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Oberverwaltungsgericht NRW, 4 A 2467/15.A

Datum:
21.09.2023
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 A 2467/15.A
ECLI:
ECLI:DE:OVGNRW:2023:0921.4A2467.15A.00
 
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 7 K 2571/13.A
Schlagworte:
Zuerkennung Flüchtlingseigenschaft Ahmadi Pakistan Gruppenverfolgung Interner Schutz Chenab Nagar (= Rabwah)
Normen:
AsylG § 77 Abs. 1; Richtlinie 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1 Buchst. a; Richtlinie 2004/83/EG; AsylG § 3 Abs. 1; AsylG § 3b Abs. 1; AsylG § 3a; AsylG § 78 Abs. 8
Leitsätze:

1. Die Gefahr einer den Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus begründenden Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Betroffenen selbst gerichteten Maßnahmen (Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsschutzrelevanten Merkmals verfolgt werden, das der Betreffende mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (sog. Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (St. Rspr. BVerwG, u. a. Urteile vom 22.5.2019 ‒ 1 C 11.18 ‒, juris, Rn. 24 f., und vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 33).

2. Hängt die Verfolgungsgefahr von dem willensgesteuerten Verhalten des Einzelnen – etwa der verbotenen Ausübung des Glaubens in der Öffentlichkeit – ab, so ist für die Gefahrenprognose auf die Gruppe der ihren Glauben trotz der Verbote in gefahrdrohender Weise – regelmäßig in der Öffentlichkeit – praktizierenden Glaubensangehörigen abzustellen. Besteht für die – möglicherweise zahlenmäßig nicht große – Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, kann daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe derer, für die diese gefahrauslösenden Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellen und in diesem Sinne unverzichtbar sind, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen ist (BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 ‒ 10 C 23.12 ‒, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 33).

3. Die Umstände, unter denen das Gericht die Überzeugung davon gewinnt, ob der Schutzsuchende eine verfolgungsträchtige religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, sind grundsätzlich keiner abstrakt-generellen Verallgemeinerung zugänglich. Es handelt sich stets um eine Frage des jeweiligen Einzelfalls (BVerfG, Beschluss vom 3.4.2020 ‒ 2 BvR 1838/15 ‒, juris, Rn. 26 ff., 34).

4. Bei der Rechtsfigur der Gruppenverfolgung handelt es sich lediglich um ein Hilfsmittel, um Rückschlüsse auf die individuelle Verfolgungsgefahr für den jeweiligen Ausländer nicht (oder nicht nur) aus seinem persönlichen Schicksal, sondern aus Maßnahmen gegen die ganze Gruppe zu ziehen, der der Asyl-bewerber angehört. Sie stellt sich somit als eine Beweiserleichterung und nicht etwa als Beweisverschärfung dar (BVerwG, Urteile vom 22.5.2019 – 1 C 11.18 –, juris, Rn. 25, und vom 5.11.1991 – 9 C 118.90 –, BVerwGE 89, 162 = juris, Rn. 16).

5. Ob einem Ausländer in einem anderen Landesteil keine für den internationalen Schutz relevanten Gefahren drohen, ist regelmäßig nur dann entscheidungserheblich, wenn die in einem anderen Landesteil drohenden Gefahren nicht von dem Staat ausgehen. Erwägungsgrund 27 Satz 2 RL 2011/95/EU geht davon aus, dass bei staatlicher Verfolgung eine Vermutung dafür bestehen soll, dass dem Antragsteller kein wirksamer Schutz zur Verfügung steht (BVerwG, Urteil vom 18.2.2021 – 1 C 4.20 –, BVerwGE 171, 300 = juris, Rn. 14).

6. Eine Anzahl oder zahlenmäßige Größenordnung der Ahmadis, die ihren Glauben in strafrechtlich verbotener Weise praktizieren, lässt sich wegen ihrer Kriminalisierung und allgemeinen Bedrohung trotz intensiver Tatsachenermittlung nicht einmal ansatzweise bestimmen.

7. Dennoch lässt bereits die Auswertung der aktuellen Erkenntnisse den ausreichend verlässlichen Schluss zu, dass Ahmadis, die ihren Glauben in Pakistan in strafrechtlich verbotener Weise praktizieren, indem sie sich ihrem Glaubensverständnis entsprechend als Muslime verstehen und nach islamischen Glaubensregeln leben, ohne dies gegenüber der Öffentlichkeit zu verstecken, mit einem real erhöhten Verfolgungsrisiko rechnen müssen.

8. Jedenfalls unter Berücksichtigung der zuletzt verschärften Bedrohungslage kann die Anti-Ahmadiyya-Gesetzgebung sowie die gesamtgesellschaftlich verbreitete feindliche Grundstimmung gegenüber Ahmadis mittlerweile nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu schwerwiegenden bereits flüchtlingsrechtlich relevanten Konsequenzen für diejenigen Ahmadis führen, die sich offen als Ahmadis bekennen und erkennbar als Muslime bezeichnen und deren Verhalten nach den Regeln des Korans öffentlich insbesondere auch Vertretern einer der vielen religiösen Gruppen bekannt wird, die offensiv für die Finalität des Prophetentums und die Reinheit des islamischen Glaubens eintreten.

9. Selbst in Chenab Nagar (= Rabwah), dem geistigen Zentrum der Ahmadis, das zu etwa 95 % von Ahmadis bewohnt ist, sind diese in ihrer Lebensweise ebenso eingeschränkt wie im übrigen Pakistan.

10. Es bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Kleinstadt Chenab Nagar (= Rabwah), die für verfolgte Ahmadis in der Vergangenheit vielfach als inländische Fluchtalternative angesehen worden ist, weil ausschließlich hier die ganz überwiegende Bevölkerungsmehrheit aus Ahmadis besteht, noch nennenswerte Aufnahmekapazitäten für neu hinzuziehende Ahmadis hätte.

11. Schutz vor staatlicher, insbesondere strafrechtlicher Verfolgung lässt sich für bedrohte Ahmadis in Pakistan angesichts der aktuellen melderechtlichen Vorgaben nicht mehr in der Anonymität der Großstädte finden.

12. Offen als Muslime auftretenden Ahmadis, die vor nichtstaatlicher Verfolgung fliehen müssen, steht kein interner Schutz zur Verfügung.

 
Tenor:

Das Berufungsverfahren wird eingestellt, soweit der Kläger seine Berufung hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigter zurückgenommen hat.

Im Übrigen wird das angefochtene Urteil geändert.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1.8.2013 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird zugelassen.

 
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