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Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte als Konkursverwalter berech tigt war, auf der Grundlage des § 113 Abs. 1 S. 2 InsO das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit einer Kündi gungsfrist von 3 Monaten zum Monatsende kün digen zu dürfen, obwohl der auf das Arbeits verhältnis anwendbare Tarifver trag eine längere Kündigungsfrist vorsieht.Leitsätze:Mit § 113 Abs. 1 S. 1,2 InsO greift der Gesetzgeber auch in tarifliche Re gelungen ein, die für länger beschäftigte oder unkündbare Arbeitnehmer eine längere Kündigungsfrist oder ein Verbot einer ordentlichen Kündigung beinhalten.Dieser Eingriff in die Tarifautonomie ist im Interesse der Art. 3 und 14 GG durch hinrei chend gewichtige, grundrechtlich geschützte Belange ge rechtfertigt.
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 06.08.1997 - 6 Ca 1150/97 - wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen der Klägerin zur Last.
3. Die Revision wird zugelassen.
T A T B E S T A N D
2Im zweiten Rechtszuge streiten die Parteien nur noch darüber, ob der Beklagte als Konkursverwalter über das Vermögen der K. GmbH & Co. KG berechtigt war, auf der Grundlage von § 113 InsO das Arbeitsverhältnis mit einer Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende kündigen zu dürfen, obwohl der einschlägige Tarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie für Arbeitnehmer nach Vollendung des 45. Lebensjahres und einer Betriebszugehörigkeit von 20 Jahren eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende eines Kalenderviertel- jahres vorsieht.
3Die Klägerin war im Jahre 1974 als Näherin in die Dienste der Gemeinschuldnerin, die sich mit der Herstellung von Hosen befaßte, getreten. Sie ist 53 Jahre alt und verheiratet. Der monatliche Bruttolohn der Klägerin belief sich zuletzt auf 3.370,-- DM.
4Mit Schreiben vom 27.03.1997 kündigte die spätere Gemeinschuldnerin das Arbeitsverhältnis aus dringenden betrieblichen Gründen zum 31.10.1997. Gegen diese Kündigung hat die Klägerin vor dem Arbeitsgericht Mönchengladbach - 1 Ca 927/97 - Kündigungsschutzklage erhoben.
5Am 01.05.1997 wurde das Konkursverfahren über das Vermögen der im Handels-register des Amtsgerichts Mönchengladbach unter HR A 8252 eingetragenen K. GmbH & Co. KG eröffnet und der Beklagte zum Konkursverwalter bestellt. Unter dem 09.05.1997 kündigte nunmehr der Beklagte unter Berufung auf die Frist des § 113 InsO das Beschäftigungsverhältnis mit der Klägerin zum 31.08.1997. Kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit galten zwischen den Arbeitsvertragsparteien die Regelungen des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie (MTV). Mit Wirkung vom 01.05.1997 ist die Gemeinschuldnerin aus dem zuständigen Arbeitgeberverband ausgeschieden. § 22 des MTV bestimmt u. a.:
62. Kündigt der Arbeitgeber, so beträgt die Kündigungsfrist:
7a) nach Vollendung des 30. Lebensjahres und einer Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren einen Monat zum Monatsende,
8b) nach Vollendung des 35. Lebensjahres und einer Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren zwei Monate zum Monatsende,
9c) nach Vollendung des 45. Lebensjahres und einer Betriebszugehörigkeit von 20 Jahren drei Monate zum Ende eines Kalendervierteljahres.
10Mit einer bei dem Arbeitsgericht Mönchengladbach am 21.05.1997 anhängig gemachten Klage hat die Klägerin geltend gemacht, der Beklagte habe bei Ausspruch der Kündigung die im MTV geregelte Kündigungsfrist unter Berücksichtigung ihres Lebens- und Dienstalters berücksichtigen müssen, so daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 09.05.1997 nicht bereits zum 31.08.1997, sondern erst zum 30.09.1997 aufgelöst worden sei.
11Die Klägerin hat beantragt,
12festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 09.05.1997 nicht aufgelöst werden wird und ungekündigt fortbesteht.
13Der Beklagte hat beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Der Beklagte hat die Kündigung unter Berücksichtigung des ab 01.10.1996 in Kraft getretenen § 113 InsO verteidigt.
16Durch Urteil vom 06.08.1997 hat die 6. Kammer des Arbeitsgerichts Mönchengladbach - 6 Ca 1150/97 - die Klage abgewiesen und den Wert des Streitgegenstandes auf 10.200,-- DM festgesetzt.
17In den Entscheidungsgründen ist das Arbeitsgericht davon ausgegangen, daß die Kündigung des Beklagten aus dringenden betrieblichen Gründen erfolgt sei und demgemäß nicht gegen § 1 Abs. 1 KSchG verstoße. Der Beklagte habe auch bei der Kündigung vom 09.05.1997 die rechtlich zutreffende Frist von drei Monaten im Sinne von § 113 Abs. 1 S. 2 InsO angewendet. Diese Vorschrift führte nicht nur zu einer Verdrängung einzelvertraglicher Abmachungen, sondern ginge auch entgegen-stehenden Tarifnormen vor. Sie sei als zweiseitig zwingendes Gesetz gestaltet worden und habe den Tarifvertragsparteien nicht gestattet, Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer zu vereinbaren. Die gesetzliche Vorschrift des § 113 Abs. 1 S. 2 InsO verbiete damit die Heranziehung der Regelung des § 22 Nr. 2 MTV. Es könne dahinstehen, ob diese Tarifnorm über die verlängerten Kündigungsfristen für langjährig beschäftigte Arbeiter wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig sei. Für die älteren Angestellten in der Textilindustrie würden nämlich wesentlich längere Kündigungsfristen gelten, die sich aus der Tarif-ordnung für die kaufmännischen und technischen Angestellten in der Textilindustrie im Wirtschaftsgebiet Westfalen-Niederrhein ergäben. Denn in jedem Falle sei § 113 Abs. 1 S. 2 InsO auch gegenüber Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG vorrangig. Das Bundesverfassungsgericht billigte nämlich gesetzliche Regelungen in dem Bereich, der auch den Tarifvertragsparteien offenstünde, zumindest immer dann, wenn der Gesetzgeber sich dabei auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen könne und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bliebe. Mit der durch § 113 Abs. 1 S. 2 InsO normierten Verkürzung der Kündigungsfristen im Konkurs solle vermieden werden, daß Arbeitnehmer bei längerem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwar den Vergütungsanspruch behielten, aber wegen sofortiger Einstellung des Betriebes nicht mehr beschäftigt werden könnten. Sonst müßten aus der Masse finanzielle Forderungen ohne Gegenleistung befriedigt werden. Die Frist-herabsetzung diente daher der Sicherung der zu verteilenden finanziellen Mittel und dem Schutz der übrigen Konkursgläubiger. Dieses gesetzgeberische Ziel sei an sich geeignet, eine gewisse Eingrenzung der koalitionsmäßigen Betätigung zu rechtfertigen. Es solle nämlich ein ausgewogenerer Schutz der finanziellen Belange der übrigen Konkursgläubiger, die sich insoweit auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG berufen könnten, erreicht werden. Die gesetzliche Einschränkung der Tarifautonomie entspräche auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es werde nur ein kleiner Randbereich des tariflichen Betätigungsfeldes betroffen. Ziel der Sozialpartner bei Verhandlungen, Arbeitskämpfen und schließlich dem Abschluß von Tarifverträgen sei es im allgemeinen nicht, Regelungen für wirtschaftlich zusammengebrochene Unternehmen sowie deren Arbeitnehmer zu schaffen. Angesichts dessen müsse die Klägerin hinnehmen, daß das Arbeitsverhältnis zum 31.08.1997 beendet worden sei.
18Gegen das am 09.09.1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem bei dem Landesarbeitsgericht am 09.10.1997 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 24.11.1997 mit einem bei dem Landesarbeitsgericht am 24.11.1997 vorliegenden Schriftsatz begründet.
19Die Klägerin bekämpft das erstinstanzliche Urteil und hält daran fest, daß § 113 InsO gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstieße und daher verfassungswidrig sei. Davon sei auch das Arbeitsgericht Stuttgart in einem Beschluß vom 04.08.1997 - 18 Ca 1752 - 1758/97 - ausgegangen und habe dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 GG die hier strittige Frage vorgelegt.
20Die Klägerin beantragt,
21das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 06.08.1997 abzuändern und festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 09.05.1997 nicht zum 31.08.1997, sondern erst zum 30.09.1997aufgelöst wurde.
22Der Beklagte beantragt,
23die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Mönchengladbach vom 06.08.1997 - 6 Ca 1150/97 - zurückzuweisen.
24Der Beklagte schließt sich den Ausführungen des angefochtenen Urteils an und macht sich diese zu eigen.
25E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E
26I.
27Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 06.08.1997 - 6 Ca 1150/97 - ist zulässig.
28Sie ist nämlich an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 ArbGG) sowie in gesetzlicher Form und Frist eingelegt (§§ 518 Abs. 1 und 2 ZPO, 66 Abs. 1 ArbGG) und rechtzeitig nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist begründet worden (§§ 519 Abs. 2 und 3 ZPO, 66 Abs. 1 ArbGG).
29II.
30In der Sache selbst konnte die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben, weil das Arbeitsgericht mit zutreffenden und überzeugenden Erwägungen, denen sich die Berufungskammer weitgehend anschließt, zu einer Abweisung der Klage gelangt ist.
31Die Parteien streiten nur noch darüber, ob die längere Kündigungsfrist des hier einschlägigen und auch für das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Tarif-vertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie (MTV) durch die Regelung des § 113 Abs. 1 S. 2 der am 01.10.1996 insoweit in Kraft getretenen Insolvenzordnung (InsO) (Art. 13, 6 Arbeitsrechtliches Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung vom 25.09.1996 - BGBl. 1996 I 1476) verdrängt wird. Gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 InsO kann ein Dienstverhältnis, bei dem der Schuldner der Dienstberechtigte ist, vom Insolvenzverwalter (Konkursverwalter) und vom anderen Teil ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluß des Rechts zur ordentlichen Kündigung gekündigt werden. Gemäß Satz 2 dieser Vorschrift beträgt die Kündigungsfrist drei Monate zum Monatsende, wenn nicht eine kürzere Frist maßgeblich ist.
32Hierzu heißt es in der Begründung zum Regierungsentwurf (abgedruckt bei Balz/ Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, § 113 InsO): Wenn das Unternehmen des Schuldners nicht mehr fortgeführt werden soll, muß der Insolvenzverwalter in der Lage sein, die Arbeitnehmer und sonstigen Bediensteten des Schuldners kurzfristig zu entlassen. Es würde eine nicht vertretbare Schlechterstellung der Insolvenzgläubiger bedeuten, wenn nicht mehr benötigte Arbeitnehmer noch längere Zeit hindurch aus der Insolvenzmasse das volle Arbeitsentgelt erhalten müßten. In Übereinstimmung mit § 22 Abs. 1 KO und § 51 Abs. 2 VerglO gibt Abs. 1 daher dem Insolvenzverwalter das Recht, Dienstverhältnisse mit der gesetzlichen Frist zu kündigen. Ist die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist kürzer als die gesetzliche Frist, so steht das zusätzliche Kündigungsrecht nach Abs. 1 einer Kündigung mit der kürzeren vertrag-lichen Frist nicht entgegen. Die Frage, ob tarifvertragliche Kündigungsfristen als gesetzliche Fristen im Sinne des Abs. 1 zu behandeln sind, wird ebenso wie im geltenden Recht nicht ausdrücklich geregelt. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bejaht die Frage bisher (BAG 46, 206). Ob sich eine abweichende gesetzliche Regelung empfiehlt, wird im Zusammenhang mit der Neuregelung der gesetzlichen Kündigungsfristen für Angestellte und Arbeiter zu prüfen sein; diese Neuregelung ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30.05.1990 (ZIP 1990, 1015) erforderlich.
33Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat die ursprüngliche Regelung, die der Regierungsbegründung zugrunde lag, nicht übernommen, sondern die Gesetz gewordene Regelung neu konzipiert. Hierzu heißt es im Ausschußbericht (abgedruckt bei Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, § 113 InsO): Die Kündigung von Dienstverhältnissen im Insolvenzverfahren ist vom Ausschuß neu geregelt worden. Nach Abs. 1 des Regierungsentwurfs (und entsprechend nach § 22 Abs. 1 KO, nach § 51 Abs. 2 VerglO und nach § 9 Abs. 2 GesO) sind für das besondere Kündigungsrecht im Insolvenzverfahren die gesetzlichen Fristen maßgebend. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Konkursordnung waren diese Fristen noch so bemessen, daß nach einer Kündigung regelmäßig eine Weiterbeschäftigung der Dienstverpflichteten bis zum Fristende möglich war und ein Nachteil für die Konkursmasse nicht eintrat. Mit der Erhöhung des Arbeitnehmerschutzes durch Ausdehnung der gesetzlichen Kündigungsfristen (zuletzt durch die Angleichung der Kündigungs-fristen von Arbeitern und Angestellten durch das Kündigungsfristengesetz vom 07.10.1993, BGBl. I S. 1668) können heute häufig die Arbeitnehmer nicht mehr bis zum Ende der Kündigungsfrist im insolventen Unternehmen beschäftigt werden. Ihr Entgeltanspruch bleibt gleichwohl erhalten. Dadurch wird die Masse verkürzt, in manchen Fällen sogar entleert. Die Verbindung des besonderen Kündigungsrechts im Insolvenzverfahren mit der gesetzlichen Kündigungsfrist hat weiter den Nachteil, daß sie die Streitfrage entstehen läßt, ob tarifvertraglich festgelegte Kündigungsfristen als gesetzliche Fristen in diesem Sinne aufzufassen sind (vgl. die Begründung zu § 127 des Regierungsentwurfs der Insolvenzordnung, Drucksache 12/2443, S. 248). Diese Frage stellt sich dagegen nicht, wenn in der Insolvenzordnung selbst für das besondere Kündigungsrecht eine bestimmte Frist genannt wird. Der neue Abs. 1 enthält eine eigene Kündigungsfrist von höchstens drei Monaten zum Monatsende für die Kündigung von Dienstverhältnissen in der Insolvenz. Diese Regelung schafft einen Ausgleich zwischen den sozialen Belangen der Arbeitnehmer und sonstigen Dienstverpflichteten des insolventen Unternehmens sowie den Interessen der Insolvenzgläubiger an der Erhaltung der Masse als Grundlage ihrer Befriedigung. Diese Höchstfrist wird in der Regel nur bei Dienstverpflichteten zur Anwendung kommen, die bereits längere Zeit im Unternehmen des insolventen Schuldners tätig sind. Für andere Dienstverhältnisse werden aufgrund von Gesetz, Tarifvertrag oder einzelvertraglicher Bestimmung regelmäßig kürzere Kündigungsfristen maßgeblich sein; diese sollen dann auch für die Kündigung im Insolvenzverfahren gelten.
34In Anbetracht der historischen Entwicklung des Gesetzes kann im Hinblick auf den Ausschußbericht kein Zweifel daran vorliegen, daß der Gesetzgeber mit § 113 Abs. 1 S. 2 InsO auch in tarifvertragliche Regelungen eingreifen wollte, die für länger beschäftigte oder gar unkündbare Arbeitnehmer eine längere Kündigungsfrist oder sogar ein Verbot einer ordentlichen Kündigung beinhalten. Damit greift § 113 Abs. 1 S. 2 InsO in die Koalitionsfreiheit und damit in die Tarifautonomie ein. Dieser Eingriff ist jedoch im Interesse der Art. 3 und 14 GG gerechtfertigt.
35Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (24.04.1996 - 1 BvR 712/86 -) wird das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG dahingehend umschrieben, daß diese Verfassungsnorm jedermann das Recht, zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, gewährleistet. Diese individualrechtliche Gewährleistung setzt sich in einem Freiheitsrecht der Koalitionen selbst fort. Es schützt sie in ihrem Bestand und garantiert ihnen die Bestimmung über ihre Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte. Den Schutz von Art. 9 Abs. 3 GG genießen ferner Betätigungen der Koalitionen, soweit sie den dort genannten Zwecken dienen (BVerfGE 50, 290, 373; BVerfGE 84, 212, 224). Der Schutz ist auch nicht von vornherein auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung beschränkt. Er erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind (BVerfG EuGRZ 1996, 164). Dies gilt auch, soweit Art. 9 Abs. 3 GG den Koaltionen einen spezifischen Wirkungsbereich für den Abschluß von Tarifverträgen gewährleistet. Die Aushandlung von Tarifverträgen gehört zu den wesentlichen Zwecken der Koalitionen. Hierin sollen sie nach dem Willen des Grundgesetzes frei sein (BVerfGE 84, 212, 224). Der Staat enthält sich in diesem Betätigungsfeld grundsätzlich einer Einflußnahme und überläßt die erforderlichen Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen, die sie autonom durch Vereinbarung treffen (BVerfGE 44, 322, 340).
36Dabei bezieht sich der den Koalitionen überlassene Teil der Regelungen auf solche Materien, die sie in eigener Verantwortung zu ordnen vermögen. Dazu gehören vor allem das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen wie etwa Arbeits- und Urlaubszeiten sowie nach Maßgabe von Herkommen und Üblichkeit weitere Bereiche des Arbeitsverhältnisses. Dies kommt mittelbar durch § 77 Abs. 3 BetrVG zum Ausdruck, wonach zum Regelungsbereich von Tarifverträgen in Abgrenzung zu demjenigen von Betriebsvereinbarungen Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden , gehören. Wenn auch gelegentlich Tarifverträge die gesetzlichen Regelungen über Kündigungsfristen (siehe § 622 BGB) in Bezug nehmen, so gehört auch dieser Regelungsbereich zu den materiellen Arbeitsbedingungen, die häufig Regelungsgegenstand von Tarifverträgen sind.
37Wenn also der Gesetzgeber in § 113 Abs. 1 S. 2 InsO eine vom geltenden Tarifvertrag abweichende kürzere Kündigungsfrist vorschreibt, stellt dies einen Eingriff in die koalitionsmäßige Betätigung dar.
38Dieser Eingriff ist jedoch durch hinreichend gewichtige, grundrechtlich geschützte Belange gerechtfertigt.
39Die Koalitionsfreiheit ist zwar auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährleistet. Gleichwohl bedeutet dies nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht, daß dem Gesetzgeber jede Regelung im Schutzbereich dieses Grundrechts verwehrt wäre (BVerfG 24.04.1996 - 1 BvR 712/86 -). Soweit das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander berührt wird, die beide den Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG genießen, bedarf die Koalitionsfreiheit der gesetzlichen Ausgestaltung. Aber auch im übrigen ist dem Gesetzgeber die Gestaltung von Fragen, die auch Gegenstand von Tarifverträgen sein können, nicht von vornherein verboten. Art. 9 Abs. 3 GG verleiht den Tarifvertragsparteien insoweit zwar eine Normsetzungsprärogative, aber kein Normsetzungsmonopol, wie sich unschwer aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG entnehmen läßt. Demgemäß kommt eine gesetzliche Regelung in Konkurrenz zu Tarifverträgen jedenfalls dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich dabei auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.
40Soweit es um die Prüfung der Verhältnismäßigkeit geht, ist zu beachten, daß der Grundrechtsschutz nicht für sämtliche koalitionsmäßigen Betätigungen gleich intensiv ausfällt. Wie es das Bundesverfassungsgericht (24.04.1996 - 1 BvR 712/86 -) formuliert, nimmt die Wirkkraft des Grundrechts in dem Maße zu, in dem eine Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann, weil sie nach der dem Art. 9 Abs. 3 GG zugrundeliegenden Vorstellung des Verfassungs-gebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausdruck bringen können als der Staat. Das gilt vor allem für die Festsetzung der Löhne und der anderen materiellen Arbeitsbedingungen. Die sachliche Nähe einer Materie im Bereich von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zur Tarifautonomie äußert sich in dem Umfang, in dem die Tarifvertragsparteien in der Praxis von ihrer Regelungsmacht Gebrauch machen. Daher genießen tarifvertragliche Regelungen grundsätzlich einen stärkeren Schutz als die Tarifautonomie in Bereichen, die die Koalitionen bislang ungeregelt gelassen haben. Die Abstufung des Schutzes, den Art. 9 Abs. 3 GG gewährt, wirkt sich in den Anforderungen aus, die an die Rechtfertigung von Eingriffen zu stellen sind. Je gewichtiger der Schutz, den Art. 9 Abs. 3 GG insofern verleiht, desto schwerwiegender müssen die Gründe sein, die einen Eingriff rechtfertigen können.
41Gemessen an diesen Vorgaben, ist § 113 Abs. 1 S. 2 InsO verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zunächst haben die Voraussetzungen für eine staatliche Regelungszuständigkeit vorgelegen, wobei zu berücksichtigen ist, daß Gewerkschaften und Arbeitgeber auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG in Wahrnehmung der von ihnen vertretenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht imstande sind, die Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer im Konkursverfahren in Relation zu den sonstigen Gläubigern sinnvoll zu ordnen. Das Konkursrecht ist insgesamt gesehen Gesetzesrecht und hat grundsätzlich mit dem Tarifrecht nichts zu tun. Es ist vielmehr Aufgabe des Staates und damit des Gesetzgebers aus seiner Gesamtverantwortung heraus für die Situation des Konkurses Rechtsregeln zur Verfügung zu stellen, die der Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Konkursverfahrens zu dienen bestimmt sind und dem Gedanken Rechnung tragen, die gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger durch Verteilung der Masse zu verwirklichen. Dieses Prinzip der gleichmäßigen Befriedigung konnte die bisherige Konkursordnung wegen des Anwachsens von Sicherungsrechten nicht mehr leisten, was dazu geführt hat, daß häufig den restlichen Gläubigern keine zu verteilende Masse mehr zur Verfügung stand und die Anzahl der mangels kostendeckender Masse abgelehnten Konkursanträge wuchs.
42Dieser Zustand erforderte eine Reform des Insolvenzrechts (vgl. dazu bereits Kilger, KTS 75, 142 ff.; Uhlenbruck, NJW 1975, 897 ff.), die vorliegend in den Einzelheiten ihrer Entwicklung nicht nachgezeichnet werden kann (vgl. dazu Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze 1995, Einleitung m. w. ausf. N.). Bereits zuvor hatte der Gesetzgeber rechtspolitisch reagiert und durch die Einführung des Konkursausfall-geldes (Gesetz vom 17.07.1974 BGBl. I S. 1481) und die Insolvenzsicherung von Pensionsansprüchen (Gesetz vom 19.12.1974 BGBl. I S. 3610) sowie durch das Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren (20.02.1985 BGBl. I S. 369) Zwischenlösungen geschaffen, die zumindest in Teilbereichen den bis dahin geltenden Gesetzeszustand reformieren sollten. Während die Konkursausfallgeldversicherung und das Versicherungssystem des BetrAVG darauf angelegt worden sind, die durch ein Insolvenzereignis betroffenen Arbeitnehmer zu schützen, sollte durch das Gesetz über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren (SozPlG) das gesamte Volumen der Abfindungsansprüche zum Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile reduziert werden, um auf die Interessen anderer Konkursgläubiger Rücksicht zu nehmen (vgl. zur Entwicklung BAG - GS - AP Nr. 6 zu § 112 BetrAVG 1972; BVerfGE 65, 182; BAG AP Nr. 23 zu § 112 BetrAVG 1972; vgl. dazu auch Rumpff- Boewer, Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten, 3. Aufl., 400 ff.). Dies gilt unabhängig davon, daß damit zugleich eine Anwendung der §§ 111 ff. BetrVG im Konkursverfahren klargestellt worden ist und Forderungen aus dem Sozialplan im genannten Umfang mit dem Rang des § 61 Nr. 1 KO berichtigt werden.
43Arbeitsentgeltforderungen für die Zeit nach Konkurseröffnung sind im Konkurs Masseschulden (§ 59 Abs. 1 Nr. 1 u. 2 KO) und sie genießen bei der Verteilung der Masse den ersten Rang (§ 60 Abs. 1 Nr. 1 KO). Dabei ist die Möglichkeit einer Befriedigung nicht auf die Konkursmasse beschränkt, weil das Verbot der Einzelzwangsvollstreckung (§ 14 KO) nur für Konkursgläubiger gilt. Ihrem Grundgedanken nach sind Masseschulden (§ 59 KO) an sich diejenigen Schulden, die im Zusammenhang mit der Durchführung des Konkurses und der Verwaltung der Konkursmasse entstanden sind und deren Gegenleistung der Konkursmasse zugute gekommen ist (BAG - GS - AP Nr. 6 zu § 112 BetrAVG 1972). Wie bereits im Ausschußbericht (a. a. O.) zum Ausdruck gekommen ist, können heute häufig die Arbeitnehmer nicht mehr bis zum Ende der Kündigungsfrist im insolventen Unternehmen beschäftigt werden. Dies hat zur Konsequenz, daß ihr Entgeltanspruch auch ohne Gegenleistung zur Konkursmasse erhalten bleibt und dadurch die Masse in erheblichem Maße verkürzt werden kann. Dies führt nicht nur dazu, daß andere Gläubiger keine Befriedigung mehr aus der Konkursmasse erlangen und damit in ihr Recht aus Art. 14 GG eingegriffen wird, sondern auch der aus Art. 3 GG herzuleitende Grundsatz der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger tangiert wird.
44Diesen verfassensrechtlichen Konflikt durfte der Gesetzgeber durch die Regelung des § 113 Abs. 1 S. 2 InsO in der Gesetz gewordenen Weise lösen. Die Regelung dient erkennbar dem Ziel, die Konkursmasse im Interesse anderer Gläubiger mit ebenso berechtigten Forderungen zu entlasten, ohne daß damit mehr als notwendig in die Rechtsposition der Arbeitnehmer eingegriffen wird.
45Der damit im Zusammenhang stehende Eingriff in die Tarifautonomie entspricht auch dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Zunächst ist darauf abzuheben - worauf das Arbeitsgericht bereits zutreffend aufmerksam gemacht hat -, daß die tarifvertraglichen Regelungen prinzipiell nicht darauf ausgerichtet sind, die Interessen der Arbeitnehmer gerade im Falle der Insolvenz zu sichern. Dies überschritte auch die Regelungskompetenz der Sozialpartner, die sie aus Art. 9 Abs. 3 GG herleiten. Demgemäß ist der Eingriff in die Tarifautonomie im Falle der Insolvenz durch § 113 Abs. 1 S. 2 InsO auf eine Ausnahmesituation beschränkt und unter diesem Gesichtspunkt geeignet, aber auch erforderlich, um das Ziel einer gleichmäßigeren Verteilung der Insolvenzmasse an die berechtigten Gläubiger zu erreichen. Ungeachtet dessen kann es auch im Interesse der Arbeitnehmer liegen, die Insolvenzmasse nicht über Gebühr mit Lohnforderungen zu belasten, denen kein Arbeitsergebnis und damit keine Gewinnschöpfung für das in Konkurs geratene Unternehmen gegenübersteht, wenn es darum geht, durch Sanierung und Rationalisierung das Unternehmen des Gemeinschuldners doch noch verkaufsfähig zu machen und damit Arbeitsplätze zu retten.
46Zusätzlich ist dabei zu berücksichtigen, daß die Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende bei der überwiegenden Zahl der Arbeitnehmer nicht einschlägig sein wird, weil für sie ohnehin kürzere Kündigungsfristen gelten. Dies zeigt auch der vorliegende Fall, wonach die längere tarifvertragliche Kündigungsfrist für die Klägerin erst zum Tragen kommt, wenn das Arbeitsverhältnis 20 Jahre bestanden hat. Selbst wenn sich die Tarifvertragsparteien weitgehend an die gesetzliche Regelung (§ 622 Abs. 2 BGB) anlehnen, muß das Arbeitsverhältnis mindestens zehn Jahre bestanden haben, damit die Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende überschritten wird, wobei Beschäftigungszeiten vor der Vollendung des 25. Lebensjahres keine Berücksichtigung finden.
47Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist für die Berufungskammer keine Verfassungswidrigkeit des § 113 Abs. 1 S. 2 InsO auszumachen. In Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht geht auch die Berufungskammer davon aus, daß der Beklagte die arbeitsvertraglichen Beziehungen durch ordentliche Kündigung auf der Grundlage von § 113 Abs. 1 S. 2 InsO wirksam zum 31.08.1997 durch die ordentliche Kündigung vom 09.05.1997 beenden durfte.
48III.
49Die Kosten des ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels waren gemäß § 97 ZPO der Klägerin aufzuerlegen.
50IV.
51Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache war die Revision an das Bundesarbeitsgericht zuzulassen.
52V.
53RECHTSMITTELBELEHRUNG
54Gegen dieses Urteil kann von der Klägerin
55REVISION
56eingelegt werden.
57Für den Beklagten ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
58Die Revision muß
59innerhalb einer Notfrist von einem Monat
60nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim
61Bundesarbeitsgericht,
62Graf-Bernadotte-Platz 5,
6334119 Kassel,
64eingelegt werden.
65Die Revision ist gleichzeitig oder
66innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
67schriftlich zu begründen.
68Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
69Boewer Sander Goetzenich