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§ 6 Ziff. III RTV für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14.09.1993 beinhaltet eine deklaratorische Regelung mit der Konsequenz, daß der Arbeitnehmer gem. §§ 3 (1), 4 (1) EFZG nur Anspruch auf 80 % Entgeltfortzahlung für die Dauer seiner Erkrankung hat.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wesel vom 26.03.1997 - 4 Ca 344/97 - wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Streitwert: 960,40 DM.
T A T B E S T A N D :
2Der Kläger war bei der Beklagten vom 21.08. bis 22.11.1996 als Bauhelfer zu einem Stundenlohn von 20.19 DM brutto bei einer vereinbarten Arbeitszeit von 39 Stunden pro Woche beschäftigt.
3Auf das Arbeitsverhältnis fand der Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14.09.1993 (im folgenden RTV) Anwendung.
4Die Partei streiten über die Höhe des Entgeltfortzahlungsanspruchs für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit des Klägers.
5§ 6 Ziff. III RTV hat folgenden Wortlaut:
6Arbeitsausfall infolge Krankheit
7Es gelten die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall .
8Wegen des weiteren Wortlauts des § 6 RTV wird auf den auszugsweise zu den Akten gereichten RTV (Bl. 9 ff. d. A.). verwiesen.
9Bereits der Tarifvertrag für das Betonsteingewerbe vom 20.08.1975 enthielt eine dem § 6 Ziff. III RTV gleichlautende Bestimmung über den Arbeitsausfall infolge Krankheit.
10In § 5 Abs. III des Rahmentarifvertrages vom 28.10.1958 hieß es unter Ziff. 1:
11Ist ein Arbeitnehmer infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert (Arbeitsunfähigkeit), so hat er, wenn auch die übrigen Voraussetzungen des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 26. Juni 1957 (BGBl. I, S. 649) vorliegen, gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Zahlung eines Zuschusses zu den Leistungen aus der gesetzlichen Kranken- oder Unfallversicherung nach Maßgabe des vorgenannten Gesetzes .
12Der Kläger war in der Zeit vom 28.10. bis 31.11.1996 arbeitsunfähig erkrankt. Für diese Zeit kürzte die Beklagte seinen Lohn um 20 % und behielt einen Betrag von 960,40 DM brutto ein.
13Mit der am 23.01.1997 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger den Differenzbetrag von 960,40 DM brutto geltend gemacht.
14Er hat die Auffassung vertreten:
15§ 6 Ziff. III RTV verweise nicht auf die jeweilige gesetzliche Regelung, sondern beziehe sich auf das bei Abschluß des Tarifvertrages geltende Lohnfortzahlungsgesetz, welches die Fortzahlung des Arbeitsentgelts in voller Höhe und unter Berücksichtigung aller Zulagen sichere. Ein Verweis auf das Entgeltfortzahlungsgesetz komme schon deshalb nicht in Betracht, weil dieses - abweichend vom Wortlaut des § 6
16Ziff. III RTV - als Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgeltes an Feiertagen und im Krankheitsfall bezeichnet sei.
17Der Kläger hat beantragt,
18die Beklagte zu verurteilen, an ihn DM 960,40 brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag zu zahlen.
19Die Beklagte hat beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Sie hat die Ansicht vertreten,
22§ 6 Ziff. III RTV enthalte lediglich einen deklaratorischen Verweis auf die gesetzliche Regelung mit der Folge, daß auf das Arbeitsverhältnis des Klägers das seit dem 01.10.1996 geänderte Entgeltfortzahlungsgesetz Anwendung finde.
23Mit Urteil vom 11.04.1997 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen und hat zur Begründung u. a. ausgeführt:
24Die Bestimmung des § 6 Ziff. III RTV begründe hinsichtlich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall keinen eigenständigen tariflichen Anspruch. Es entspreche anerkannten - von der Rechtsprechung des BAG entwickelten - Auslegungsregeln, daß eine im Tarifvertrag enthaltene Verweisung auf eine gesetzliche Regelung diese in ihrer jeweiligen Fassung in Bezug nehme, sofern sich nicht aus dem Tarifvertrag ergebe, daß die Tarifvertragsparteien eine bestimmte gesetzliche Fassung als eigenständige, auch gegenüber künftigen gesetzlichen Änderungen bestandskräftige, Regelung vereinbaren wollten. Anhaltspunkte für einen solchen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien bestünden nicht. Der Wortlaut des § 6 Ziff. III RTV enthalte keine Beschränkung auf ein Gesetz in einer bestimmten Fassung. Auch die zwischenzeitliche Änderung der Bezeichnung des im Tarifvertrag in Bezug genommenen Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall lasse nicht den Schluß zu, die Bezugnahme betreffe das bei Abschluß des Tarifvertrages geltende Lohnfortzahlungsgesetz. Das geänderte Gesetz sei nämlich erst nach Abschluß des Tarifvertrages in Kraft getreten. Des weiteren sei zu berücksichtigen, daß § 6 RTV neben der einfachen Verweisung in Ziff. III weitere Fälle des Arbeitsausfalls, beispielsweise infolge von Betriebsstörungen oder Witterungseinflüssen, ausführlich regele. Dieser enge Zusammenhang spreche dafür, daß auf das Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall lediglich - rein deklaratorisch - verwiesen worden sei, um eine unvollständige Darstellung der Rechtslage im Tarifvertrag zu vermeiden und die Tarifgebundenen möglichst umfassend zu unterrichten. Schließlich habe zum Zeitpunkt des Abschlusses des Rahmentarifvertrages im Jahre 1993 bereits eine Diskussion um hohe Lohnnebenkosten und die Vermeidung von Mißbräuchen bei der Inanspruchnahme der Lohnfortzahlung begonnen, so daß immerhin ein gewisser Anlaß dafür bestanden habe, eine Verschlechterung der gesetzlichen Regelung zu befürchten. Unter diesen Umständen hätte es sich geradezu aufdrängen müssen, im Tarifvertrag ausdrücklich klarzustellen, daß die 100 %ige Lohnfortzahlung auch für die Zukunft abgesichert werden solle. Eine derartige Klarstellung sei jedoch unterblieben.
25Gegen dieses dem Kläger am 27.05.1997 zugestellte Urteil hat er am 27.06.1997 Berufung eingelegt und diese am 28.07.1997 begründet.
26Der Kläger behauptet,
27nach dem Willen der Tarifvertragsparteien bei Abschluß des Tarifvertrages am 14.09.1993 habe die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen in voller Höhe gesichert werden sollen.
28Ferner vertritt er die Ansicht:
29Der Wille, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall konstitutiv zu regeln, sei in § 6 Ziff. III RTV hinreichend zum Ausdruck gekommen, da die Bestimmung nicht auf die jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen verweise. Dies zeige sich insbesondere an einem Vergleich zu § 3 Nr. 8 RTV, der für die Arbeitszeit der Kraftfahrer einen solchen Verweis, nämlich auf die EG-Bestimmungen in ihrer jeweils gültigen Fassung , enthalte. Für den konstitutiven Charakter von § 6 Ziff. III RTV spreche schließlich die seit Jahrzehnten übliche tarifvertragliche Festschreibung der 100 %igen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auch für die gewerblichen Arbeitnehmer.
30Der Kläger beantragt,
31das Urteil des Arbeitsgerichts Wesel vom 11.04.1997 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn DM 960,40 brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit Klagezustellung zu zahlen.
32Die Beklagte beantragt,
33die Berufung zurückzuweisen.
34Sie vertritt ergänzend zu ihrem erstinstanzlichen Vorbringen die Auffassung:
35Gegen einen konstitutiven Charakter von § 6 Ziff. III RTV spreche insbesondere, daß die gesetzlichen Vorschriften über die Lohnfortzahlung jeweils unabdingbar gewesen seien und diesbezüglich für die Tarifvertragsparteien daher kein Regelungsbedarf bestanden habe. Des weiteren deute auch der Wortlaut der Bestimmung nicht auf eine Eigenständigkeit der Regelung über die Entgeltfortzahlung hin, da eine Formulierung wie unabhängig von den gesetzlichen Regelungen oder auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung nicht gewählt worden sei.
36Das Gericht hat eine schriftliche Auskunft der Tarifvertragsparteien eingeholt. Nach Auskunft der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt handelt es sich bei § 6 Ziff. III RTV um eine konstitutive Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, während die Bestimmungen nach Auskunft des Baugewerbsverbandes Westfalen, des Verbandes Baugewerblicher Unternehmer im Lande Bremen e. V., des Baugewerbeverbandes Schleswig-Holstein sowie des Verbandes Beton- und Fertigteilindustrie Nord e. V. lediglich deklaratorischen Charakter hat. Wegen der jeweiligen Begründung wird auf die Auskünfte der Tarifvertragsparteien (Bl. 63 ff. d. A.) verwiesen.
37Wegen der sonstigen Einzelheiten wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt der Akte Bezug genommen.
38E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :
39Die Berufung des Klägers ist zulässig.
40Sie ist nämlich an sich statthaft (§ 64 Abs. 2 ArbGG), nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes zulässig (§ 64 Abs. 2 ArbGG), sowie in gesetzlicher Frist und Form eingelegt (§§ 518 Abs. 1, 2 ZPO, 66 Abs. 1 ArbGG) und begründet worden (§ 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. §§ 523, 222 Abs. 2 ZPO).
41Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet.
42Der Kläger hat gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 EFZG für die Dauer seiner Erkrankung lediglich einen Anspruch auf 80 % seines Arbeitsentgelts.
43§ 6 Ziff. III RTV, der auf die Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall verweist, begründet keinen eigenständigen Anspruch auf eine 100 %ige Entgeltfortzahlung, sondern trifft eine rein deklaratorische Regelung.
44Tarifvertragsnormen sind wie Gesetze auszulegen. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Über den reinen Wortlaut hinaus ist jedoch weiter der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen mit zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Für die bei Zweifeln darüber hinaus mögliche Heranziehung weiterer Auslegungskriterien (Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages) gibt es keinen Zwang zu einer bestimmten Reihenfolge (BAG, Urteil vom 09.03.1983 - 4 AZR 61/80 - und vom 12.09.1984
45- 4 AZR 336/82 AP Nr. 128 und 135 zu § 1 TVG Auslegung, BAG, Urteil vom 29.01.1997 - 2 AZR 370/96 - NZA 1997, 726, 727).
46Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß es sich bei den Bestimmungen des normativen Teils eines Tarifvertrages nicht stets um eigenständige tarifliche Regelungen handelt. Vielmehr kann es insbesondere bei einer inhaltlich unveränderten Übernahme außertariflicher Normen bereits am Willen der Tarivertragsparteien fehlen, eine eigene Tarifnorm zu schaffen. In einem solchen Fall ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d. h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muß im Wortlaut des Tarifvertrages erkennbaren Ausdruck gefunden haben. Hiervon ist regelmäßig auszugehen, wenn eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung getroffen oder eine gesetzliche Regelung übernommen wird, die sonst auf die betroffenen Arbeitsverhältnisse keine Anwendung findet. Für einen rein deklaratorischen Charakter spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder aber auch nur inhaltlich unverändert übernommen werden. Enthält ein Tarifvertrag eine derartige Bestimmung, so ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß nach dem Willen der Tarifvertragsparteien lediglich eine unvollständige Darstellung der Rechtslage vermieden werden sollte (so für den Fall der Verweisung: BAG, Urteil vom 12.11.1964 - 5 AZR 507/63- AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG 1961 und vom 04.03.1993 - 2 AZR 355/92 AP Nr. 40 zu § 622 BGB; im übrigen: BAG, Urteil vom 27.08.1982 - 7 AZR 190/80 - AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG, Urteil vom 28.01.1988 - 2 AZR 296/87 - und vom 05.10.1995
47- 2 AZR 1028/94 - AP Nr. 24 und 48 zu § 622 BGB).
48Gegen die Rechtsprechung des BAG wird zum Teil eingewandt, die Verweisung auf eine gesetzliche Bestimmung schließe künftige Veränderungen nur ein, wenn ein entsprechender Wille zu einer sogenannten dynamischen Verweisung deutlich zum Ausdruck komme, so etwa durch eine Jeweiligkeitsklausel . Soweit dies nicht der Fall sei, liege eine statische Verweisung auf die im Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages geltende Gesetzeslage vor (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.07.1988
49- 6 Sa 305/88 - NZA 1989, 482; Zachert, Auslegungsgrundsätze und Auslegungsschwerpunkte bei der aktuellen Diskussion um die Entgeltfortzahlung, DB 1996, 2078 ff., 2079; ähnlich ArbG Nürnberg, Urteil vom 11.04.1997 - 4 Ca 1363/97 - unveröffentlicht).
50Diese Auffassung vermag jedoch nicht zu überzeugen. Sie verkennt den fehlenden eigenständigen materiell-rechtlichen Regelungsgehalt einer deklaratorischen Norm.
51Soweit eine konstitutive Tarifnorm besteht, gilt ihr Inhalt unabhängig von gesetzlichen Regelungen. Soweit dagegen eine Regelung rein deklaratorisch ist, fehlt es an einer tariflichen Festlegung mit der Folge, daß ohne weiteres die jeweiligen Gesetze zur Anwendung gelangen. Damit aber wohnt deklaratorischen tariflichen Regelungen eine eigene Dynamik, die im Wortlaut der Tarifnorm zum Ausdruck kommen müßte, nicht inne. Die Dynamik stammt vielmehr ausschließlich von der außerhalb des Tarifvertrages herrührenden Änderung des Gesetzes, auf das Bezug genommen wird.
52Jede andere Betrachtungsweise, nach der durch eine deklaratorische Regelung grundsätzlich die bei Abschluß des Tarifvertrages geltende gesetzliche Regelung festgeschrieben wird, führt dazu, daß letztlich der deklaratorischen Norm eine konstitutive Wirkung zuerkannt und damit der Wille der Tarifvertragsparteien, einen bestimmten Punkt tariflich nicht selbst zu regeln, umgangen wird (Arbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 20.03.1997 - 2 Ca 8213/96 - NZA-RR 1997, 301, 303; Kamanabrou, Die Auslegung tarifvertraglicher Entgeltfortzahlungsklauseln - zugleich ein Beitrag zum Verhältnis der Tarifautonomie zu zwingenden Gesetzen, RdA 1997, 22 ff., 26).
53Allerdings hat das BAG in seinem Urteil vom 29.01.1997 (- 2 AZR 370/96 - NZA 1997, 726) entschieden, daß eine deklaratorische Verweisung regelmäßig das bei Abschluß des Tarifvertrages geltende Gesetz in Bezug nehme, es sei denn ein Wille zu einer dynamischen Verweisung komme - etwa durch eine Jeweiligkeitsklausel - zum Ausdruck. Diese Rechtsprechung läßt sich jedoch auf den vorliegend zu beurteilenden Fall nicht übertragen. Im dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ging es nämlich um die Frage, ob eine konstitutive Regelung im Tarifvertrag dahingehend ausgelegt werden kann, daß sie konstitutiv nur einen Mindeststandard sichert und darüber hinaus für den hypothetischen Fall einer Gesetzesänderung mit verbessertem Standard eine deklaratorisch-dynamische Regelung enthält. Bezugspunkt der Auslegung war insoweit eine konstitutive Regelung im Tarifvertrag und deren eventuelle Aufhebung durch eine Verweisung. Eine solche konstitutive Regelung liegt der Verweisung in § 6 Ziff. III RTV aber nicht zugrunde.
54Unabhängig von der aufgezeigten Kritik an der Rechtsprechung des BAG wird weiter die Auffassung vertreten, die entwickelten Auslegungsgrundsätze seien auf den Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - jedenfalls nicht uneingeschränkt - übertragbar.
55Preis (Das arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz 1996, NJW 1996, 3375) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Rechtsprechung des BAG die tarifliche Übernahme gesetzlicher Kündigungsfristen betreffe, deren Beurteilung gegenüber der Entgeltfortzahlung wesentliche Besonderheiten aufweise. Zum einen sei es in der Rechtsprechung zu den Kündigungsfristen darum gegangen, die Verfassungswidrigkeit eines Tarifvertrages - im Hinblick auf zwischen Arbeitern und Angestellten differenzierende Kündigungsfristen - durch weitgehende Annahme einer bloß deklaratorischen Regelung zu vermeiden.
56Zum anderen habe die Annahme einer deklaratorischen Regelung dem BAG nicht nur die schwierige verfassungsrechtliche Prüfung eines Tarifvertrages entbehrlich gemacht, sondern überdies in aller Regel zu einer für den Arbeitnehmer günstigen Regelung geführt. Schließlich betreffe die Entgeltfortzahlung einen Kernbereich der Tarifpolitik, so daß an einen fehlenden Regelungswillen höhere Anforderungen zu stellen seien (so i. E. auch: Zachert, Auslegungsgrundsätze und Auslegungsschwerpunkte bei der aktuellen Diskussion um die Entgeltfortzahlung, DB 1996, 2078 ff., 2079).
57Diese Überlegungen vermögen jedoch nur zum Teil zu überzeugen.
58Das BAG hat in seiner Rechtsprechung zu den Kündigungsfristen allgemein anerkannte Auslegungskriterien angewandt. Insoweit verbietet es sich, dem Gericht einen Kunstgriff dergestalt zu unterstellen, daß hiermit lediglich eine komplizierte und umfangreiche verfassungsrechtliche Überprüfung der betreffenden Tarifverträge umgangen werden sollte. Die Auslegung eines Tarifvertrages darf sich auch nicht - ergeb-
59nisorientiert - daran ausrichten, ob für die eine oder andere Partei ein günstiges Ergebnis erzielt wird. Das Günstigkeitsprinzip findet vielmehr erst dann Anwendung, wenn eine nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden als konstitutiv qualifizierte Norm mit der gesetzlichen Regelung in Beziehung gesetzt und als Folge dieses Vergleichs eventuell als günstiger und damit vorrangig anerkannt wird (Buchner, Entgeltfortzahlung im Spannungsfeld zwischen Gesetzgebung und Tarifautonomie, NZA 1996, 1177 ff., 1184). In diesem Sinne betrifft die grundlegende Entscheidung des BAG zur Auslegung von Tarifnormen, die inhaltlich auf gesetzliche Vorschriften Bezug nehmen, gerade einen Fall, in dem die Annahme des nur deklaratorischen Charakters einer Tarifnorm zur Anwendbarkeit der für die betroffene Arbeitnehmerin ungünstigeren Regelungen führte (BAG, Urteil vom 27.08.1982 - a. a. O.).
60Zuzugeben ist jedoch, daß es sich bei der Gehaltsfortzahlung gegenüber dem Bereich der Kündigungsfristen um eine verschiedenartige Materie handelt. Die bestehenden Unterschiede rechtfertigen jedoch nicht eine Abkehr von den in der Rechtsprechung entwickelten Auslegungsgrundsätzen. Die Besonderheiten im Bereich der Gehaltsfortzahlung lassen sich vielmehr bei der Auslegung der betreffenden Tarifnorm hinreichend berücksichtigen. In diesem Zusammenhang kann insbesondere die Tarifgeschichte oder der Sinn und Zweck der Norm eine Rolle spielen. Auch das BAG hat stets betont, daß die Übernahme einer gesetzlichen Regelung nur bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte deklaratorischen Charakter habe (BAG, Urteile vom 27.08.1982, 28.01.1988, 05.10.1995, a. a. O.).
61Auf der Grundlage der vom BAG entwickelten Auslegungsgrundsätze beinhaltet § 6 III RTV eine lediglich deklaratorische Verweisung.
62Schon der Wortlaut der Tarifnorm, der schlicht die geltenden Bestimmungen des Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall in Bezug nimmt, spricht gegen eine Festschreibung des bei Abschluß des Tarifvertrages geltenden Lohnfortzahlungsgesetzes im Krankheitsfall über eine eventuell nachfolgende Gesetzesänderung hinaus. Vielmehr deutet der Verweis auf die geltenden Bestimmungen im Gegenteil darauf hin, daß die jeweils gültige Gesetzesfassung zur Anwendung gelangen soll. Gesetze gelten nämlich stets in der jeweils aktuellen Form (BAG, Urteil vom 14.02.1996 - 2 AZR 470/95 - unveröffentlicht; Arbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 20.03.1997, a. a. O., S. 303).
63Eine andere Bewertung rechtfertigt auch nicht den Umstand, daß § 6 Ziff. III RTV - im Unterschied zu § 3 Nr. 8 RTV - nicht auf die jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen Bezug nimmt.
64Die Tarifvertragsparteien haben die Regelung in § 3 Nr. 8 RTV erkennbar auf dem Hintergrund der sich stetig ändernden EG-Bestimmungen über die Arbeitszeit für Kraftwagenfahrer getroffen. Zur Vermeidung etwaiger Unklarheiten wurde ein Verweis auf die jeweils aktuell geltende Gesetzeslage vereinbart. Das bedeutet jedoch nur, daß der Rahmentarifvertrag hinsichtlich der Arbeitszeit der Kraftfahrer - gemessen an den von der Rechtsprechung aufgestellten Auslegungsgrundsätzen - eine eindeutige Regelung enthält. Umgekehrt läßt sich aus dem Fehlen einer Jeweiligkeitsklausel in § 6 Ziff. III RTV jedoch nicht schließen, daß die bei Abschluß des Tarifvertrages geltende Gesetzeslage konstitutiv für die Zukunft festgeschrieben werden sollte. Ein eindeutiger Hinweis auf einen eigenständigen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien - wie ihn die ständige Rechtsprechung des BAG fordert - hat im Wortlaut der Vorschrift nämlich keinen Niederschlag gefunden. Von den Tarifvertragsparteien kann jedoch erwartet werden, daß sie die Rechtsprechung des BAG zur Auslegung von Tarifverträgen kennen. Jedenfalls bei neueren Tarifverträgen ist vorauszusetzen, daß die Tarifvertragsparteien dafür Sorge tragen, daß sich ein bestehender Normsetzungswille aus dem Wortlaut einer Tarifnorm eindeutig entnehmen läßt. Hierfür bedarf es keines besonderen Aufwandes oder ausgefeilter Formulierungen. Vielmehr genügt eine schlichte Einfügung wie unabhängig von der gesetzlichen Regelung oder auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung (BAG, Urteil vom 05.10.1995
65- 2 AZR 1028/94 - AP Nr. 48 zu § 622 BGB).
66Derartiger Formulierungen haben sich die Tarifvertragsparteien in § 6 Ziff. 3 RTV jedoch nicht bedient.
67Unerheblich ist schließlich, daß die Bezeichnung des Lohnfortzahlungsgesetzes sich mittlerweile geändert hat und infolgedessen mit der Verweisung in § 6 Ziff. III RTV nicht mehr übereinstimmt.
68Wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat, können im Rahmen der Auslegung nur Umstände relevant werden, die im Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages bereits vorlagen. Das Entgeltfortzahlungsgesetz ist jedoch erst nach diesem Zeitpunkt in Kraft getreten.
69Auch die systematische Auslegung des § 6 Ziff. III RTV spricht für einen rein deklaratorischen Charakter der Norm.
70Neben der einfachen Verweisung in Ziff. III werden in § 6 RTV - abweichend von gesetzlichen Bestimmungen - weitere Fälle der Lohnfortzahlung bei Arbeitsausfall ausführlich geregelt. So behandelt Ziff. I den Arbeitsausfall als Folge von Betriebsstörungen und Witterungseinflüssen, während in Ziff. II ein Anspruch auf Arbeitsbefreiung und Weiterzahlung des Lohnes aus persönlichen Gründen, wie Tod des Ehegatten, Eheschließung, bestimmte Dauer der Betriebszugehörigkeit etc. begründet.
71Soweit aber in einem Tarifvertrag bei mehreren eng zusammenhängenden Fragen bezüglich der einen eine vom Gesetz abweichende Regelung getroffen wird, bezüglich der anderen dagegen der Gesetzestext wörtlich wiedergegeben wird, ist davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes allein darum ging, eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden und im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit die unverändert gebliebenen gesetzlichen Regelungen in den Tarifvertrag aufzunehmen (BAG, Urteil vom 27.08.1982 a. a. O.).
72Im diesem Sinne deutet auch der Umstand, daß § 6 RTV zunächst eine Grundregel aufstellt, nach der Lohn mit Ausnahme der im Tarifvertrag bestimmten Fälle nur für die Zeit der Arbeitsleistung gezahlt wird, auf eine bloße Informationsintention der Tarifvertragsparteien bezüglich der Verweisung in § 6 Ziff. 3 RTV hin.
73Im Rahmen der Auslegung des § 6 Ziff. III RTV ist weiter zu berücksichtigen, daß für die Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall seit dem Inkrafttreten des Arbeiterkrankheitsgesetzes, zumindest aber seit Inkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes kein Regelungsbedarf mehr bestand, da die gesetzliche Regelung zu Lasten der Arbeiter nicht geändert werden konnte. Der fehlende Regelungsbedarf aber deutet auf einen fehlenden Regelungswillen der Tarifvertragsparteien hin (Tarifschiedsgericht der ledererzeugenden Industrie, RdA 1997, 175 ff., 176).
74Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob bei Abschluß des Tarifvertrages im September 1993 aufgrund der bereits begonnenen Diskussion um hohe Lohnnebenkosten und um Mißbräuche bei der Inanspruchnahme der Lohnfortzahlung mit einer Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Lohnfortzahlung gerechnet werden mußte.
75Soweit die genannten Umstände eine tarifliche Regelung notwendig erschienen ließen, hätte es sich den Tarifvertragsparteien unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Auslegung von Tarifverträgen nämlich geradezu aufdrängen müssen, im Rahmentarifvertrag die Eigenständigkeit der Regelung über die Lohnfortzahlung hinreichend deutlich zu machen (Tarifschiedsgericht der ledererzeugenden Industrie, a. a. O., S. 176). Eine derartige Klarstellung ist jedoch - wie bereits ausgeführt - unterblieben.
76Die Tarifgeschichte liefert ebenfalls keinen Hinweis auf einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien.
77Auch wenn die 100 %ige Absicherung der Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall eine Kernforderung der Gewerkschaften war, so ist in diesem Bereich die Bedeutung des Tarifvertrages doch seit dem Erlaß entsprechender gesetzlicher Regelungen entfallen. Dementsprechend haben sich die Tarifvertragsparteien seit Inkrafttreten des Arbeiterkrankheitsgesetzes darauf beschränkt, entweder den Gesetzestext teilweise wiederzugeben oder auf diesen Bezug zu nehmen.
78Weitere Anhaltspunkte, die gegen einen deklaratorischen Charakter von § 4 Ziff. 2.1 Abs. 1 RTV sprechen würden, bestehen nicht.
79Zwar wird vereinzelt der Einwand erhoben, der Gesetzgeber sei nicht berechtigt, in entstandene tarifliche Ansprüche mindernd einzugreifen. In diesem Sinne laute die amtliche Begründung des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes dahingehend, daß das Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze ohne Eingriff in die Tarifautonomie erreicht werden solle (Wedde, a. a. O., ArbuR 1996, 421, 427).
80Der Hinweis auf den Vorrang tariflich begründeter Ansprüche ist jedoch verfehlt. Das Verhältnis zwischen gesetzlicher und tariflicher Regelung kann für die Auslegung der streitgegenständlichen Tarifnorm nicht herangezogen werden. Denn ein unzulässiger Eingriff in einen tariflichen Anspruch setzt gerade voraus, daß eine konstitutive tarifliche Regelung besteht, während bei einer deklaratorischen Regelung ein Eingriff gar nicht denkbar ist (Kamanabrou, a. a. O., S. 25). Es handelt sich letztlich um einen unzulässigen Zirkelschluß, wenn das Ergebnis der Auslegung als Grundlage der Argumentation vorweggenommen wird.
81Nach allem war die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
82Gemäß § 97 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 64 Abs. 6 ArbGG hat der Kläger die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels zu tragen.
83Da der Streitwert sich nicht verändert hat, war er gemäß § 3 ff. ZPO unverändert auf 960,40 DM festzusetzen.
84Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache war die Revision gemäß
85§ 72 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1 zuzulassen.
86RECHTSMITTELBELEHRUNG
87Gegen dieses Urteil kann von dem Kläger
88REVISION
89eingelegt werden.
90Für die Beklagte ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.
91Die Revision muß
92innerhalb einer Notfrist von einem Monat
93nach der Zustellung dieses Urteils schriftlich beim
94Bundesarbeitsgericht,
95Graf-Bernadotte-Platz 5,
9634119 Kassel,
97eingelegt werden.
98Die Revision ist gleichzeitig oder
99innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung
100schriftlich zu begründen.
101Die Revisionsschrift und die Revisionsbegründung müssen von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
102gez.: Dr. Pauly gez.: Anacker gez.: Wiese