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Seit dem 1.1.2023 kann in asylrechtlichen Berufungsverfahren unter bestimmten Voraussetzungen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, unter Aufhebung des Urteils und des erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Dabei darf sich die Aufhebung des Verfahrens auf den Teil beschränken, auf den sich der Mangel ausgewirkt hat.
Auf die Berufung des Klägers wird das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28.6.2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Minden einschließlich des ihm seit dem 30.10.2018 vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben.
Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Minden zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung des Verwaltungsgerichts vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen
Tatbestand:
2Der nach seinen Angaben 1982 in Pakistan geborene Kläger reiste im Jahr 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er einen Asylantrag stellte. Mit Bescheid vom 14.3.2017 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf Zuerkennung sowohl der Flüchtlingseigenschaft als auch subsidiären Schutzes ab. Ferner stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen und forderte den Kläger zur Ausreise auf. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Pakistan angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
3Am 24.3.2017 hat der Kläger Klage erhoben. In der Klageschrift gab er seinen Vornamen mit „Muhammad“ – so auch die Bezeichnung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts – an, und kündigte über die in der Klageschrift gegebene Begründung hinaus an, weitere Ausführungen gegebenenfalls in Kürze nachzureichen.
4Im Oktober 2018 hat das Verwaltungsgericht über das „Meldeportal Behörden“ geprüft, ob der Kläger noch unter der bei Klageerhebung angegebenen Adresse gemeldet war. Die Prüfung hat unter der Namensangabe „X. , Muhammed“ (Hervorhebung durch den Berichterstatter) am 30.10.2018 ergeben, dass keine Person zu der Suche gefunden wurde. Daraufhin hat das Verwaltungsgericht den damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers aufgefordert, das Verfahren innerhalb eines Monats nach Zustellung der Aufforderung dadurch zu betreiben, dass er eine aktuelle ladungsfähige Anschrift des Klägers mitteile. Diese Aufforderung ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 5.11.2018 zugestellt worden.
5Nachdem eine Reaktion auf die Betreibensaufforderung ausgeblieben war, hat das Verwaltungsgericht das Verfahren mit Beschluss vom 6.12.2018 eingestellt. Die Klage gelte nach § 81 Satz 1 AsylG als zurückgenommen.
6Am 12.2.2019 hat der Kläger die Fortsetzung des Verfahrens beantragt und um Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung gebeten. Er sei durchgängig seit Dezember 2015 unter der angegebenen Adresse wohnhaft. Es habe keine Notwendigkeit für eine Betreibensaufforderung gegeben.
7Der Kläger hat beantragt,
8das Verfahren fortzusetzen und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts vom 14.3.2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
9hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
10weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Mit auf die mündliche Verhandlung vom 28.6.2019 ergangenem Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage auf Fortsetzung des Verfahrens abgelehnt und im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt, dass die gerichtliche Aufforderung an den Kläger, das Verfahren durch Mitteilung einer (aktuellen) ladungsfähigen Anschrift zu betreiben, zu Recht ergangen sei. Die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung seien gegeben gewesen. Nachdem wegen des Ergebnisses der Suche über das Meldeportal davon habe ausgegangen werden müssen, dass der Kläger die ihm zugewiesene Unterkunft verlassen habe, hätten begründete Zweifel daran bestanden, dass er – der Kläger – weiterhin ein schützenswertes Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung gehabt habe. Es hätten – unabhängig von der Richtigkeit der zugrunde liegenden Auskunft – hinreichende sachliche Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzintereses vorgelegen.
14Auf den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das vorgenannte Urteil hat der Senat mit Beschluss vom 8.8.2019 die Berufung zugelassen und zur Begrünung im Wesentlichen ausgeführt, das Verwaltungsgericht habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt. Es habe die prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers durch die Annahme überspannt, im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung gemäß § 81 Satz 1 AsylG hätten bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden. Es habe kein hinreichender Anlass bestanden, eine Betreibensaufforderung zu erlassen. Eine fehlerhafte Bejahung der Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme gemäß § 81 Satz 1 AsylG habe ‒ neben Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ‒ zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil sich das Gericht zu Unrecht nicht mit der Sache selbst befasst habe. Nach § 81 Satz 1 AsylG gelte die Klage in einem gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als einen Monat nicht betreibe. Zutreffend sei das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Beendigung eines gerichtlichen Verfahrens auf Grund der Klagerücknahmefiktion ohne Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren in der Sache u. a. voraussetze, dass nach dem prozessualen Verhalten des Beteiligten hinreichender Anlass bestehe, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen. An einem solchen Anlass habe es hier gefehlt. Das Verwaltungsgericht habe die Betreibensaufforderung ausschließlich deswegen erlassen, weil eine Einwohnermeldeauskunft unter Namen und Anschrift des Klägers keinen Treffer ergeben habe. Das Ergebnis der Einwohnermeldeauskunft habe aber schon deshalb keinen Anlass für die Annahme geboten, das Rechtsschutzinteresse sei weggefallen, weil das Verwaltungsgericht bei der Anfrage den Vornamen des Klägers fehlerhaft eingegeben habe. Nach den Angaben in der Klageschrift und im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts heiße der Kläger mit Vornamen „Muhammad“ und nicht, wie in der Anfrage des Verwaltungsgerichts an das Meldeportal angegeben, „Muhammed“. Nur darin habe der Grund für das negative Abfrageergebnis gelegen. Der Kläger habe hingegen durch sein Verhalten keinen Anlass gegeben, von dem Fortfall seines Rechtsschutzinteresses auszugehen. Er sei unter der von ihm angegebenen Adresse durchgehend seit Dezember 2015 gemeldet gewesen, was sich aus der von seinem Prozessbevollmächtigten schon erstinstanzlich vorgelegten Meldebescheinigung ergebe, die sich inhaltlich mit einer vom Senat vorsorglich eingeholten Einwohnermeldeauskunft decke.
15Nach Begründung seiner Berufung beantragt der Kläger sinngemäß,
16die Sache unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen,
17hilfsweise,
18die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts vom 14.3.2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
19dem Kläger subsidiären Schutz zu gewähren, sowie
20festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz des AufenthG vorliegen.
21Die Beklagte stellt keinen Antrag.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
23Entscheidungsgründe:
24Der Berichterstatter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten an Stelle des Senats (§ 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 87a Abs. 2 und 3 VwGO) im schriftlichen Verfahren (§ 101 Abs. 2 VwGO).
25Das Oberverwaltungsgericht darf nach dem mit Wirkung zum 1.1.2023 neugefassten § 79 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Verwaltungsgericht zurückverweisen, wenn das Verwaltungsgericht noch nicht in der Sache selbst entschieden hat.
26So liegt es hier. Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Fortsetzung des mit Beschluss vom 6.12.2018 eingestellten Verfahrens abgewiesen, weil es – wie der Senat in seinem Beschluss vom 8.8.2019 ausgeführt hat – unzutreffend die Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme gemäß § 81 Satz 1 AsylG bejaht, und somit über das Begehren des Klägers, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 14.3.2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, in der Sache nicht entschieden hat. Das Oberverwaltungsgericht müsste damit erstmalig die individuelle Prüfung des Begehrens des Klägers nachholen. Unerheblich ist, dass sich der Senat bereits in seinem das Prozesskostenhilfegesuch des Klägers ablehnenden Beschluss vom 1.8.2022 auch in der Sache mit dem Verfolgungsschicksal befasst hat. Die Befassung in der Sache beruhte allein auf der Auswertung der vorgelegten Akten. Dem Kläger, der nach Ablehnung seines Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe um einen Termin zur mündlichen Verhandlung nachgesucht hat, ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Gelegenheit zu geben, vom Gericht in einer mündlichen Verhandlung zu seinem Verfolgungsschicksal angehört zu werden (vgl. § 77 Abs. 2 Satz 2 AsylG). Die Zurückverweisung entspricht dem im Berufungsverfahren von Anfang an verfolgten Rechtsschutzbegehren, dem der Senat nach der Gesetzesänderung nunmehr entsprechen kann. Sie dient der besseren Lastenverteilung zwischen Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht.
27Vgl. zum gesetzgeberischen Motiv: BT‑Drs. 20/4327, S. 44.
28Es erscheint sachgerecht, den kassatorischen Ausspruch außer auf das erstinstanzliche Urteil im tenorierten Umfang auch auf das dem Urteil vorausgegangene Verfahren zu erstrecken. Die nach § 79 Abs. 2 Satz 1 AsylG mögliche Aufhebung des Verfahrens darf sich auf den Teil beschränken, auf den sich der Mangel auswirkt.
29Vgl. zu § 130 VwGO: Bay. VGH, Urteil vom 2.8.2016 – 22 B 16.619 –, VGHE BY 69, 182 = juris, Rn. 52; zur möglichen Teilaufhebung im Rahmen des § 130 VwGO: Nds. OVG, Beschluss vom 18.3.2021 – 12 LB 148/20 –, juris, Rn. 88, m. w. N.
30Hierdurch wird im vorliegenden Fall zugleich klargestellt, dass die mit Betreibensaufforderung des Verwaltungsgerichts vom 31.10.2018 gemäß § 81 AsylG gesetzte Fristsetzung keine rechtlichen Wirkungen entfaltet, sodass die Klagerücknahmefiktion des § 81 Satz 1 AsylG nicht eingetreten und auch der in der Folge ergangene Einstellungsbeschluss des Verwaltungsgerichts vom 6.12.2018 gegenstandslos ist.
31Das Urteil bindet das Verwaltungsgericht hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung sowie der tatsächlichen Feststellungen (§ 79 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
32Eine Kostenentscheidung erfolgt erst mit der abschließenden, hier noch ausstehenden Sachentscheidung des Verwaltungsgerichts.
33Der Senat lässt die Revision nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO und des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG nicht vorliegen.