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§ 9 Nr. 1 Satz 1 des Manteltarifvertrags für das Metallbauerhandwerk, Feinwerkmechanikerhandwerk, Metall- und Glockengießerhandwerk NRW ist dahingehend auszulegen, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubsgeld auch für Urlaubstage haben, die ihnen gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX als Zusatzurlaub zustehen.
1.Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 24.11.2023 - 1 Ca 336/23 - abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 80,72 € brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.01.2023 zu zahlen.
2.Die Kosten erster Instanz tragen der Kläger zu 79 % und die Beklagte zu 21 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
3.Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Die Parteien streiten um ein tarifvertragliches Urlaubsgeld für Urlaubstage, die die Beklagte dem Kläger als Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen gewährt hat.
3Der mit einem Grad der Behinderung von 60 schwerbehinderte Kläger ist seit dem 28.06.1983 als Maschinenarbeiter bei der Beklagten tätig, zuletzt mit einem Stundenlohn iHv. 15,99 € brutto.
4Der Arbeitsvertrag vom 28.06.1983 sieht vor, dass für Urlaubsregelungen die Tarifverträge des Metallhandwerks gelten (vgl. Anlage B1 zum Schriftsatz der Beklagten vom 01.06.2023). Im Manteltarifvertrag für das Metallbauerhandwerk, Feinwerkmechanikerhandwerk, Metall- und Glockengießerhandwerk NRW zwischen dem Fachverband Metall Nordrhein-Westfalen und der IG Metall vom 13.10.2017 (MTV) heißt es auszugsweise:
5"§ 2
6Arbeitszeit
71.Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 37 Stunden; bei einer 5-Tage-Woche beträgt die tägliche Arbeitszeit 7,4 Stunden.
815.Für Schwerbehinderte gelten die gesetzlichen Bestimmungen.
9§ 5
10Arbeitsausfall, Arbeitsverhinderung, Arbeitsunfähigkeit
1112
7.In den nachstehenden Fällen Ist dem Arbeitnehmer Freizeit ohne Anrechnung auf den Urlaub unter Fortzahlung des regelmäßigen Arbeitsverdienstes - in Abdingung des § 616 BGB - zu gewähren, und zwar:
13a)bei eigener Eheschließung1 Arbeitstage
14b)bei der Niederkunft der Ehefrau2 Arbeitstage
15c)beim Tode von Eltern, Schwiegereltern, Kindern und Geschwistern1 Arbeitstag
16d)bei Eheschließung von Kindern1 Arbeitstag
17e)für die notwendige ausfallende Arbeitszeit bei Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten, denen sich der Arbeitnehmer kraft Gesetzes während der Arbeitszeit nicht entziehen kann.
18f)Mitglieder der gewerkschaftlichen Tarifkommissionen sind unter Berücksichtigung der betrieblichen Belange für deren Sitzungen und Verhandlungen ohne Anspruch auf Bezahlung der ausfallenden Arbeitszeit freizustellen.
19§ 6
20Grundsätze der Urlaubsgewährung
2122
5.Die Aufstellung allgemeiner Urlaubsgrundsätze (wie z.B. Betriebsurlaub, individueller Urlaub) soll durch Betriebsvereinbarung bis spätestens vier Wochen vor Beginn des Urlaubsjahres erfolgen .
23§ 7
24Allgemeine Urlaubsbestimmungen
2526
7. Der Mindesturlaub gem. Bundesurlaubsgesetz darf jedoch nicht unterschritten werden.
27§ 8
28Urlaubsdauer
291.Der Urlaub beträgt für alle Arbeitnehmer 30 Arbeitstage.
302.Der Zusatzurlaub für Schwerbehinderte regelt sich nach den gesetzlichen Bestimmungen.
313.Als teilzeitbeschäftigt eingestellte Arbeitnehmer, die weniger als die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit in der Woche arbeiten, erhalten anteiligen Urlaub entsprechend dem Verhältnis der geleisteten Wochenarbeitszeit zu der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit.
324.Arbeitstage sind alle Kalendertage, an denen der Arbeitnehmer in regelmäßiger Arbeitszeit zu arbeiten hat. Auch wenn die regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als fünf Tage in der Woche - ggf. auch im Durchschnitt mehrerer Wochen - verteilt ist, gelten fünf Tage je Woche als Arbeitstage.
33§ 9
34Urlaubsvergütung
351.Bei der Berechnung der Urlaubsvergütung sind zugrunde zu legen:
36100 % des Arbeitsentgeltes plus 50 % zusätzliches Urlaubsgeld, ausgehend von der tariflichen Arbeitszeit von 7,4 Stunden pro Tag.
37Zusätzliches Urlaubsgeld wird nicht für Sonderurlaub gewährt.
382.Dem Arbeitnehmer steht ein zusätzliches Urlaubsgeld erst dann zu, wenn er zum Zeitpunkt des Urlaubsantritts mindestens 6 Monate im Betrieb beschäftigt ist.
394.Die Urlaubsvergütung ist auf Wunsch des Arbeitnehmers vor Antritt des Urlaubs zu zahlen, sofern der Urlaub mindestens zwei Wochen umfasst."
40Mit Schreiben vom 03.11.2022 verlangte der Kläger ein zusätzliches Urlaubsgeld iHv. 221,33 € brutto für fünf Tage Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX (vgl. Anlage K1 zur Klageschrift vom 31.11.2022). Die Beklagte gewährte dem Kläger im Dezember 2022 fünf Tage Zusatzurlaub.
41Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass ihm Urlaubsgeld für den Zusatzurlaub nach § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV zustehe. Mit "Sonderurlaub" in § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV sei der Zusatzurlaub des § 208 SGB IX nicht gemeint. § 208 SGB IX spreche von "zusätzlichem Urlaub" und nicht von Sonderurlaub. Auch der MTV benutze in § 8 Nr. 2 im Hinblick auf schwerbehinderte Menschen den Begriff "Zusatzurlaub" und nicht "Sonderurlaub". Für fünf Urlaubstage sei noch ein Betrag iHv. 80,72 € brutto offen. Daneben stünden ihm 304,54 € brutto wegen einer Gehaltserhöhung zu.
42Der Kläger hat beantragt,
43die Beklagte zu verurteilen, an ihn 385,26 € brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 85,96 € seit dem 01.10.2022, aus 42,21 € seit dem 02.11.2022, aus 65,75 € seit dem 01.12.2022 und aus 191,34 € seit dem 02.01.2023 zu zahlen.
44Die Beklagte hat beantragt,
45die Klage abzuweisen.
46Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass sich der Urlaubsgeldanspruch gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV nur auf den tariflichen Urlaubsanspruch beziehe. Für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen würden gemäß § 8 Nr. 2 MTV lediglich die gesetzlichen Bestimmungen gelten, die kein zusätzliches Urlaubsgeld vorsehen würden.
47Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Sie sei auch hinsichtlich des Urlaubsgelds unbegründet. Der MTV sehe ein Urlaubsgeld für den Zusatzurlaub nicht vor. Die Tarifvertragsparteien hätten zwischen unterschiedlichen Formen der Arbeitsbefreiung unterschieden, wenn sie in § 9 Nr. 1 MTV den Sonderurlaub, in § 5 Nr. 7 MTV diverse Freistellungen und in § 8 MTV den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte genannt hätten. Das lasse eine entsprechende Differenzierung bei der Regelung der Urlaubsvergütung erwarten. Wenn die Tarifvertragsparteien dort nur auf den "Urlaub" rekurrierten, spreche das dafür, dass sie ausschließlich den tariflichen Regelurlaub erfassen wollten. Mit der Ausnahme für den Sonderurlaub in § 9 Nr. 1 MTV brächten sie diese Beschränkung zum Ausdruck. Schließlich würden die Tarifvertragsparteien stets auf die gesetzlichen Bestimmungen verweisen, wenn sie den Zusatzurlaub in § 2 Nr. 15 MTV und § 8 Nr. 2 MTV in den Blick nähmen, und damit erkennen lassen, dass nur die gesetzlichen Regelungen maßgeblich sein sollten.
48Gegen das ihm am 01.12.2023 zugestellte Urteil hat der Kläger am 02.01.2024 Berufung eingelegt und diese am 30.01.2024 begründet.
49Er trägt vor, dass der MTV dahingehend auszulegen sei, dass die Tarifvertragsparteien den Anspruch auf das Urlaubsgeld auch auf den Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX erstreckt hätten. Sie hätten in § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV lediglich zwischen Sonderurlaub und Urlaub differenziert. Als Sonderurlaub sei nur freiwillig gewährter Urlaub zu verstehen, der uU unbezahlt sei. Ansonsten hätten sie in § 9 Nr. 1 MTV das Urlaubsgeld auf den tariflichen Urlaub beschränken müssen. Die Verweise auf die gesetzlichen Bestimmungen in § 2 Nr. 15 MTV und § 8 Nr. 2 MTV seien lediglich deklaratorisch und nicht dahingehend zu verstehen, dass die Tarifvertragsparteien allein die gesetzlichen Regelungen anwenden wollen. Für fünf Tage Zusatzurlaub habe er einen Anspruch auf insgesamt 295,82 € brutto als Urlaubsgeld. Davon mache er mit der Klage einen Teilbetrag iHv. 80,72 € geltend.
50Der Kläger beantragt nach einer Änderung des Zinsdatums vom 02.01.2023 auf den 03.01.2023 zuletzt,
51das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 24.11.2023 - 1 Ca 336/23 - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 80,72 € brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.01.2023 zu zahlen.
52Die Beklagte beantragt,
53die Berufung zurückzuweisen.
54Sie trägt vor, dass die Tarifvertragsparteien bewusst unterschiedliche Urlaubsbegriffe wie Urlaub, Zusatzurlaub, Betriebsurlaub und Sonderurlaub verwendet hätten. Urlaub bezeichne den Erholungsurlaub nach dem BUrlG. Mit dem Sonderurlaub, auf den gemäß § 616 BGB Anspruch bestehe, könnten die Beschäftigten besondere persönliche Anlässe begehen oder einschneidende persönliche Ereignisse bewältigen. Mit der Ausnahme für den Sonderurlaub in § 9 Nr. 1 MTV hätten die Tarifvertragsparteien deutlich gemacht, dass nur der tarifliche Urlaub erfasst sein solle. Der in § 9 MTV nicht genannte Zusatzurlaub sei nicht Gegenstand des § 9 Nr. 1 MTV. Zum Zusatzurlaub hätten die Tarifvertragsparteien auf § 208 SGB IX verwiesen. Aus dem Verweis auf die gesetzlichen Vorschriften beim Zusatzurlaub ergebe sich, dass sie auf ihn allein die gesetzlichen Bestimmungen anwenden wollten.
55Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle in beiden Instanzen Bezug genommen.
56Entscheidungsgründe:
57Die zulässige Berufung ist begründet, weil der Zahlungsantrag des Klägers zulässig und begründet ist.
58A. Der Zahlungsantrag ist zulässig und insbesondere als Teilklage hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Eine Teilklage begegnet im Hinblick auf das Bestimmtheitserfordernis keinen Bedenken, wenn der Kläger genau angegeben hat, in welcher Höhe er für welche Zeit eine Zahlung begehrt (BAG 21.03.2017 - 3 AZR 464/15 - Rn. 19; 20.09.2016 - 3 AZR 273/15 - Rn. 14). Der Kläger hat erklärt, dass er von seinem Urlaubsgeld für die fünf im Dezember 2022 gewährten Zusatzurlaubstage iHv. 295,82 € brutto mit der Klage 80,72 € brutto geltend macht.
59B. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung iHv. 80,72 € als Urlaubsgeld aus seinem Arbeitsvertrag iVm. § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV.
60I. Die Parteien haben in dem Arbeitsvertrag hinsichtlich der Urlaubsregelungen eine dynamische Verweisung auf die Tarifverträge des Metallhandwerks vereinbart und damit auch den MTV in Bezug genommen (vgl. zur Auslegung einer Bezugnahmeklausel als zeitdynamisch BAG 27.04.2022 - 4 AZR 289/21 - Rn. 22; 30.08.2017 - 4 AZR 443/15 - Rn. 20).
61II. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung eines Urlaubsgelds für die Zusatzurlaubstage, die die Beklagte ihm im Dezember 2022 gewährt hat. Gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV besteht ein Anspruch auf Urlaubsgeld auch für Zusatzurlaubstage.
621. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung, ergänzend herangezogen werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 15.11.2023 - 10 AZR 163/23 - Rn. 41; 15.11.2023 - 10 AZR 473/21 - Rn. 43).
632. Die Tarifvertragsparteien haben bestimmt, dass das Urlaubsgeld bei der Berechnung der "Urlaubsvergütung" zu berücksichtigen ist. Der Wortlaut, der Zusammenhang der Regelung und ihr Sinn und Zweck sprechen dafür, dass das Urlaubsgeld auch für Zusatzurlaubstage zu gewähren ist.
64a) Der Wortlaut bezieht den Zusatzurlaub ein.
65aa) Die Tarifvertragsparteien haben in § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV den Begriff der "Urlaubsvergütung" verwendet. Mit dem Bestimmungswort Urlaub in diesem Kompositum haben sie den Oberbegriff für alle Formen des Urlaubs verwendet. Urlaub ist definiert als "die einem Arbeitnehmer, Dienstverpflichteten, Beamten, Richter oder Soldaten für bestimmte Zeit gewährte Befreiung von der Arbeits-/Dienstpflicht" (vgl. Weber/Kallos Rechtswörterbuch 31. Aufl. Stichwort Urlaub; vgl. auch BAG 10.03.2020 - 9 AZR 109/19 - Rn. 11). Der gesetzliche Urlaub gemäß § 1 BUrlG, der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen gemäß § 208 SGB IX, der tarifliche Urlaub gemäß § 8 Nr. 1 Satz 1 MTV und der in § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV genannte Sonderurlaub sind Unterbegriffe zu dem Wort Urlaub, weil sie bestimmte Arten der für bestimmte Zeit gewährten Befreiung von der Arbeitspflicht bezeichnen. Den Tarifvertragsparteien waren diese Unterbegriffe bekannt. In § 8 Nr. 2 MTV verwenden sie das Wort Zusatzurlaub und in § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV den Begriff Sonderurlaub. Sie benennen in § 7 Nr. 7 Satz 2 MTV den gesetzlichen Mindesturlaub und benutzen in § 6 Nr. 5 Satz 1 MTV außerdem noch das Wort Betriebsurlaub.
66bb) Hätten die Tarifvertragsparteien das Urlaubsgeld auf den tariflichen Urlaubsanspruch begrenzen wollen, hätten sie in § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV statt "Urlaubsvergütung" die Wörter "Vergütung des tariflichen Urlaubs" benutzen können. Von der Beschränkung auf diese Form des Urlaubs haben sie abgesehen.
67b) Aus der Ausnahmebestimmung in § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV für den Sonderurlaub ist abzuleiten, dass der Zusatzurlaub von § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV umfasst sein sollte. Indem die Tarifvertragsparteien nur den Sonderurlaub von der Zahlung eines Urlaubsgelds ausgenommen haben, haben sie zugleich deutlich gemacht, dass alle anderen Formen des Urlaubs gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV mit einem zusätzlichen Urlaubsgeld vergütet werden sollen.
68aa) Bei der Auslegung einer normativen Regelung in einem Tarifvertrag gilt der Grundsatz, dass eine Ausnahmeregelung eng auszulegen ist (BAG 16.02.2021 - 9 AZR 176/20 - Rn. 23; 06.09.2017 - 5 AZR 429/16 - Rn. 20). Durch eine erweiternde Auslegung einer Bestimmung, die wie § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV eine umfassende Regel für bestimmte, eng umgrenzte Fälle durchbricht, würde die Regelungsabsicht der Tarifvertragsparteien in das Gegenteil verkehrt (vgl. Larenz/Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft 3. Aufl. S. 176; Müller Juristische Methodik 6. Aufl. S. 210).
69bb) Sonderurlaub ist ein Urlaub aus besonderem Anlass. Er ist abzugrenzen von dem Erholungsurlaub, der ohne besonderen Anlass im Laufe des Kalenderjahrs besteht (vgl. Neumann/Fenski/Kühn/Neumann 12. Aufl. § 1 Rn. 35; NK-ArbR/Düwell 2. Aufl. BUrlG § 1 Rn. 53).
70cc) Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen ist kein Sonderurlaub iSv. § 9 Nr. 1 Satz 2 MTV. Er knüpft an den gesetzlichen Erholungsurlaub nach dem BUrlG an. Es besteht eine urlaubsrechtliche Akzessorietät. Der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen teilt grundsätzlich das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs (BAG 26.04.2022 - 9 AZR 367/21 - Rn. 14; vgl. BAG 28.03.2023 - 9 AZR 488/21 - Rn. 22). Er dient der Sicherung und dem Erhalt der Arbeitskraft schwerbehinderter Menschen. Ein besonderer Anlass, insbesondere eine im konkreten Fall gegebene Erholungsbedürftigkeit, ist nicht erforderlich (ErfK/Rolfs 24. Aufl. SGB IX § 208 Rn. 1; Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens 5. Aufl. SGB IX § 208 Rn. 1). Auch die Tarifvertragsparteien haben sein Bestehen in § 8 Nr. 2 MTV anders als die Freizeitgewährungen in § 5 Nr. 7 MTV nicht an einen bestimmten Anlass geknüpft. Zutreffend ist der Zusatzurlaub dementsprechend auch als "Erholungsurlaub" iSv. § 4 des Urlaubsabkommens für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie für die Tarifgebiete Südwürttemberg-Hohenzollern und Südbaden vom 01.04.1989 zu betrachten (BAG 14.03.2006 - 9 AZR 312/05 - Rn. 47; LAG Baden-Württemberg 09.06.2005 - 11 Sa 131/04 - zu 1 d der Gründe).
71c) Aus den Verweisen in § 2 Nr. 15 MTV und in § 8 Nr. 2 MTV ist nicht abzuleiten, dass die Tarifvertragsparteien den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nur nach den gesetzlichen Vorschriften vergüten wollten. In § 2 Nr. 15 MTV geht es allein um die Arbeitszeit. Das ergibt sich aus der Überschrift der Regelung und ihrem weiteren Gehalt. Besonderheiten bei der Arbeitszeit bestehen für schwerbehinderte Menschen etwa bei Mehrarbeit gemäß § 207 SGB IX, bei der Gestaltung der Arbeitszeit gemäß § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX und für den Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung gemäß § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX (vgl. MünchArbR/Zimmermann 5. Aufl. § 198 Rn. 67, 72 f., 76; Schaub ArbR-Hdb/Koch 20. Aufl. § 178 Rn. 53 f.). § 8 Nr. 2 MTV bestimmt allein die Urlaubsdauer, was wiederum aus der Überschrift und den weiteren Regelungen in Nr. 1 bis Nr. 4 hervorgeht. Gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen fünf zusätzliche Urlaubstage im Jahr (vgl. MünchArbR/Zimmermann 5. Aufl. § 198 Rn. 75; Schaub ArbR-Hdb/Koch 20. Aufl. § 178 Rn. 60). Die Urlaubsvergütung ist dagegen ausschließlich in § 9 MTV geregelt. Hier haben die Tarifvertragsparteien für den Zusatzurlaub nicht auf die gesetzlichen Regelungen verwiesen.
72d) Die Berücksichtigung der Urlaubstage, auf die ein schwerbehinderter Arbeitnehmer gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Anspruch hat, entspricht auch dem Sinn und Zweck des zusätzlichen Urlaubsgelds. Die Tarifvertragsparteien haben ihren Arbeitnehmern in § 9 Nr. 1 Satz 1 MTV einen Anspruch auf eine Geldleistung eingeräumt, deren Höhe 50 % des Urlaubsentgelts beträgt. Durch die Anknüpfung an das Urlaubsentgelt haben sie die Höhe des dem einzelnen Arbeitnehmer zustehenden zusätzlichen Urlaubsgelds unmittelbar proportional zum Umfang des Urlaubsentgelts ausgestaltet. Dieses Äquivalenzverhältnis wäre durchbrochen, stellte man bei der Berechnung lediglich das Urlaubsentgelt für den tariflichen, nicht aber für den auf der Vorschrift des § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX beruhenden Urlaub ein (vgl. BAG 10.03.2020 - 9 AZR 109/19 - Rn. 17).
73III. Der Kläger hat die weitere Voraussetzung des § 9 Nr. 2 MTV erfüllt. Er ist zum Zeitpunkt des Urlaubsantritts mindestens sechs Monate im Betrieb beschäftigt.
74IV. Für fünf Tage Zusatzurlaub im Dezember 2022 stehen ihm 295,82 € brutto zu, von denen er mit der Klage 80,72 € geltend macht. Bei einem Stundenlohn iHv. 15,99 €, einer Stundenzahl von 7,4 pro Urlaubstag und einem Urlaubsgeld von 50 % des Urlaubsentgelts ergibt sich pro Urlaubstag ein Betrag iHv. 59,16 €.
75V. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zinsen ab dem 03.01.2023 aus §§ 286 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB. Da der Zusatzurlaub im Dezember 2022 nicht mindestens zwei Wochen umfasste, war das Urlaubsgeld nicht gemäß § 9 Nr. 4 Satz 1 MTV vor dem Antritt des Urlaubs fällig, sondern mit der sonstigen Vergütung für Dezember zu zahlen. Diese war gemäß §§ 614 Satz 1, 193 BGB am 02.01.2023 fällig.
76C. Die Kosten erster Instanz tragen die Parteien nach ihrem wechselseitigen Obsiegen und Unterliegen gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
77D. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.
78RECHTSMITTELBELEHRUNG
79Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei
80REVISION
81eingelegt werden.
82Für die klagende Partei ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.
83Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim
84Bundesarbeitsgericht
85Hugo-Preuß-Platz 1
8699084 Erfurt
87Fax: 0361 2636-2000
88eingelegt werden.
89Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
90Für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse besteht ab dem 01.01.2022 gem. §§ 46g Satz 1, 72 Abs. 6 ArbGG grundsätzlich die Pflicht, die Revision ausschließlich als elektronisches Dokument einzureichen. Gleiches gilt für vertretungsberechtigte Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 46c Abs. 4 Nr. 2 ArbGG zur Verfügung steht.
91Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten eingelegt werden. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
921.Rechtsanwälte,
932.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
943.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
95In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
96Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
97Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden sich auf der Internetseite des Bundesarbeitsgerichts www.bundesarbeitsgericht.de.
98* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
99Dr. Burg | Drißner | Hirr |