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Auslegung der Protokollerklärung Nr. 1 (1) a) der Anlage 6 b. Besonderer Teil ambulanter und stationärer Pflege- und Betreuungsdienst des DRK-RTV "kranke in geriatrischen Abteilungen oder Stationen".
I.Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 15.12.2016 - 4 Ca 1318/16, abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
III.Die Revision wird zugelassen.
T A T B E S T A N D :
2Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung einer tariflichen Pflegezulage.
3Die Klägerin ist seit dem 01.10.2008 bei dem Beklagten, der ein Seniorenzentrum in P. betreibt, als examinierte Altenpflegerin zu einem monatlichen Bruttolohn in Höhe von zuletzt 2.110,34 € beschäftigt.
4Das Seniorenzentrum verfügt über 125 Langzeit- und 14 Kurzzeitpflegeplätze, die auf fünf Wohnbereiche verteilt sind. In den einzelnen Wohnbereichen sind zwischen 15 bis 27 Bewohner untergebracht zuzüglich der Kurzzeitpflegeplätze. Die Einrichtung verfolgt überwiegend den Zweck, ältere oder pflegebedürftige Menschen oder Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, ihnen Wohnraum zu überlassen sowie ihnen Betreuungsleistungen und umfassende Leistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung zur Verfügung zu stellen. In der Berufungsinstanz hat der Beklagte unstreitig gestellt, dass die Bewohner der Einrichtung insgesamt pflegebedürftig im Sinne der Pflegestufen 1 bis 3 sind und unter chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Gefäßerkrankungen, orthopädischen Verschleißerscheinungen und Inkontinenz leiden. Die chronischen Dauererkrankungen werden gemäß ärztlicher Anordnung durch Medikamentengabe, Injektionen, Infusionen, Blutzuckerkontrolle, Sauerstoffgaben, Verbandswechsel, Kontrakturen-Pneumonie, Dekubitus Profilaxe und Vorsorgen von PEG etc. behandelt, sofern dies bei den einzelnen Bewohnern relevant ist. Alle Bewohner sind in ärztlicher Behandlung, die allerdings nicht durch bei dem Beklagten angestellte Ärzte durchgeführt wird, sondern durch die jeweiligen Hausärzte der Bewohner. Der Beklagte verfügt über kein eigenes ärztliches Personal. Die Medikamente werden von den Pflegekräften bestellt und täglich nach Verordnung des Arztes verabreicht. Bei akuten Erkrankungen erfolgt eine ärztliche Versorgung außerhalb der Einrichtung des Beklagten.
5Die Klägerin wird als Pflegefachkraft im Nachtdienst eingesetzt und führt überwiegend die sogenannte "Grundpflege" durch. Sie wird wohnbereichsübergreifend eingesetzt und betreut pro Schicht etwa 45 Bewohner. Die Klägerin hat bezüglich der von ihr zu erbringenden Arbeitsleistung eine Liste über von ihr ausgeübte Tätigkeiten während einer Nachtschicht sowie eine anonymisierte Aufstellung von Erkrankungen der Bewohner zur Akte gereicht, wegen deren Inhalt im Einzelnen auf Bl. 26 bis 36 der Akte Bezug genommen wird.
6Auf das Arbeitsverhältnis findet sowohl aufgrund beiderseitiger Verbandszugehörigkeit als auch aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme unter anderem der zwischen der Bundestarifgemeinschaft des Deutschen Roten Kreuzes und ver.di abgeschlossene Reformtarifvertrag des Deutschen Roten Kreuzes (im Folgenden: DRK-RTV) Anwendung.
7Für die Vergütungsgruppe der Klägerin gilt die Protokollerklärung Nr. 1 der Anlage 6b "Besonderer Teil Ambulanter und stationärer Pflege- und Betreuungsdienst" des DRK-RTV, die lautet:
8"Nr. 1 (1) Pflegepersonen der Vergütungsgruppen K 1 bis K 7, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei
9a)an schweren Infektionskrankheiten erkrankten Patienten (z.B. Tuberkulose-Patienten), die wegen der Ansteckungsgefahr in besonderen Infektionsabteilungen oder Infektionsstationen untergebracht sind,
10b)Kranken in geschlossenen oder halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilungen oder Stationen,
11c)Kranken in geriatrischen Abteilungen oder Stationen,
12d)gelähmten oder an multipler Sklerose erkrankten Patienten,
13e)Patienten nach Transplantationen innerer Organe oder von Knochenmark,
14f)an AIDS (Vollbild) erkrankten Patienten,
15g)Patienten, bei denen Chemotherapien durchgeführt oder die mit Strahlen oder mit inkorporierten radioaktiven Stoffen behandelt werden,
16ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 60,00 €.
17"
18Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Klägerin nach der Protokollerklärung Nr. 1 (1) c) eine monatliche Zulage in Höhe von 60,00 € zusteht.
19Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe in der Zeit von Juli 2015 bis August 2016 Tätigkeiten nach der Protokollerklärung Nr. 1 (1) c) der Anlage 6b des DRK-RTV ausgeführt. Die tarifliche Bestimmung sei nicht nur auf Beschäftigte in geriatrischen Abteilungen und Stationen in Krankenhäusern anwendbar, sondern auch auf solche in Altenheimen. Ausnahmslos litten alle Bewohner in dem vom Beklagten betriebenen Seniorenwohnheim unter mehreren Erkrankungen chronischer Art, die durch die Hausärzte behandelt würden. Fast 90 % der Bewohner seien dementiell verändert und bedürften entsprechender Pflege und Beaufsichtigung. Die Allermeisten seien harn- und stuhlinkontinent, erhielten Medikamente zum Schlafen und wegen neurologischer Erkrankungen. Mehrere Bewohner nähmen Medikamente, die unter das Betäubungsmittelgesetz fielen. Die Bewohner müssten dementsprechend beobachtet werden. Einige seien dementiell derart verändert, dass sie eine starke Weglauftendenz hätten. Sie müssten häufig gesucht und wieder zu Bett gebracht werden. Ein substantiierter Vortrag zu den Krankheiten der Bewohner sei ihr, der Klägerin, wegen der ihr obliegenden Schweigepflicht und wegen des Persönlichkeitsrechts der Bewohner nicht möglich. Angesichts der Typisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen in der Tarifnorm wäre es zudem überzogen, ihr für jeden Monat die Darlegung aufzuerlegen, wie viele krankenpflegebedürftige Bewohner pro Schicht stationär aufgenommen gewesen und welche Pflegeminuten pro Schicht für diese Bewohner aufgewandt worden seien. Die Tarifnorm wäre bei derartigen Anforderungen nicht durchführbar.
20Die Klägerin hat beantragt,
21den Beklagten zu verurteilen, an sie 840,00 € brutto nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 60,00 € brutto seit dem 01.08.2015, seit dem 01.09.2015, seit dem 01.10.2015, seit dem 01.11.2015, seit dem 01.12.2015, seit dem 01.01.2016, seit dem 01.02.2016, seit dem 01.03.2016, seit dem 01.04.2016, seit dem 01.05.2016, seit dem 01.06.2016, seit dem 01.07.2016, seit dem 01.08.2016 sowie seit dem 01.09.2016 zu zahlen
22den Beklagten zu verurteilen, 80,00 € Schadenspauschale zu zahlen.
23Der Beklagte hat beantragt,
24die Klage abzuweisen.
25Er hat bestritten, dass die Voraussetzungen für die Zahlung der tariflichen Zulage von der Klägerin erfüllt worden seien. Die Klägerin habe nicht in einer geriatrischen Abteilung oder Station gearbeitet. Er - der Beklagte - betreibe eine solche Abteilung nicht. Nicht jedes Pflegeheim stelle automatisch eine geriatrische Abteilung oder Station dar. Abgesehen davon müsse neben der normalen Altenpflege zusätzlich eine Krankenpflege vorgenommen werden, um die als Erschwerniszulage ausgelegte Zulage gemäß der tariflichen Protokollerklärung zu erhalten. Nicht jede Betreuung von pflegebedürftigen Menschen stelle gleichzeitig eine Pflege von Kranken im Sinne der tariflichen Regelung dar. Es handele sich nicht um eine Zulage, die alle in der Altenpflege tätigen Mitarbeiter erhalten sollten. Die Tätigkeit an sich werde durch die Grundvergütung abgegolten und könne nicht herangezogen werden, um eine zusätzliche Erschwerniszulage zu begründen. Die jeweilige Pflegestufe sage nichts über die Krankenbedürftigkeit im Sinne der tariflichen Zulage aus. Eine eingeschränkte Alltagskompetenz stelle keine Krankheit dar. Der Vortrag der Klägerin sei bereits unschlüssig. Sie habe die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht dargelegt. Abgesehen davon beinhalte gerade die Tätigkeit in der Nachtschicht sehr viele Rundgänge und Kontrolle, was weder Grund- noch Behandlungspflege bedeute. Wäre die Auffassung der Klägerin richtig, gäbe es keine nicht zulagefähige Pflegetätigkeit in Altersheimen, weil jedes altersbedingte Grundleiden zur Krankenpflege führen würde. Eine solche Regelung sei augenscheinlich nicht gewollt gewesen.
26Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei in einer geriatrischen Station tätig und pflege überwiegend Kranke, so dass die Voraussetzungen für die Zahlung der Pflegezulage gegeben seien. Die Klägerin habe vorgetragen, dass "ausnahmslos" alle Bewohner an mehreren geriatrischen/chronischen Erkrankungen leiden würden. Den Vortrag der Klägerin habe der Beklagte nicht hinreichend bestritten. Der Beklagte hätte im Einzelnen zu den Heimbewohnern vortragen müssen. Der Klägerin stehe daher die der Höhe nach unstreitige Klageforderung ebenso wie ein Anspruch auf Zahlung einer Verzugsschadenspauschale gemäß § 288 Abs. 5 BGB in Höhe von mindestens 80,00 € zu.
27Gegen das ihm am 05.01.2017 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit einem am 24.01.2017 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 23.03.2017 mit einem am 23.03.2017 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.
28Mit der Berufung rügt der Beklagte unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrags, das Arbeitsgericht habe den Begriff der "geriatrischen Abteilung" verkannt. Das Arbeitsgericht habe ohne Auseinandersetzung mit den Anforderungen an geriatrische Rehabilitation eine geriatrische Station gesehen, die beim Seniorenheim nicht bestehe. Das Seniorenheim sei weder als geriatrische Einrichtung anerkannt noch würden dort Leistungen erbracht, die die Anforderungen an eine Rehabilitationseinrichtung erfüllen würden. Es finde keine Rehabilitationsdiagnostik statt und es gebe keinen Rehabilitationsplan mit darauf abgestimmter rehabilitativer geriatrischer Pflege. Es würden auch keine geriatrischen Assessments zur Überwachung der Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Kognition, Emotion und sozialen Versorgung durchgeführt. Auch sei kein entsprechendes Fachpersonal vorhanden. Das Arbeitsgericht habe es zu Unrecht als ausreichend angesehen, dass im Seniorenheim ältere Bewohner mit Erkrankungen lebten. Vielmehr sei Rehabilitation eine notwendige Voraussetzung der geriatrischen Behandlung. Das Arbeitsgericht habe verkannt, dass ein "geriatrischer Patient" für sich genommen nicht ausreichend sei, um das Bestehen einer geriatrischen Abteilung zu bejahen. Erforderlich sei vielmehr, dass zu den altersgerechten medizinischen Versorgungen ein behandlungsbedürftiges Akutereignis wie zum Beispiel ein Schlaganfall oder eine Fraktur hinzutreten müsse, welches rehabilitiv behandelt werden könne. Eine derartige Behandlung finde im Seniorenheim jedoch gerade nicht statt. Zudem sei Ziel einer geriatrischen Behandlung, die Patienten nach einer kurzen Verweildauer wieder in den selbstbestimmten Alltag zu lassen. Demgegenüber handele es sich bei dem Seniorenheim um eine auf längere Zeit ausgerichtete Wohneinrichtung. Nach der tariflichen Regelung sei eindeutig erkennbar, dass nicht die Art der Bewohner, sondern die Art der Einrichtung entscheidend sei. Der Wortlaut der Zulagenregelung verlange ausdrücklich eine geriatrische Abteilung, also eine über die allgemeine Regelung der stationären Altenpflegeeinrichtung hinausgehende Besonderheit. Eine Auslegung, die ergäbe, dass jede Einrichtung, in der alte und kranke Menschen gepflegt würden, gleichzeitig eine geriatrische Abteilung darstelle, widerspräche der tariflichen Regelung.
29Der Beklagte beantragt,
30das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 15.12.2016, 4 Ca 1381/16, abzuändern und die Klage abzuweisen.
31Die Klägerin beantragt,
32die Berufung zurückzuweisen.
33Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, für das Vorliegen einer ge-riatrischen Abteilung genüge es, dass krankenpflegebedürftige Bewohner in einem Altenheim untergebracht seien.
34Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die in beiden Instanzen zu den Akten gereichten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen.
35E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
36I.
37Die statthafte (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes zulässige (§ 64 Abs. 2 ArbGG), form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 Abs. 3 ZPO) ist zulässig.
38II.
39Die Berufung ist auch begründet. Nach Auffassung der Berufungskammer steht die tarifliche Pflegezulage der Klägerin nicht zu, weil sie nicht überwiegend in einer "geriatrischen Abteilung oder Station" tätig ist.
40Die Klägerin kann ihren Zahlungsanspruch nicht auf Nr. 1 (1) c) der Protokollerklärung der Anlage 6b des DRK-TV stützen, weil sie nicht alle tariflichen Voraussetzungen erfüllt.
41Ein Anspruch auf die tarifliche Pflegezulage steht einer Pflegeperson nach der Protokollerklärung zu, wenn sie die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei Kranken in geriatrischen Abteilungen oder Stationen ausübt.
42Unstreitig ist zwischen den Parteien, dass die Klägerin jedenfalls die Grundpflege ausführt. Zutreffend hat bereits das Arbeitsgericht darauf hingewiesen, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht erforderlich ist, dass Grund- und Behandlungspflege kumulativ ausgeübt werden, um den Zulagenanspruch auszulösen. Es reicht vielmehr aus, wenn entweder Grund- oder Behandlungspflege arbeitszeitlich überwiegend bei Kranken in geriatrischen Stationen ausgeübt wird (vgl. BAG, Urteil vom 28.03.2007, 10 AZR 707/05, zitiert nach juris).
43Die Klägerin übt jedenfalls die Grundpflege auch zeitlich überwiegend bei Kranken aus. Als Krankheit wird allgemein jeder regelwidrige körperliche oder geistige Zustand bezeichnet, der einer Heilbehandlung bedarf, oder der regelwidrige Verlauf leiblicher, seelischer oder geistiger Lebensvorgänge, der Krankenpflege notwendig macht (so BAG, Urteil vom 15.12.1999, 10 AZR 638/98, zitiert nach juris). Krankenpflege ist eine Pflege, deren Ziel es ist, eine Krankheit zu beheben, ihre Verschlimmerung nach Möglichkeit zu vermeiden oder zu verlangsamen oder die Auswirkungen einer Krankheit auf das körperliche und seelische Wohlbefinden des Kranken zu lindern.
44Im Berufungsverfahren hat die Beklagte unstreitig gestellt, dass die Bewohner der Einrichtung insgesamt pflegebedürftig im Sinne der Pflegestufen 1 bis 3 sind und unter chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Gefäßerkrankungen, orthopädischen Verschleißerscheinungen und Inkontinenz leiden. Alle Bewohner sind zudem in ärztlicher Behandlung. Anhaltspunkte dafür, dass nur "akut" Kranke und nicht auch chronisch Kranke gemeint sein sollen, sind der tariflichen Regelung nicht zu entnehmen. Damit steht fest, dass die Klägerin die Grundpflege zeitlich überwiegend bei Kranken ausführt.
45Darüber hinaus ist jedoch erforderlich, dass es sich um Kranke in "geriatrischen Abteilungen oder Stationen" handeln muss. Die tarifliche Bestimmung ist zwar nicht nur auf Beschäftigte in geriatrischen Abteilungen und Stationen in Krankenhäusern anwendbar, sondern auch auf solche in Altenheimen. Dennoch ist diese Voraussetzung nach Auffassung der Berufungskammer im Falle der Klägerin nicht erfüllt, weil sie nicht in einer derartigen Abteilung oder Station im Sinne der tariflichen Vorschrift beschäftigt ist. Dies ergibt sich aus einer Auslegung der tarifvertraglichen Regelung.
46Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (vgl. BAG, Urteil vom 20.04.1994, 10 AZR 276/93, zitiert nach juris). Dass es für die Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrages nicht auf den subjektiven, im Wortlaut und systematischen Zusammenhang ohne Niederschlag gebliebenen Willen der Tarifvertragsparteien ankommen kann, folgt aus der Verbindlichkeit für die Tarifunterworfenen, das heißt der Rechtsnatur des Tarifvertrages als Gesetz im materiellen Sinne. Die Normunterworfenen müssen erkennen, welchen Regelungsinhalt die Normen haben. Würde man auf den in keiner Weise verobjektivierten subjektiven Willen der Tarifvertragsparteien abstellen, verstieße dies gegen das Prinzip der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit (vgl. BAG, Urteil vom 23.02.1994, 4 AZR 224/93, zitiert nach juris).
47Danach ist bei der Auslegung der Formulierung "geriatrische Abteilungen oder Stationen" zunächst vom Wortlaut auszugehen, und zwar - soweit es sich nicht um Fachbegriffe handelt - nach dem allgemeinen Sprachgebrauch.
48Unter einer Abteilung ist üblicherweise ein relativ selbständiger Teil einer größeren Organisationseinheit zu verstehen, zum Beispiel in einem Unternehmen, einem Warenhaus oder auch in einem Krankenhaus, in dem es in der Regel Fachabteilungen gibt.
49Nach Wahrig, Deutsches Wörterbuch, wird der Begriff "Abteilung" definiert als Teil eines gegliederten Ganzen, Teil eines Betriebes oder einer Organisation mit bestimmtem Aufgabengebiet.
50Die "Station" ist der übliche Begriff für eine Organisationseinheit in einem Krankenhaus. Zur Station gehören in der Regel bestimmte Räumlichkeiten sowie dieser Station zugewiesenes Personal. Die dort aufgenommenen Patienten werden auf der Station pflegerisch versorgt, während die ärztliche Diagnostik und Behandlung zum Teil auch an anderen Orten innerhalb des Krankenhauses stattfindet.
51Danach sind rein begrifflich sowohl eine Abteilung als auch eine Station nur der Teil eines Ganzen mit einem bestimmten Aufgabengebiet.
52Da die Tarifvertragsparteien den Begriff "geriatrisch" nicht ausdrücklich bestimmt haben, ist für die Auslegung dieses Begriffs davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien ihn so verwendet haben, wie er von den beteiligten Berufskreisen verstanden wird.
53Geriatrie ist eine medizinische, fachübergreifende Spezialdisziplin, die sich mit den körperlichen, geistigen, funktionalen und sozialen Aspekten in der Versorgung von akuten und chronischen Krankheiten, der Rehabilitation und Prävention alter Patientinnen und Patienten sowie deren spezieller Situation am Lebensende befasst (Definition nach der deutschen Gesellschaft für Geriatrie). Ziel ist es, die Selbständigkeit älterer Menschen so lange wie möglich zu erhalten. Insbesondere werden in der Geriatrie akute Erkrankungen bei multimorbiden Betagten unter Berücksichtigung chronisch-degenerativer Krankheiten behandelt. Dabei strebt diese Behandlung eine Rehabilitation des Patienten an, so dass dieser die durch die Krankheit verlorenen Funktionen und Fähigkeiten wiedererlangt bzw., wenn dies nicht möglich ist, neue Ersatzfunktionen erwirbt bzw. mit reduzierten Möglichkeiten sinnvoll leben kann (vgl. BAG, Urteil vom 28.03.2007, 10 AZR 707/05, zitiert nach juris, unter Bezugnahme auf das Lexikon Medizin, Ethik, Recht S. 392 ff. Stichwort: Aufgaben der Geriatrie). Geriatrische Patienten sind definiert durch geriatrietypische Multimorbidität und ein höheres Lebensalter (meist über 70 Jahre). Als Multimorbidität bezeichnet man das gleichzeitige Auftreten bzw. Bestehen mehrerer Krankheiten bei einem Patienten durch Therapie und Rehabilitation.
54Das Adjektiv "geriatrisch" bedeutet "die Geriatrie betreffend, zu ihr gehören" (Wahrig, Deutsches Wörterbuch).
55Die Aufgabe einer geriatrischen Abteilung besteht mithin in der Behandlung der im Alter typischen und besonders oft, meist gleichzeitig (Multimorbidität), auftretenden Gesundheitsstörungen, in Verbindung mit Maßnahmen zur Erhaltung bzw. Wiedererlangung der (Teil-) Mobilität und Selbstständigkeit der Patienten durch Therapie und Rehabilitation.
56Eine geriatrische Abteilung oder Station ist danach ein relativ selbständiger Teil eines Krankenhauses oder eines Pflegeheims mit dem Aufgabengebiet der Behandlung und Rehabilitation älterer Kranker mit geriatrietypischer Multimorbidität.
57Die tarifliche Erschwerniszulage knüpft danach nicht nur an die geriatrietypische Multimorbidität des Kranken, sondern darüber hinaus an den organisatorischen Teil einer Einrichtung an, in der diese Kranken behandelt werden.
58Eine derartige Teileinheit besteht bei dem Beklagten nicht. Die Klägerin ist vielmehr der Auffassung, dass die gesamte Einrichtung unter den Begriff "geriatrische Abteilung oder Station" zu subsumieren sei. Dafür fehlen nach Auffassung der Berufungskammer jedoch jegliche Anhaltspunkte in der tariflichen Regelung, und zwar auch dann, wenn der Gesamtzusammenhang der Regelung berücksichtigt wird. Insoweit ist festzustellen, dass die Erschwerniszulage nach Nr. 1 (1) a) und b) die Zulagenzahlung an die Unterbringung eines Kranken in einer bestimmten Abteilung knüpft, und zwar in Punkt a) an die Unterbringung in besonderen Infektionsabteilungen oder Infektionsstationen und in Punkt b) an die Unterbringung in geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen Abteilungen oder Stationen. Demgegenüber knüpfen die Punkte d) bis g) an die Erkrankung selbst oder an deren Behandlung an, und zwar ohne Bindung an eine Abteilung oder Station. Daraus muss geschlossen werden, dass auch die Zulage nach Punkt c) wegen der ausdrücklichen Erwähnung der Abteilung oder Station an die Unterbringung in einer dafür vorgesehenen Abteilung oder Station gebunden werden sollte. Andernfalls hätten die Tarifvertragsparteien sich auf eine Formulierung wie "geriatrische Patienten" oder ähnliches beschränken können.
59Eine vom Wortlaut abweichende Auslegung scheidet nach Auffassung der Berufungskammer aus.
60Zwar ist - wie bereits ausgeführt - der tatsächliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, allerdings nur, wenn dieser in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden hat. Ein Wille der Tarifvertragsparteien, für Altenpflegerinnen in Altenheimen unabhängig davon, ob eine solche Abteilung besteht oder nicht, die Pflegezulage zu zahlen, weil diese Mitarbeiterinnen alte Menschen mit Multimorbidität pflegen, kann den Regelungen aber nicht entnommen werden. Die Annahme, dass das gesamte Pflegeheim als Abteilung oder Station angesehen werden soll, widerspricht dem eindeutigen Wortlaut der Regelung und verbietet sich daher nach Auffassung der Berufungskammer.
61Für ein Verständnis der Regelung in vorstehendem Sinne spricht auch die Praktikabilität der Regelung. Zutreffend hat die Klägerin bereits erstinstanzlich darauf hingewiesen, dass die Regelung nicht praktikabel wäre, wenn sie - die Klägerin - gezwungen wäre, monatlich festzuhalten, ob und in welchem Umfang sie bei einem Bewohner mit geriatrietypischer Multimorbidität Pflegeleistungen erbracht hat, um den Nachweis einer zeitlich überwiegenden Grundpflege zu erbringen. Das wäre aber erforderlich, denn in einem Seniorenwohnheim müssen nicht zwangsläufig alle Bewohner dieser Einschränkung unterfallen, was zudem auch nicht immer ohne Weiteres festzustellen ist. Wird die Zulage allerdings an die Unterbringung des Betreffenden in einer geriatrischen Abteilung gebunden, entfällt dieses Problem, weil die Pflege aller in einer geriatrischen Abteilung untergebrachten Kranken nach dem Wortlaut der Regelung zu einem Anspruch auf Zahlung der Pflegezulage führt.
62Die Berufungskammer hält es schließlich nicht für ausgeschlossen, dass die Tarifvertragsparteien bei der Formulierung der tariflichen Regelungen in erster Linie ein Krankenhaus im Blick hatten, in dem deutlich mehr als in Altenheimen Abteilungen und Stationen bestehen. Bezogen auf ein Krankenhaus sollen Pflegepersonen mithin nur dann die Pflegezulage erhalten, wenn sie auf der geriatrischen Abteilung Pflege-leistungen erbringen. Damit ist ausgeschlossen, dass eine Pflegeperson, die auf einer anderen Station zeitweilig überwiegend mit der Pflege älterer Patienten mit Multimorbidität beschäftigt ist, eine Pflegezulage geltend machen kann, was im Übrigen ebenfalls für die Auslegung spricht, dass die Pflegezulage auch an die Abteilung gebunden ist. Möglicherweise ist übersehen worden, dass die Regelung auf Altenheime nicht ohne Weiteres übertragbar ist, weil geriatrische Abteilungen in Altenheimen ehr selten vorhanden sind. In diesem Fall läge eine unbewusste Regelungslücke vor.
63Eine unbewusste tarifvertragliche Lücke ist in der Weise auszufüllen, dass die Grundzüge und Systematik des konkreten Vertrages "zu Ende gedacht" werden (vgl. BAG, Urteil vom 12.12.2013, 8 AZR 942/12, zitiert nach juris). Erforderlich ist allerdings, dass hinreichende und vor allen Dingen sichere Anhaltspunkte im Tarifvertrag zu finden sind, wie die Tarifvertragsparteien eine Regelung vorgenommen hätten. Fehlen solche sicheren Anhaltspunkte, kommen insbesondere mehrere Möglichkeiten zur Lückenschließung in Betracht, kann ein mutmaßlicher Wille der Tarifvertragsparteien nicht festgestellt werden. Eine Lückenschließung ist dann unzulässig, weil sie in die Gestaltungsfreihit der Tarifvertragsparteien eingriffe (vgl. BAG, Beschluss vom 18.11.2015, 4 ABR 24/14, m.w.N., zitiert nach juris).
64Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht für die Berufungskammer keine Möglichkeit, eine etwaige Lücke dahingehend zu schließen, dass die Formulierung "geriatrische Abteilungen oder Stationen" in Einrichtung, Altenheim, Pflegeheim oder Seniorenwohnheim umgedeutet wird. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass in diesem Bereich die unterschiedlichsten Bezeichnungen und Ausgestaltungen im Hinblick auf die Unterbringung älterer Menschen bestehen. Zudem stellt sich die Frage, ob auch im Hinblick auf Altenheime eine "geriatrische" Einrichtung verlangt wird, also eine auf den Sinn und Zweck der Geriatrie bezogene Einrichtung. Hinzu kommt, dass in der Anlage 6b unter der Überschrift "Besonderer Teil Ambulanter und stationärer Pflege- und Betreuungsdienst" ausgeführt ist:
65"Bis zur abschließenden Erstellung der Anlage 6b (Besonderer Teil Ambulanter und stationärer Pflege- und Betreuungsdienst) gilt die bisherige Anlage 6b (Tätigkeitsmerkmale für die Mitarbeiter im stationären Pflegedienst) fort."
66Danach ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien ohnehin beabsichtigen, die Anlage 6b zu ändern. Die Schließung einer derartigen Lücke obliegt daher den Tarifvertragsparteien.
67Danach steht der Klägerin die streitgegenständliche Zulage und damit auch die geltend gemachte Verzugsschadenspauschale nicht zu. Auf die Berufung des Beklagten war die Entscheidung des Arbeitsgerichts daher abzuändern und die Klage abzuweisen.
68III.
69Als unterliegende Partei hat die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen (§§ 64 Abs. 6 ArbGG, 525, 91 ZPO).
70IV.
71Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ArbGG. Die vorliegende Entscheidung weicht teilweise von der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 19.11.2003, 10 AZR 127/03, ab.
72RECHTSMITTELBELEHRUNG
73Gegen dieses Urteil kann von der klagenden Partei
74R E V I S I O N
75eingelegt werden.
76Für die beklagte Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
77Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim
78Bundesarbeitsgericht
79Hugo-Preuß-Platz 1
8099084 Erfurt
81Fax: 0361-2636 2000
82eingelegt werden.
83Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
84Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
851.Rechtsanwälte,
862.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
873.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
88In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
89Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
90Bezüglich der Möglichkeit elektronischer Einlegung der Revision wird auf die Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesarbeitsgericht vom 09.03.2006 (BGBl. I Seite 519) verwiesen.
91* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.
92PaßlickNauck Gleichmann