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Zur Aufgabe des Pflichtverteidigers, die Verteidigung selbst zu führen; keine Auslagerung der gesamten Hauptverhandlung auf einen für den Termin beizuordnenden "Terminsvertreter"
wird
1.
der Beiordnungsantrag der Rechtsanwältin E. vom 27.06.2023 zurückgewiesen;
2.
die Bestellung des Rechtsanwalts A. G. als Pflichtverteidiger gem. § 143 Abs. 2 S. 1, 2 StPO aufgehoben.
Gründe
2I.
3Dem Angeklagten liegt nach der Anklage der Staatsanwaltschaft Köln vom 30.03.2023 zur Last, am 00.00.0000 in R. unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben, indem er 0,97 g/n Marihuana gewinnbringend an einen Dritten unerlaubt veräußerte.
4Dem Angeklagten, der seinerzeit Strafhaft in der JVA Q. verbüßte, wurde die Anklage im April 2023 zugestellt. Sodann meldete sich RA G. zur Akte und beantragte, dem damals Angeschuldigten als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Mit der Eröffnungsentscheidung vom 30.05.2023 wurde die Sache zugelassen, RA G. gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO als Pflichtverteidiger bestellt und die Sache auf den 27.06.2023 terminiert.
5Das Empfangsbekenntnis von RA G., vollzogen am 31.05.2023, gelangte am 01.06.2023 zur Akte.
6Im Termin am 27.06.2023 erschien RA G. nicht, stattdessen erschien RA’in E. aus der Kanzlei des RA G.. Diese beantragte, dem Angeklagten „für den heutigen Termin kostenneutral als Pflichtverteidigerin“ beigeordnet zu werden. Die angehörte Staatsanwaltschaft trat dem Antrag entgegen.
7Da der Angeklagte zum Termin aus der JVA nicht vorgeführt worden und auch sonst nicht erschienen war, wurde die Sache vertagt. Erst nach dem Termin wurde bekannt, dass die JVA den Angeklagten bereits am 12.06.2023 entlassen hatte; die von ihm angegebene Austrittsanschrift ist gerichtsbekannt und aktenkundig nicht zutreffend.
8II.
91.
10Der Beiordnungsantrag der RA’in E. hat keinen Erfolg.
11Dem Angeklagten ist RA G. antragsgemäß als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dieser hat die Terminsladung ausweislich des von ihm vollzogenen Empfangsbekenntnisses auch erhalten. Er war damit verpflichtet, § 49 Abs. 1 BRAO, an dem ihm bekannten Termin bei Gericht zu erscheinen und an der ordnungsgemäßen Durchführung des Strafverfahrens, insbesondere im Rahmen der Hauptverhandlung, in der er ständig persönlich anwesend sein muss, mitzuwirken (allg. Meinung, s. nur BVerfG, Beschluss vom 24.11.2000 - 2 BvR 813/99; KG, Beschluss vom 09.03.2006 - 5 Ws 563/05; Willnow, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, § 140 Rn. 4; von Stetten, in: Müller/Schlothauer/Knauer, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 3. Auflage 2022, § 16 Rn. 9). Der Pflichtverteidiger muss gewährleisten können, dem Verfahren mit seiner Arbeitskraft weitestgehend zur Verfügung zu stehen (OLG Hamm, Beschluss vom 26.10.2010 - 5 Ws 374/10 mwN). Wenn und soweit der Pflichtverteidiger aufgrund anderer (Groß-)Verfahren zur sachgerechten Führung des Mandats absehbar überhaupt nicht in der Lage ist, muss er seine Entpflichtung beantragen bzw. darf schon keinen Beiordnungsantrag stellen, vgl. § 142 Abs. 5 S. 3 StPO (s. KG, Beschluss vom 06.08.2018 - 4 Ws 104/18; von Stetten, in: Müller/Schlothauer/Knauer, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 3. Auflage 2022, § 16 Rn. 78; Kämpfer/Travers, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Auflage 2023, § 142 Rn. 29). Denn das Institut der Pflichtverteidigung dient nicht dazu, den Vergütungsanspruch des Anwalts abzusichern, sondern soll die ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten gerade durch den Pflichtverteidiger sicherstellen (s. zuletzt etwa LG Berlin, Beschluss vom 21.12.2022 - 534 Qs 97/22 mwN). Durch die Bestellung zum Pflichtverteidiger wird gerade er in seiner konkreten Person öffentlich-rechtlich in Dienst genommen und im obigen Sinne verpflichtet; Gegenstück dazu ist der Abrechnungsanspruch gegenüber der Staatskasse (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.11.2000 - 2 BvR 813/99; Nöker, in: Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, 10. Auflage 2020, § 49 Rn. 1).
12Daran ändert es nichts, dass auch die Bestellung eines sog. „Terminsvertreters“ für zulässig gehalten wird (vgl. etwa Willnow, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, § 144 Rn. 5 mwN; ausf. auch zum daran anknüpfenden [Mehr-]Kostenstreit Stollenwerk, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Auflage 2021, VV RVG, Vorbemerkung 4 Rn. 31 ff.). Dies betrifft jedoch sämtlich Fälle, in denen der Pflichtverteidiger an einem von mehreren Tagen der Hauptverhandlung - noch dazu mehr oder minder unvorhergesehen - verhindert ist (s. etwa KG, Beschluss vom 18.02.2011 - 1 Ws 38/09). Auch § 144 Abs. 1 StPO eröffnet die zusätzliche Beiordnung lediglich zur Vertretung des Pflichtverteidigers nicht (OLG Hamburg, Beschluss vom 13.01.2020 - 2 Ws 3/20; KG, Beschluss vom 06.08.2018 - 4 Ws 104/18; Willnow, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, § 144 Rn. 4).
13Aus dem Vorstehenden folgt, dass RA G. zur Wahrnehmung der Hauptverhandlung am 27.06.2023 selbst verpflichtet war. Eine Verhinderungsanzeige oder gar ein Terminsverlegungsantrag erfolgten nicht. Die Konstellation eines möglichen „Terminsvertreters“ ist schon deswegen nicht eröffnet, weil vorliegend nicht die Verhinderung nur an einem (untergeordneten) Teil der Hauptverhandlung in Rede steht, sondern die Hauptverhandlung als Ganzes. Diese - worum es bei Lichte besehen geht - gleichsam vollständig auf einen Dritten auszulagern ist dem Pflichtverteidiger aber nicht möglich; derlei ist mit seinen Aufgaben, seiner Stellung und den ihn treffenden Pflichten unvereinbar (s. o.).
14Darauf, dass die festzustellende Praxis, Hauptverhandlungen trotz nachgesuchter und erfolgter Bestellung als Pflichtverteidiger von ad hoc erscheinenden und sodann zu bestellenden „Terminsvertretern“ wahrnehmen zu lassen nicht den prozessualen Vorgaben entspricht, sind die Beteiligten durch das Gericht - nicht allein, wie hier bekannt ist - bereits mehrfach hingewiesen worden.
15Der Antrag der RA’in E. vom 27.06.2023 kann nach alledem schon aus Rechtsgründen keinen Erfolg haben.
162.
17Die Entpflichtung von RA G. fußt jedenfalls auf § 143 Abs. 2 S. 1, 2 StPO. Die Beiordnung erfolgte ausdrücklich gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, weil gegen den Angeklagten Strafhaft vollstreckt wurde. Nachdem diese nunmehr beendet ist und der Angeklagte entlassen wurde, besteht kein Fall notwendiger Verteidigung mehr, § 140 Abs. 1, 2 StPO. Der vorliegende Fall ist denkbar einfach gelagert, er ist nach Aktenlage weder tatsächlich noch rechtlich schwierig. Auch eine schwere Rechtsfolge im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO droht dem Angeklagten bei gebotener Prognose nicht. Bei Ausübung des insoweit eingeräumten Ermessens erscheint die Aufhebung der Bestellung angemessen. Nachdem der Angeklagte eine gerichtsbekannt unzutreffende alte Anschrift als Entlassungsadresse angab, wird das Verfahren ohnehin zunächst zur Aufenthaltsermittlung an die Staatsanwaltschaft zurückzureichen sein. Es ist daher auch offensichtlich, dass bis zum Beginn der nächsten Hauptverhandlung die Zweiwochenfrist jedenfalls gewahrt werden wird.
18Ob die Bestellung des im Termin am 27.06.2023 unentschuldigt ausgebliebenen Pflichtverteidigers RA G. nicht auch gem. § 145 Abs. 1 StPO aufzuheben wäre, kann das Gericht angesichts dessen offenlassen. Da der Angeklagte im Termin ausblieb war eine Kostenaufbürdung gem. § 145 Abs. 4 StPO im Ergebnis nicht veranlasst (vgl. Kämpfer/Travers, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Auflage 2023, § 145 Rn. 18).