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Zur Frage eines Zustellungsmangels bei Angabe eines unzutreffenden Aktenzeichens auf der Zustellungsurkunde nach Reform des Zustellungsrechts und zur Heilung etwaiger Zustellungsmängel durch Zahlung des Bußgeldes.
wird der Einspruch des Betroffenen vom 21.09.2022 gegen den Bußgeldbescheid des Hauptzollamts X. vom 09.11.2021 (Aktenzeichen: N01) als unzulässig verworfen.
Die Kosten des gerichtlichen Verfahrens trägt der Betroffene.
I.
21.
3Der Betroffene ist bzw. war Inhaber des Imbisses „I.“ in O. (Bl. 4 f. VV). Nachdem es bereits 2013 zu einer Bußgeldfestsetzung wegen zumindest leichtfertigen Verstößen gegen die sozialrechtliche Meldepflicht gekommen war (Bl. 16 ff, 27 ff. VV), prüfte das Hauptzollamt den Betrieb Ende 2017 (Bl. 10 VV) erneut und forderte den Betroffenen in diesem Zusammenhang zur Vorlage von Aufzeichnungen nach dem MiLoG auf (Bl. 6 ff. VV), zugleich wurden Ermittlungen zu möglichen Mindestlohnunterschreitungen eingeleitet (Bl. 14 f. VV). Nach ausführlichen Ermittlungen (Bl. 34 ff. VV) ließ sich der Betroffene im bußgeldrechtlichen Anhörungsverfahren wegen beider Vorwürfe unter dem 23.10.2021 (Bl. 143 ff. VV) schriftlich gegenüber der Behörde ein und machte zur vorgenommenen Bruttolohnermittlung ebenso Ausführungen wie zu den fehlenden Aufzeichnungen; beide Vorwürfe seien aus seiner Sicht unzutreffend.
4Am 09.11.2021 erließ das Hauptzollamt wegen Verstoßes gegen die Aufzeichnungspflicht (§ 21 Abs. 1 Nr. 7 MiLoG) unter dem Aktenzeichen N01 einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen (Bl. 146 f, 148 ff. VV). Am gleichen Tage erließ das Hauptzollamt wegen eines weiteren Verstoßes nach dem MiLoG unter dem Aktenzeichen N02 einen weiteren, zweiten Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen. Am 01.12.2021 ging beim Hauptzollamt eine Zustellungsurkunde ein, nach der am 26.11.2021 eine Zustellung erfolgt sei; die Zustellungsurkunde trägt das Aktenzeichen N02 (Bl. 152 VV). Am 30.11.2021 gingen beim Hauptzollamt zwei Zahlungen unter Angabe des jeweils zutreffenden, individuellen Kassenzeichens je Bußgeldbescheid (vgl. Bl. 151 VV) in vollständig festgesetzter Höhe (d. h. jeweils Bußgeld nebst Kosten und Auslagen) von einmal 3.636,50 EUR zu N02 und zudem von 1.053,50 EUR zu N01 ein (Bl. 196, 206 VV, Bl. 8).
52.
6Am 21.09.2022 - etwa zehn Monate nach Erlass beider Bußgeldbescheide und Zahlung derselben - legte der Betroffene durch seinen Verteidiger ohne Vollmachtsvorlage Einspruch gegen beide Bußgeldbescheide ein, beantragte die Gewährung von Akteneinsicht und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Einspruchsfrist (Bl. 158 ff. VV). Dem Betroffenen sei Wiedereinsetzung zu gewähren, weil die Rechtsmittelbelehrung zum Teilaspekt der zu wahrenden Form insoweit unrichtig sei, dass sie Möglichkeiten zur elektronischen Einspruchseinlegung unvollständig bzw. unrichtig darstellte (Bl. 159 bis 162 VV). Dies sei „abstrakt kausal dafür, dass der Betroffene als Adressat die Einlegung des Einspruchs als schwieriger oder aufwändiger erachten konnte, als sie nach dem Gesetz war und ist“ (Bl. 162 VV).
7Nach einer Sachstandsanfrage vom 30.10.2022 und einer in Aussicht gestellten Dienstaufsichtsbeschwerde vom 02.12.2022 (Bl. 164 ff. VV) beschied das Hauptzollamt den Betroffenen am 05.12.2022 dahin, dass die Wiedereinsetzungsanträge keinen Erfolg hätten und verwarf die Einsprüche vom 21.09.2022 gegen die beiden Bescheide vom 09.11.2021 (N01 und N02) als unzulässig (Bl. 167 ff. VV). Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren: Eine schuldlose Säumnis sei nicht dargetan; die verteidigerseits angeführte „abstrakte Kausalität“ reiche dafür nicht aus. Auch sei die Rechtsbehelfsbelehrung nicht unrichtig, da die Mindestangaben im Sinne von § 50 OWiG gewahrt seien. Der Bescheid vom 05.12.2022 ging dem Verteidiger ausweislich Empfangsbekenntnis am 12.12.2022 zu (Bl. 175 VV).
8Unter dem 27.12.2022, eingegangen bei der Behörde am gleichen Tage mittels elektronischen Behördenpostfachs, brachte der Betroffene durch seinen Verteidiger jeweils Anträge auf gerichtliche Entscheidung an (Bl. 177 VV).
93.
10Unter dem 29.12.2022 legte das Hauptzollamt die Akten zu den Aktenzeichen N01 und N02 dem zuständigen AG Köln zur Entscheidung gem. § 62 Abs. 2 OWiG vor (Bl. 183 ff. VV).
11Mit Beschluss vom 29.03.2023 (Bl. 192 VV) entschied das AG Köln (Abt. 581), dass der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid vom 09.11.2021 (AZ. N02) unzulässig sei, da verfristet. Die Zustellung sei ordentlich bewirkt worden. Der Einspruch gegen den weiteren Bußgeldbescheid vom 09.11.2021 (AZ. N01) sei hingegen rechtzeitig erfolgt, da ein Zustellungsmangel vorliege. Auf der Zustellungsurkunde dieses Vorganges (d. h. 2117/18) sei lediglich das Aktenzeichen des anderen Bußgeldbescheides (d. h. 2370/18) vermerkt. Die wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides zum AZ. N01 sei daher nicht nachgewiesen, entsprechend habe die Einspruchsfrist zu dieser Sache nicht zu laufen begonnen, der Einspruch sei rechtzeitig.
12Unter dem 09.05.2023 (Bl. 195 VV) entschied das AG Köln (Abt. 581) zudem, dass hinsichtlich des Bußgeldbescheides AZ. N02 die Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrages durch die Behörde zu Recht erfolgt sei. Ein Wiedereinsetzungsgrund bestehe nicht. Insbesondere sei die Rechtsbehelfsbelehrung nicht unrichtig. Diese müsse nicht über jedwede Möglichkeit der Einspruchseinlegung belehren. Dieser weiteren Entscheidung vom 09.05.2023 vorausgegangen war offensichtlich eine Nachfrage des Betroffenen durch seinen Verteidiger zur ebenfalls beantragten Wiedereinsetzung hinsichtlich N02, auf die im Beschluss vom 29.03.2023 zunächst nicht eingegangen worden war (Bl. 205 VV).
134.
14Bereits unter dem 01.04.2023 hatte der Betroffene durch seinen Verteidiger, unter erstmaliger Vorlage einer auf den 21.09.2022 datierten, die Aktenzeichen beider Vorgänge ausweisenden Vollmacht (Bl. 189 VV), unter Bezugnahme auf den Beschluss des AG Köln vom 29.03.2023 beantragt, den „rechtsgrundlos gezahlten Betrag € 1.053,50 EUR zu erstatten“; nach dem Beschluss des AG Köln sei der Einspruch hinsichtlich dieser Sache rechtzeitig erfolgt und der Bußgeldbescheid damit nicht rechtskräftig und nicht vollstreckbar. „Die Zahlung € 1.053,50 EUR ist rechtsgrundlos erfolgt und zu erstatten“ (Bl. 186 VV ff.).
15Die Erstattung der gezahlten Buße nebst Kosten und Auslagen in dieser Sache in Höhe von 1.053,50 EUR erfolgte durch die Behörde Ende Juni 2023 (Bl. 208 VV).
16Unter dem 29.08.2023 legte das Hauptzollamt die Akten dem Gericht über die Staatsanwaltschaft gem. § 69 Abs. 3 OWiG unter dem neuen Aktenzeichen N03 (früher N01) vor, nachdem es beim Verteidiger unter dem 18.07.2023 nach einer Begründung zu dem nach der Entscheidung des AG Köln vom 29.03.2023 rechtzeitigen Einspruch in dieser Sache angefragt hatte und kein Eingang zu verzeichnen war (Bl. 209 ff. VV).
175.
18Die Akte ging am 26.09.2023 beim Amtsgericht ein (Bl. 3) und wurde schließlich der Abt. 582 zugewiesen, da es sich um eine Wirtschaftssache im Sinne des Geschäftsverteilungsplans handelt (Bl. 2R).
19Das Gericht hat den Verteidiger unter dem 20.10.2023 angehört: Zunächst sei das Gericht gehalten zu prüfen, ob der Einspruch rechtzeitig sei, § 70 OWiG. Dies gelte auch und unabhängig von einer vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung gem. § 62 OWiG - sogar selbst dann, wenn, was hier schon nicht der Fall ist, Personenidentität des zuständigen Amtsrichters bestehe. Mit Blick auf die vollständige Zahlung der im hier gegenständlichen Bußgeldbescheid festgesetzten Buße nebst Kosten und Auslagen sei zu erwägen, ob nicht jedenfalls ein tatsächlicher Zugang festgestellt werden könne (Bl. 4). Parallel wurde die Behörde angehört (Bl. 8 f.).
20Unter dem 30.10.2023 hat sich der Verteidiger geäußert (Bl. 11 ff.): Eine Heilung des Zustellungsmangels früher als vor dem 07.09.2022 sei nicht feststellbar. Es sei nicht ersichtlich, wer die Zahlung vorgenommen habe. „Denkbar möglich“ sei auch, dass die Ehefrau des Betroffenen die „etwaig eingegangene Sendung“ geöffnet und dem Betroffenen nur den beigefügten, vorausgefüllten Überweisungsvordruck „übergeben haben könnte“ mit dem „Bemerken, der Betroffene müsse den Betrag bezahlen“ (Bl. 12 oben). Es sei auch „ggf. nicht auszuschließen, dass ggf. der Zahlungsveranlasser lediglich selbst einen vorbereiteten Überweisungsträger selbst in die Hand bekommen oder sonst die für eine etwaige Zahlung benötigten Informationen anders als durch Erhalt einer Ausfertigung des Bußgeldbescheides […] in Erfahrung gebracht hatte, etwa durch mündliche Überlieferung von einem als Zustellungsadressat untauglichen Dritten…“ (Bl. 12 Mitte).
21Selbst wenn man zu einer Heilung des Zustellungsmangels käme, sei dem Betroffenen Wiedereinsetzung zu gewähren. Denn die Rechtsbehelfsbelehrung sei in wesentlicher Hinsicht unrichtig, stelle sie doch eine elektronische Einlegung des Einspruchs anders bzw. aufwendiger dar (Bl. 12 unten, Bl. 13 oben). Dies gelte insbesondere auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des BSG (Bl. 13 bis Bl. 15 Mitte). Zugunsten des Betroffen, der über einen Computer mit u. a. einem E-Mail-Postfach und einem Internetzugang verfügte, sei zu unterstellen, dass er, wenn er nicht unter dem Eindruck der Rechtsbehelfsbelehrung gestanden hätte, zu einem früheren Zeitpunkt „… ohne Beauftragung eines Verteidigers sofort per einfacher E-Mail mit einem Inhalt, der keinen Zweifel an seiner Urheberschaft gelassen hätte, an das HZA fristgerecht selbst Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hätte…“ (Bl. 15 unten bis Bl. 16 oben). Das Hindernis einer früheren Einspruchseinlegung sei erst anlässlich „eines anderen Anlasses einer Anwaltskonsultation“ entfallen (Bl. 16 Mitte).
22II.
23Der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid ist unzulässig, da verspätet, was das Gericht auch nach vorgehender, die Zulässigkeit des Einspruchs aussprechender gerichtlicher Entscheidung gem. § 62 OWiG als Hauptsachegericht gem. § 70 OWiG selbst zu prüfen und ggf. auszusprechen hat (dazu 1). Denn tatsächlich besteht wohl schon kein Zustellungsmangel hinsichtlich des Bußgeldbescheides vom 09.11.2021, mag die Zustellungsurkunde auch das unzutreffende (zweite) Aktenzeichen des anderen, taggleichen Bußgeldbescheides tragen (dazu 2). Jedenfalls wäre ein Zustellungsmangel geheilt (dazu 3). Dem Betroffenen kann auch keine Wiedereinsetzung in die hiernach versäumte Einspruchsfrist gewährt werden, weil schon zweifelhaft ist, ob die Rechtsbehelfsbelehrung überhaupt im behaupteten Sinne fehlerhaft ist (dazu 4), es aber jedenfalls an einem zureichenden, d. h. zulässigen Wiedereinsetzungsantrag mangelt (dazu 5).
241.
25Nach Abgabe durch die Verwaltungsbehörde gem. § 69 Abs. 3 OWiG ist es Aufgabe des Bußgeldrichters, zunächst von Amts wegen die Rechtzeitigkeit des Einspruchs zu überprüfen, da diese eine Verfahrensvoraussetzung für das gerichtliche Verfahren ist (Ellbogen, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 70 Rn. 1 f; Krumm, in: Gassner/Seith, Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Auflage 2020, § 70 Rn. 1). Das Gericht ist bei dieser Prüfung weder an die Auffassung der Behörde gebunden, noch an eine ggf. vorausgehende gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit im Wege des § 69 Abs. 1 S. 2 OWiG (Ellbogen, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 70 Rn. 2a; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Auflage 2022, § 70 Rn. 2, 7; Krumm, in: Gassner/Seith, Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Auflage 2020, § 70 Rn. 1). Es ist daher Aufgabe des nun mit der (Haupt-)Sache befassten Gerichts, eigenständig die Frage der rechtzeitigen Einspruchseinlegung durch den Betroffenen am 21.09.2022 gegen den Bußgeldbescheid des Hauptzollamts X. vom 09.11.2021 zu überprüfen.
262.
27Ausgangspunkt der Einspruchsfrist ist die wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides, § 67 Abs. 1 S. 1 OWiG. Mit der Zustellung beginnt die zweiwöchige Einspruchsfrist zu laufen; fehlt die Zustellung oder ist sie wegen schwerer Rechtsmängel unwirksam, wird die Frist nicht in Gang gesetzt (s. nur Ellbogen, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 67 Rn. 77).
28Vorliegend verfügte die Behörde unter dem 09.11.2021 den Erlass eines Bußgeldbescheides gegen den Betroffenen (Bl. 146 f. VV). Dieser wurde am gleichen Tage unter dem Aktenzeichen des gesamten Vorganges (N01) erlassen (Bl. 148 ff. VV). Beim Vorgang befindet sich, worauf bereits das AG Köln in seiner vorgehenden Entscheidung zur Zulässigkeit des Einspruchs hinwies, aber lediglich eine Zustellungsurkunde mit dem Aktenzeichen N02 (Bl. 152 VV); die Zustellungsurkunde bescheinigt im Übrigen, dass die Postbedienstete Limbach am 26.11.2021 die Übergabe versucht habe und, weil dies nicht möglich war, die Sendung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten des namentlich korrekt bezeichneten Betroffenen unter seiner bis heute zutreffenden Anschrift einlegte (Bl. 152 R VV).
29Das Vorgericht meint nun, dass das unzutreffende Aktenzeichen auf der Zustellungsurkunde (N02 statt richtig N01) zu einem gravierenden Zustellungsmangel führe, der die Zustellung unwirksam mache (Bl. 202 VV).
30Normativer Ausgangspunkt der Zustellung ist § 51 OWiG. Die Zustellung des Bußgeldbescheides erfolgt demnach nach dem VwZG bei - wie hier durch das Hauptzollamt - Handeln einer Bundesbehörde. Vorliegend steht die von der Behörde gewählte (§ 2 Abs. 3 S. 1 VwZG, Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 51 Rn. 20) Zustellungsart der Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde in Rede, § 3 VwZG. Nach § 3 Abs. 1 VwZG gilt, soll durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt werden, dass die Behörde der Post den Zustellungsauftrag, das zuzustellende Dokument in einem verschlossenen Umschlag und einen vorbereiteten Vordruck einer Zustellungsurkunde übergibt. § 3 Abs. 2 VwZG bestimmt insbesondere, dass für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend gelten und für die Zustellungsurkunde, den Zustellungsauftrag, den verschlossenen Umschlag nach § 3 Abs. 1 VwZG die Vordrucke nach der Zustellungsvordruckverordnung zu verwenden sind.
31Richtig ist, wie das Vorgericht ausführte, in Literatur und Rechtsprechung allenthalben ein Mangel der Zustellung im falschen oder fehlenden Aktenzeichen auf der Zustellungsurkunde erkannt wurde (so u. a. BGH, Urteil vom 23.06.1965 - IV ZR 186/64; OLG Nürnberg, Urteil vom 18.01.1963 - 4 U 154/62; OLG Koblenz, Beschluss vom 15.01.2004 - 2 Ss 2/04; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Auflage 2022, § 51 Rn. 31; Kreusch, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Auflage 2021, § 51 OWiG Rn. 9; Gassner, in: Gassner/Seith, Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Auflage 2020, § 51 Rn. 20), wobei Unterschiede im Einzelfall gemacht werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 17.07.2002 - 2 Ss OWi 443/02).
32Ob das heute noch zutrifft ist zweifelhaft. Denn diese überkommende Auffassung geht auf eine frühere Rechtslage zurück, die nach der Reform des Zustellungsrechts nicht mehr zutrifft: Früher verwies § 3 Abs. 3 VwZG auf § 195 Abs. 2 ZPO aF und ordnete dessen entsprechende Geltung an; § 195 Abs. 2 S. 1 ZPO aF bestimmte wiederum, dass die Zustellungsurkunde die Angabe der Geschäftsnummer der betroffenen Sendung enthalten müsse. Auch § 3 Abs. 1 S. 1 VwZG aF selbst enthielt eine vergleichbare Vorgabe. Beides ist heute nicht mehr der Fall. § 3 VwZG in der seit 2006 geltenden - auch hier maßgeblichen - Fassung verweist, wie ausgeführt, lediglich noch auf die §§ 177 bis 182 ZPO, die selbst auch keine dem früheren § 195 Abs. 2 S. 1 ZPO aF entsprechende Regelung beinhalten. § 182 ZPO, der dem früheren § 191 ZPO aF nachgebildet ist, verlangt (und verlangte auch schon früher) als Inhalt der Zustellungsurkunde nicht die Angabe des Akten- oder Geschäftszeichens - dies konsequent, denn früher ordneten dies, wie ausgeführt, § 195 Abs. 2 S. 1 ZPO aF bzw. § 3 Abs. 1 S. 1 VwZG aF separat an. Die früher vorgeschriebene Angabe von Akten- oder Geschäftszeichen in der Zustellungsurkunde kennt das Gesetz heute nicht mehr (instruktiv zum Ganzen: Steiner, NVwZ 2002, 437). Dies mag an dem Willen des Zustellreformgesetzgebers liegen, die Zustellung zu vereinfachen und weniger angreifbar zu machen (s. Häublein/Müller, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 182 Rn. 1 f.).
33Zu den mit dieser Rechtsänderung ggf. konkret verbundenen Auswirkungen schweigen Literatur und Rechtsprechung, soweit ersichtlich. Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 51 Rn. 40 meint lediglich allgemein, die Reform des Zustellungsrechts habe zu keinen sachlichen Änderungen geführt, führt dies aber nicht weiter aus und begründet das auch nicht. Gassner, in: Gassner/Seith, Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Auflage 2020, § 51 Rn. 30 meint - ähnlich Häublein/Müller, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 182 Rn. 1 f. - dass die formgerechte Beurkundung der Zustellung entgegen der früheren Rechtsprechung vor Inkrafttreten des Zustellungsreformgesetzes nach dem Willen des Gesetzgebers kein konstitutiver Bestandteil der wirksamen Zustellung mehr sei; bei Fehlern in der Zustellungsurkunde gelte § 419 ZPO.
34Das Gericht neigt zu letzterer Auffassung, muss diese Frage letztlich aber nicht entscheiden. Relevant mag aber die Erwägung sein, dass die Annahme eines Zustellungsmangels, der mit weitreichenden Folgen verbunden sein kann, nicht ohne normative Grundlage erfolgen sollte. Das kann im Ergebnis aber offen bleiben: Geht man mit der überkommenen Auffassung von einem möglichen Zustellungsmangel aus, ist jedenfalls dessen Heilung eröffnet, § 8 VwZG (dazu sogleich). Andernfalls mag die, durch die Angabe des Aktenzeichens vermittelte, fragliche Verknüpfung von zugestelltem Inhalt und Zustellungsurkunde (hier konkret der Bußgeldbescheid N01 statt angegebenem Aktenzeichen N02, der dann ggf. zweimal zugestellt worden wäre) aus anderen Umständen freibeweislich zu ziehen sein (dafür Steiner, NVwZ 2002, 437; in diese Richtung wohl auch Gassner, in: Gassner/Seith, Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Auflage 2020, § 51 Rn. 30 mit Verweis auf § 419 ZPO). Letztlich mögen daher Umstände, die nach überkommener Auffassung zur Heilung eines evtl. Zustellungsmangels führen können nach anderer Auffassung, die keinen Zustellungsmangel mehr annimmt, zur ausreichenden inhaltlichen Verknüpfung von Zustellungsurkunde und zugestelltem Schriftstück führen.
353.
36Nähme man, wie das Vorgericht, einen - noch dazu erheblichen - Mangel in der Zustellung an, weil die Zustellungsurkunde Bl. 152 VV das Aktenzeichen des zweiten Bußgeldbescheides der Behörde gegen den Betroffenen vom 09.11.2021 ausweist (N02 statt richtig N01), wäre eine Heilung gem. § 8 VwZG zu prüfen. Nach anderer Ansicht können hinzutretende Umstände zur ausreichenden Verknüpfung von Zustellungsurkunde und dem konkret zugestellten Schriftstück führen.
37§ 8 VwZG bezweckt, Zustellungsmängel folgenlos zu stellen, wenn auch mit bzw. trotz diesen der Zweck der Zustellung erreicht worden ist, nämlich der tatsächliche Zugang des zuzustellenden Dokuments beim Zustellungsadressaten (s. nur Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG, VwZG, 12. Auflage 2021, § 8 VwZG Rn. 2; Danker, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Auflage 2021, § 8 VwZG Rn. 2). Die Norm setzt voraus, dass die Behörde eine Zustellung vornehmen wollte und dass das zuzustellende Dokument so „in die Hand des Empfängers gelangt“ ist und jener Kenntnis nehmen konnte, wie es bei ordnungsgemäßer Zustellung der Fall gewesen wäre; der Empfang des Dokuments lässt sich mit jedem Beweismittel dartun, es genügen auch schlüssige Handlungen des Zustellungsempfängers (s. Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG, VwZG, 12. Auflage 2021, § 8 VwZG Rn. 2). Dies übersieht und verengt der angehörte Verteidiger. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist die Feststellung tatsächlicher Umstände, die auf einen tatsächlichen Zugang schließen lassen.
38Vorliegend sprechen zahlreiche Umstände für einen solchen tatsächlichen Zugang beim Betroffenen. Jedenfalls in ihrer Gesamtschau tragen diese die Feststellung, dass ein möglicher Zustellungsmangel (wenn man ihn noch annimmt) jedenfalls geheilt wurde bzw. dem Betroffenen gerade auch der Bescheid der Behörde vom 09.11.2021 (N01) am 26.11.2021 (Datum der Zustellungsurkunde) zugestellt wurde (s. o. unter 2).
39Vorliegend gingen bei der Behörde am 30.11.2021, also vier Tage nach möglicher Zustellung, zwei Zahlungen ein: Eine über 3.636,50 EUR unter Angabe des individuellen Kassenzeichens aus dem Bescheid vom 09.11.2021 mit dem AZ. N02, zudem eine weitere Zahlung über 1.053,50 EUR unter Angabe des weiteren, ebenfalls individualisierten Kassenzeichens aus dem Bescheid vom 09.11.2021 mit dem AZ. N01. Letzteres ist das hiesige Verfahren. Werden am 30.11.2021 aber - jeweils unter Angabe der zwei einzelnen, individuellen Kassenzeichen - zwei Zahlungen in jeweils zutreffender Höhe wie in zwei verschiedenen Bußgeldbescheiden vom gleichen Tage festgesetzt (d. h. jeweils Buße zzgl. Kosten und Auslagen) geleistet, steht ersichtlich die Frage im Raum, ob dem Betroffenen der hier gegenständliche Bescheid vom 09.11.2021 (N01) nicht notwendigerweise tatsächlich zugegangen ist.
40Der Verteidiger wendet hierzu ein, dass nicht feststehe, dass gerade der Betroffene die Überweisung durchgeführt, mithin er den Bescheid tatsächlich erhalten hätte. Es sei nicht feststellbar, wer ggf. eine Zahlung veranlasst habe und warum. Es sei „nicht auszuschließen“, dass der Zahlungsveranlasser die für die Zahlung notwendigen Informationen oder den Überweisungsträger in die Hand bekommen hätte, ggf. auch nur durch „mündliche Überlieferung“ eines Dritten. „Denkbar möglich“ sei schließlich auch, dass die Ehefrau des Betroffenen die Sendung geöffnet und dem Betroffenen den Überweisungsträger der Behörde mit dem „Bemerken, der Betroffene müsse den Betrag bezahlen“ übergeben „haben könnte“.
41Derlei hypothetische Erwägungen vermögen nicht zu überzeugen: Dass der Betroffene selbst die Zahlung veranlasste ergibt sich mittelbar auch aus dem Umstand, dass er (durch seinen Verteidiger) die Rückzahlung derselben an sich von der Behörde forderte, sobald der Beschluss des Vorgerichts über die dort ausgesprochene Rechtzeitigkeit des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid N01 vorlag. Konkret forderte der Verteidiger am 01.04.2023 (Bl. 186 VV) die Erstattung „zu seinen Händen“ unter Verweis auf die ihn „legitimierende Vollmacht des Betroffenen“. Beigefügt ist dem Schriftsatz eine Vollmacht vom 21.09.2022, die im Kopf beide Aktenzeichen der gegen den Betroffenen geführten Bußgeldverfahren vollständig enthält (N01 und N02). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass ein unbekannter Dritter die Forderung aus dem Bescheid N01 in voller Höhe und unter Angabe des individuellen Kassenzeichens bezahlte; derlei ist - es geht immerhin um 1.053,50 EUR - auch nicht lebensnah. Am gleichen Tage wurde zudem auch die Forderung aus dem weiteren Bescheid N02 in voller Höhe und unter Angabe des dortigen individuellen Kassenzeichens beglichen, immerhin weitere 3.636.50 EUR. Es erscheint bemerkenswert, dass beide Bescheide am gleichen Tage, nur vier Tage nach (möglicher) Zustellung und deutlich vor Eintritt der Vollstreckungsreife bezahlt wurden. Ohnehin gilt: Hätte tatsächlich ein Dritter für den Betroffenen auf dessen Bußgeldforderung gezahlt, hätte dem Dritten ein möglicher öffentlich-rechtlicher Rückzahlungsanspruch zugestanden, nicht aber dem Betroffenen, der ihn - wie ausgeführt - aber ganz selbstverständlich selbst gegenüber der Behörde geltend machte.
42Die ebenfalls vorgetragene hypothetische Variante der Verteidigung, „denkbar möglich“ sei doch auch, dass die Ehefrau des Betroffenen die Sendung geöffnet und dem Betroffenen den Überweisungsträger der Behörde mit dem „Bemerken, der Betroffene müsse den Betrag bezahlen“ übergeben „haben könnte“, erscheint angesichts der Gesamtumstände ebenfalls fernliegend. Der Betroffene ist als Inhaber eines Gastronomiebetriebes tätig. Mit Bl. 143 f. VV nahm er auf die Anhörung der Behörde zu zwei ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeiten ausführlich Stellung und machte dabei Ausführungen bis hin zur Lohnberechnung und der Sachbezugsverordnung. Da zudem ein nicht völlig unbedeutender Betrag in Rede steht - 1.053,50 EUR - ist es völlig lebensfremd zu meinen, der Betroffene hätte den Betrag gleichsam „auf Zuruf“ seiner Ehefrau bezahlt, ohne zuvor den zugrundeliegenden Bescheid als Zahlungsgrund erfragt und zur Kenntnis genommen zu haben.
43Ebenfalls in den Blick zu nehmen sind die Umstände der Einspruchseinlegung am 21.09.2022 durch den Betroffenen mittels seines Verteidigers selbst. Bei Einspruchseinlegung (und Erteilung der auf den gleichen Tage datierten Vollmacht) war das vollständige Aktenzeichen des Bescheides offensichtlich bekannt (Bl. 158 VV). Der Betroffene und sein Verteidiger müssen sich fragen lassen, woher der Betroffene, der einen tatsächlichen Zugang des Bescheides N01 mit zahlreichen hypothetischen Varianten in Abrede stellt, jedenfalls aber anzweifelt, dieses vollständige Aktenzeichen eigentlich kannte. Absehbar mag der Verteidiger einwenden, dass der Betroffene den Bescheid dann eben erst am 21.09.2022 erhalten habe, zur Kenntnis nahm und sogleich den Verteidiger konsultierte (s. Bl. 16 am Ende). Indes fällt auf, dass der sich von Bl. 159 bis 162 VV über vier eng beschriebene Seiten zu Fragen der angeblichen Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung kaprizierende Einspruchsschriftsatz sich mit keinem Wort zu einem angeblichen Zustellungsmangel bzw. einer erst am Tage des Schreibens hergestellter Kenntnis verhält. Es wäre zu erwarten gewesen, dass dieser Umstand, etwa im Zusammenhang mit einem doch sicher „denkbar möglichen“ Wiedereinsetzungsantrag aufgrund Vorenthaltens des Bußgeldbescheides durch die sonst zuverlässige Ehefrau, weshalb der Betroffene schuldlos jetzt erst Kenntnis nehmen konnte, Erwähnung gefunden hätte (vgl. dazu etwa Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 52 Rn. 15). Tatsächlich verhält sich der Einspruch zur Frage dazu und zur Frage des Zeitpunktes der Kenntnisnahme des Betroffenen von dem Bußgeldbescheid N01 überhaupt nicht.
44Tatsächlich versuchen sich der Betroffene und sein Verteidiger bei Lichte besehen an der Quadratur des Kreises: Einerseits habe den Betroffenen die vermeintlich falsche Rechtsmittelbelehrung im Bescheid N01 mit ihren angeblich „überhöhten“ Anforderungen von der Rechtsmitteleinlegung bis zur Aufklärung durch den Verteidiger am 21.09.2022 - jedenfalls möglicherweise - abgehalten (s. Bl. 12 bis 16). Andererseits meinen Betroffener und Verteidiger aber zugleich, dass überhaupt nicht sicher festgestellt werden könne, auch nicht durch die erfolgte Zahlung auf beide Bußgeldbescheide nur vier Tage nach möglicher Zustellung, dass der Betroffene von dem hier gegenständlichen Bescheid N01 überhaupt vor dem 21.09.2022 Kenntnis erlangt habe. Beides kann offensichtlich nicht stimmen. Angesichts des bisherigen Vorbringens ist man versucht zu fragen, ob es nicht auch „denkbar möglich“ sei, dass die Ehefrau des Betroffenen diesem nicht nur sämtliche Zahlungsinformationen zurief, sondern auch - und nur - die Rechtsmittelbelehrung des Bescheides, weshalb der Betroffene im Ergebnis a) einerseits vollständig zahlen konnte, b) andererseits von einer angeblich falschen Rechtsmittelbelehrung vom rechtzeitigen Einspruch abgehalten wurde und bei alledem c) freilich - wie betont wird - den Bescheid doch nie selbst „in die Hand bekam“.
45Bei gebotener Betrachtung aller Umstände steht es nach Überzeugung des Gerichts hiernach sicher fest, dass der Betroffene den Bußgeldbescheid N01 wenn schon nicht zum Zustelldatum (26.11.2021) erhielt, wobei auf der Zustellungsurkunde fälschlich das zweite Aktenzeichen des taggleichen anderen Bescheides aufgedruckt war, so doch - bei taggleich ausgeführter Überweisung - spätestens am aktenkundigen Zahltag (30.11.2021) erhalten hatte und zur Kenntnis nehmen konnte. Denn nähme man, wie das Vorgericht in seinem Beschluss vom 29.03.2023, noch einen Zustellungsmangel aufgrund des unzutreffenden Aktenzeichens auf der Zustellungsurkunde an, wäre dieser Mangel gem. § 8 VwZG geheilt worden. Folgte man jener überkommenen Auffassung nach neuem Zustellrecht nicht mehr (oben 2), ergäbe sich jedenfalls aus den äußeren Umständen zweifelsfrei, dass dem Betroffenen gerade eben der Bescheid N01 am 26.11.2021 zugestellt wurde, mag die Zustellungsurkunde auch das Aktenzeichen des zweiten, ebenfalls am 09.11.2021 erlassenen Bescheides N02 tragen.
464.
47Steht die Zustellung des hier gegenständlichen Bescheides N01 spätestens jedenfalls zum 30.11.2021 hiernach nicht in Frage, begann die zweiwöchige Einspruchsfrist zumindest an diesem Tag zu laufen und endete dann offensichtlich lange vor dem 21.09.2022, dem Eingang des Einspruchsschreibens bei der Behörde.
48Verteidigerseits wird unter ausführlichem Verweis auf sozialgerichtliche Rechtsprechung breit vorgetragen, dass die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig sei. Dem Betroffenen sei daher jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Bl. 159 bis 162 VV, Bl. 12 unten bis 16 oben). Die behauptete Unrichtigkeit soll konkret darin liegen, dass zur Frage der Einlegung des Einspruchs per E-Mail teilweise unrichtige bzw. zu hohe Anforderungen mitgeteilt wurden.
49Im Ausgangspunkt ist hierzu festzuhalten, dass sich dem Gericht schon nicht erschließt, was mit dem seitenfüllenden Einrücken sozialgerichtlicher Entscheidungstexte erreicht werden soll. Sedes materiae ist § 50 Abs. 2 OWiG, danach ist bei der Bekanntmachung eines Bescheides der Verwaltungsbehörde, der durch einen befristeten Rechtsbehelf angefochten werden kann, die Person, an die sich die Maßnahme richtet, über die Möglichkeit der Anfechtung und die dafür vorgeschriebene Frist und Form zu belehren. Die verteidigerseits allenthalben angeführte Rechtsprechung bezieht sich auf § 84 Abs. 1 S. 1 SGG, nach dem der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs. 2 SGB I oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen ist, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Es ist offensichtlich, dass § 84 SGG eine andere Belehrung fordert, als der hier allein maßgebliche § 50 OWiG.
50§ 50 Abs. 2 OWiG verhält sich insbesondere nicht zur elektronischen Form. In der Rechtsprechung zum - hier allein entscheidenden - § 50 Abs. 2 OWiG ist im Übrigen geklärt, dass, worauf bereits das Vorgericht in seinem Beschluss gem. § 62 OWiG hingewiesen hat, der Betroffene nicht über jedwede Möglichkeit der Einspruchseinlegung informiert werden muss. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist die Belehrung, wenn angegeben wird, dass der Rechtsbehelf schriftlich oder zur Niederschrift bei der Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat, einzulegen ist, wie es § 67 Abs. 1 S. 2 OWiG vorgibt (ausf. Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 50 Rn. 14 f; Kreusch, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 3. Auflage 2021, § 50 Rn. 11; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Auflage 2022, § 50 Rn. 12).
51Das Gesetz verlangt eindeutig keine Belehrung über eine Einlegung in „elektronischer Form“. Das Gesetz verlangt auch keine Belehrung über alle Einzelheiten, die im konkreten Fall ggf. relevant sein könnten, namentlich die verschiedenen Möglichkeiten zur Wahrung der vorgegebenen Schriftform (Einschreiben, Standardbrief, Telefax pp.) oder die konkrete Berechnung des Fristablaufs; derlei ist Sache des Betroffenen, der sich im Übrigen jederzeit Rechtsrat einholen kann (ausf. Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 50 Rn. 13 f; s. a. BVerfG, Beschluss vom 27.07.1971 - 2 BvR 118/71).
52Der - wohl so zu verstehenden - Ansicht des Verteidigers, die breit auf den hier offensichtlich nicht relevanten § 84 SGG rekurriert, ist ohnehin entgegenzuhalten, dass in anderen Verfahrensordnungen sogar die Belehrung über die einzuhaltende Form nicht einmal erforderlich ist, d. h. noch geringere Anforderungen gelten als in § 50 OWiG. Dies ist namentlich in § 58 Abs. 1 VwGO der Fall, der ausdrücklich keine Belehrung über die Form vorsieht. Diese zu wahren ist - anerkanntermaßen - Sache des Adressaten (ausf. Meissner/Schenk, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 44. EL März 2023, § 58 VwGO Rn. 43; Hoppe, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Auflage 2022, § 58 Rn. 12). Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 27.02.1976 - IV C 74/74) hat hierzu instruktiv ausgeführt: „Rechtsbehelfsbelehrungen haben nicht die Aufgabe, dem Betroffenen - bis nahezu an die Grenze einer Bevormundung - alle eigenen Überlegungen bezüglich der Art seines weiteren Vorgehens abzunehmen. Es ist vielmehr sachgerecht, auch den Betroffenen Verantwortung tragen zu lassen. Das entspricht nur seiner Stellung als eines von der Verfassung mit Freiheitsgrundrechten ausgestatteten Staatsbürgers, in dessen grundsätzlich freie Entscheidung auch gestellt ist, ob er einen Rechtsbehelf überhaupt wahrnehmen will. Damit stimmte es nicht überein, wenn in der Frage der konkreten Einlegung der Rechtsbehelfe von der Vorstellung ausgegangen würde, dieser Staatsbürger sei unfähig, sich über die Einzelheiten eines Rechtsbehelfs Gedanken zu machen und eventuell auch Erkundigungen einzuziehen.“
53Diesen überzeugenden Erwägungen mag der Gesetzgeber im Sozialrecht nicht gefolgt sein und mit § 84 SGG eine umfassendere Belehrungspflicht statuiert haben. Für das hiesige Verfahren gibt das nichts her; § 50 Abs. 2 OWiG mutet dem Betroffenen zu Recht zu, sich - in Übereinstimmung mit § 58 Abs. 1 VwGO - ein Stück weit selbst um die Wahrnehmung seiner Angelegenheiten zu kümmern und sich, so ihm der - über § 58 Abs. 1 VwGO sogar vorgeschriebene - Formhinweis auf die Schriftform unklar ist, insoweit Rechtsrat einzuholen. § 50 Abs. 2 OWiG verlangt es daher weder normativ, noch aufgrund einer irgendwie zu § 84 SGG zu ziehenden Parallele, über alle denkbaren Möglichkeiten der Formwahrung zu belehren.
54Soweit verteidigerseits weitergehend aufgeworfen wird, dass die Rechtsbehelfsbelehrung im vorliegenden Fall jedenfalls aber irreführend gewesen sei, weil sie - womöglich - einzelne Aspekte der Einlegung in „elektronischer Form“ überobligatorisch erläuterte, nicht aber alle apokryphen Spielarten derselben richtig darstellte, kann das im Ergebnis offen bleiben. Erforderlich wäre freilich zudem eine Unrichtigkeit in einem wesentlichen Punkt (Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 50 Rn. 20). Letztlich beeinträchtigt selbst eine unterstellte überobligatorisch-unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung die Wirksamkeit des Bußgeldbescheides und insbesondere den Beginn des Laufs der Rechtsmittelfrist nicht (s. nur Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 50 Rn. 20). Sie führt lediglich zur Frage einer möglichen Wiedereinsetzung.
555.
56Der Verteidiger meint schließlich, dass dem Betroffenen vorliegend letztlich zumindest Wiedereinsetzung (scil: in die Einspruchsfrist) zu gewähren wäre. Für den Betroffenen „sei zu unterstellen“, dass er gerade in der / den - im Bußgeldbescheid vermeintlich fehlenden bzw. falsch belehrten - elektronischen Variante(n) Einspruch eingelegt hätte, wäre er anders belehrt worden (Bl. 15 Mitte bis 16).
57Das ist allerdings schon im Ausgangspunkt rechtlich unzutreffend. Denn im Rahmen des strafprozessualen bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlichen Wiedereinsetzungsverfahrens ist es Sache des Betroffenen, seinen Antrag zu begründen, §§ 52 Abs. 1 OWiG, 45 Abs. 2 StPO. Es ist Sache des Antragstellers, einen schlüssigen Sachverhalt vorzutragen, der eigenes Verschulden an der Säumnis ausschließt (Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 52 Rn. 25 mwN). Dies gilt ganz konkret unverändert auch dann, wenn - wie hier geltend gemacht - eine angeblich falsche bzw. unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung vorliegen soll: Die gesetzliche Vermutung der unverschuldeten Säumnis bei einem Belehrungsfehler (§ 44 S. 2 StPO) bezieht sich nur auf die Schuldfrage bei der Fristversäumung, nicht auf die Ursächlichkeit zwischen fehlender Belehrung und Fristversäumung; im Wiedereinsetzungsantrag muss daher dargelegt werden, dass die Frist gerade wegen der unrichtigen bzw. fehlenden Belehrung versäumt worden ist, es bedarf eines - worauf die Behörde bereits zutreffend hinwies - darzulegenden Kausalitäts- bzw. Ursachenzusammenhangs (s. nur OLG Köln, Beschluss vom 20.01.1984 - 1 Ss 914/83; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.11.1985 - 1 Ws 1028/85; OLG Koblenz, Beschluss vom 26.07.1990 - 1 Ss 202/90; OLG Hamm, Beschluss vom 05.02.2013 - 1 RVs 85/12; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17.12.1996 - 2 Ws 214/96; Lampe, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 52 Rn. 18; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Auflage 2022, § 52 Rn. 10). Für den Betroffenen muss also keineswegs pauschal „unterstellt“ werden, dass er in einer vermeintlich fehlenden apokryphen elektronischen Übersendungsvariante rechtzeitig Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt hätte.
58Dass der Betroffene sich an der rechtzeitigen Einspruchseinlegung aufgrund der behaupteten möglichen Fehler in der Rechtsbehelfsbelehrung aber konkret gehindert sah, ist schon nicht vorgetragen; Verteidiger breitet nur abstrakte Möglichkeiten aus (Bl. 15 unten). Wie bereits oben (Ziff. 3 am Ende) angemerkt wohl auch aus nachvollziehbarem Grunde: Der Betroffene, der durch seinen Verteidiger vorliegend allerlei Angriffsversuche gegen den Bußgeldbescheid unternimmt, kann nicht einerseits schon die Zustellung des Bescheides in Zweifel ziehen, sodann auch die Möglichkeit der tatsächlichen Kenntnisnahme desselben durch den Betroffenen abstreiten um schließlich sinnvoll dazu vorzutragen, dass der Betroffene durch die konkrete Rechtsbehelfsbelehrung ursächlich an der Einspruchseinlegung gehindert wurde. Denn damit müsste - was der Betroffenen durch seinen Verteidiger ja zugleich bestreitet - eingeräumt werden, dass ihm der Bußgeldbescheid tatsächlich vorlag. Diese fehlende konkrete Darlegung wäre umso notwendiger gewesen, weil der Betroffene ausweislich Bl. 143 ff. VV - entgegen den Angaben des Verteidigers Bl. 15 - offensichtlich sehr wohl über die Möglichkeit zum Erstellen von Schriftstücken verfügt, die er per Post (konkret sogar als Einschreiben) an die Behörde versenden konnte, namentlich seine Stellungnahme zum Tatvorwurf vom 21.10.2021. Warum eine Einspruchseinlegung in gleicher Form nicht möglich gewesen sein soll, erläutert der Wiedereinsetzungsantrag nicht.
59Unabhängig davon ist der Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen durch seinen Verteidiger auch unter anderen Gesichtspunkten unzureichend.
60Gem. § 45 Abs. 2 S. 1 StPO ist der Wiedereinsetzungsantrag, wie ausgeführt, zu begründen; die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen. Diese „Wahrscheinlichkeitsmachung“ ist hinsichtlich aller Tatsachen erforderlich, die für die Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags von Bedeutung sind (Maul, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 45 Rn. 10). Fehlt es an der erforderlichen Glaubhaftmachung ist der Wiedereinsetzungsantrag bereits unzulässig (s. nur BGH, Beschluss vom 24.07.2012 - 1 StR 341/12; BGH, Beschluss vom 26.02.1991 - 1 StR 737/90). So liegt der Fall hier: Die Verteidigung macht allgemeine Ausführungen, die die Begründetheit des Wiedereinsetzungsgesuches belegen sollen. An der notwendigen Glaubhaftmachung fehlt es indes gänzlich. Vorliegend fehlt es zudem auch schon an der gebotenen Mitteilung, welches konkrete Hindernis (s. dazu oben) konkret wann weggefallen sein soll: In der Antragsschrift vom 21.09.2022 (Bl. 158 ff. VV) wird (auf dreieinhalb eng beschriebenen Seiten) nur breit auf die vermeintlich falsche Rechtsbehelfsbelehrung eingegangen, derentwegen Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Eine konkrete gebotene Mitteilung, bis wann der Betroffene angeblich am Einspruch gehindert war, ist das nicht. Dementsprechend bleibt auch unklar, wann die Wiedereinsetzungsfrist (§ 45 Abs. 1 S. 1 StPO) begonnen haben soll (s. BGH, Beschluss vom 5. 8. 2010 - 3 StR 269/10). Bei alledem gilt: Die Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen, müssen innerhalb der Antragsfrist zur Kenntnis gebracht werden; danach können sie nur noch ergänzt und verdeutlicht werden (s. nur OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.01.1984 - 2 Ws 568/83; Valerius, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Auflage 2023, § 45 Rn. 7 mwN). Dass im Schriftsatz vom 30.10.2021 nun erstmals für den Wegfall des behaupteten Hindernisses konkret der 21.09.2022 benannt wird, als der Betroffene „gelegentlich eines anderen Anlasses einer Anwaltskonsultation vom Unterzeichner über die für eine Einspruchseinlegung in elektronischer Form geltenden Anforderungen aufgeklärt wurde“ (Bl. 16 am Ende) ist daher unbeachtlich und verspätet, unabhängig von der auch insoweit weiterhin gänzlich fehlenden Glaubhaftmachung. Nicht recht nachvollziehbar ist auch hier, dies obiter, anhand welcher Unterlagen jene „Aufklärung“ eigentlich erfolgt sein soll; lag dem Betroffenen der angeblich nicht ordentlich zugestellte Bußgeldbescheid doch eigentlich auch später tatsächlich nie vor (s. o.).
61Mangels zulässigen Wiedereinsetzungsantrages ist dem Betroffenen daher auch die begehrte Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist zu versagen.
626.
63Die Kostenentscheidung folgt aus § 109 Abs. 2 OWiG.