in der stufenweisen Wiedereingliederung. Die Beklagte wusste, dass diese durchgeführt werden sollte und die Klägerin mithin eine übliche Maßnahme zur Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ergriffen hatte. Aus dieser geht zugleich hervor, dass ärztlicherseits eine positive Prognose hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit der Klägerin besteht – anderenfalls wäre das Verfahren zu diesem Zeitpunkt nicht begonnen worden. Damit lag aber auf der Hand, dass sich die aktuellen Umstände seit dem letzten Angebot eines bEM im August 2021 zeitnah ändern könnten, indem die Klägerin ihre im August bestehende Arbeitsunfähigkeit überwindet. Zugleich war nach wie vor unklar, ob die letzte siebenmonatige Arbeitsunfähigkeit möglicherweise dieselben Ursachen hatte wie die vorherigen kurzzeitigen Erkrankungen und ob diese Ursachen demnach ausgeheilt sind – was die Klägerin ihrerseits behauptet – oder ob es weitere Ursachen gibt, für die dann anderweitige Maßnahmen getroffen werden könnten, um zukünftige Fehlzeiten vermeiden.
38Nach der Konzeption des Gesetzes lässt das bEM den Beteiligten bei der Prüfung, mit welchen Maßnahmen, Leistungen oder Hilfen eine künftige Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers möglichst vermieden werden und das Arbeitsverhältnis erhalten bleiben kann, jeden denkbaren Spielraum. Es soll erreicht werden, dass keine vernünftigerweise in Betracht kommende, zielführende Möglichkeit ausgeschlossen wird. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1783 S. 16) soll durch eine derartige Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft gesichert werden. Zugleich sollen auf diese Weise medizinzische Rehabilitationsbedarfe frühzeitig, ggf. präventiv erkannt und auf die beruflichen Anforderungen abgestimmt werden. Als Hilfen zur Beseitigung und möglichst längerfristigen Überwindung der Arbeitsunfähigkeit kommen dabei neben Maßnahmen zur kurativen Behandlung insbesondere Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Sinne von § 42 SGB IX in Betracht (vgl. BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 48, juris).
39Dass das hiernach erforderliche bEM erfolglos geblieben wäre, mithin keine Möglichkeit bestand, die Kündigung durch angemessene mildere Maßnahmen wie etwa die Durchführung einer Reha-Maßnahme oder auch die leidensgerechte Umgestaltung des Arbeitsplatzes zu vermeiden, hat die Beklagte nicht dargelegt.
40II.
41Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 92 Abs. 2 Nr. 1, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Soweit die Beklagte unterlag, hat sie die Kosten des Rechts-streits zu tragen. Die von der Klägerin erklärte Rücknahme des allgemeinen Feststellungsantrages führt nicht zu einer Kostentragungspflicht, da die Rücknahme nur geringfügig ist und keine höheren Kosten verursacht hat. Gleiches gilt für die Rücknahme des ohnehin als Hilfsantrag gestellten Weiterbeschäftigungsantrages.
42Den im Urteil gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG auszuweisenden Streitwert hat die Kammer auf 6.758,79 EUR festgesetzt. Grundlage sind § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG, §§ 495, 3 ZPO. Berücksichtigt wurden drei Bruttomonatsgehälter entsprechend § 42 Abs. 2 S. 1 GKG.
43Gründe im Sinne des § 64 Abs. 3 ArbGG für die gesonderte Zulassung der Berufung liegen nicht vor.