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Zulassung der Grundsatzberufung wegen der fallübergreifenden Frage, ob die Zustellung eines Bescheids des Bundesamts nach § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 AsylG am dritten Tag nach Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt gilt, wenn das Bundesamt im Hinweis nach § 10 Abs. 7 AsylG ausgeführt hat, zu den festgelegten Zeiten nicht abgeholte Post bleibe drei Tage lang in der Aufnahmeeinrichtung liegen, werde danach an die Behörde zurückgesandt und die Behörde werde dann so verfahren, als ob der Ausländer den Brief erhalten habe.
Der Klägerin wird für das zweitinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L. in E. beigeordnet.
Die Berufung wird zugelassen.
Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Prozesskostenhilfebewilligung und die Berufungszulassung durch die Berichterstatterin, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 87a Abs. 2 und 3, § 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Senat bewilligt der Klägerin Prozesskostenhilfe für das zweitinstanzliche Verfahren nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die Klägerin kann die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen und die Rechtsverfolgung bietet aus den nachfolgenden Gründen die hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten beruht auf § 121 Abs. 1 ZPO.
4Der Berufungszulassungsantrag der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Berufung ist wegen der dargelegten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. Grundsätzlich klärungsbedürftig ist die von der Klägerin sinngemäß bezeichnete fallübergreifende Frage, ob die Zustellung eines Bescheids des Bundesamts nach § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 AsylG am dritten Tag nach Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt gilt, wenn das Bundesamt im Hinweis nach § 10 Abs. 7 AsylG ausgeführt hat, zu den festgelegten Zeiten nicht abgeholte Post bleibe drei Tage lang in der Aufnahmeeinrichtung liegen, werde danach an die Behörde zurückgesandt und die Behörde werde dann so verfahren, als ob der Ausländer den Brief erhalten habe. Im angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht diese Frage bejaht (S. 6 ff. des Urteils), während die von ihm zitierte und auch von der Klägerin in ihrer Antragsbegründung aufgegriffene anderweitige erstinstanzliche Rechtsprechung sie mit der Begründung verneint, dieser formblattmäßig verwendete Hinweis des Bundesamts sei irreführend, weil er geeignet sei, die vom Gesetz abweichende Vorstellung hervorzurufen, es komme nur dann zur genannten Zustellungsfiktion, wenn die für den Ausländer gedachte Sendung an den Absender zurückgesandt werde.
5VG Aachen, Urteil vom 12. Januar 2022 ‑ 4 K 1605/20.A -, juris, Rn. 24; VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 8. Februar 2017 ‑ 2 L 762/16.A ‑, juris, Rn. 7 f.; VG München, Urteil vom 19. Oktober 2006 ‑ M 24 K 06.50665 ‑, juris, Rn. 19 f.; vgl. auch das obiter dictum bei VG München, Gerichtsbescheid vom 26. Februar 2007 ‑ M 24 K 07.50031 ‑, juris, Rn. 25; Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2023, § 10 AsylG, Rn. 86.
6Auch aus der Sicht des Senats spricht viel dafür, den genannten formblattmäßigen Hinweis des Bundesamts für irreführend zu halten.
7Zum Hinweis auf die Folgen einer unterlassenen Mitteilung eines Wohnungswechsels in der früheren Fassung des Formblatts des Bundesamts vgl. BVerwG, Urteil vom 20. August 2020 ‑ 1 C 28.19 ‑, BVerwGE 169, 192, juris, Rn. 18 f.
8Die genannte Grundsatzfrage ist, soweit ersichtlich, in der obergerichtlichen Rechtsprechung ungeklärt.
9Sie ist auch entscheidungserheblich. Greift die Zustellungsfiktion nach § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 AsylG entgegen der Auffassung der Beklagten und des Verwaltungsgerichts nicht, wahrt die am 26. April 2022 erhobene Klage die zweiwöchige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG. In diesem Fall ist die Zustellung des Bescheids des Bundesamts vom 24. März 2022 mit der Aushändigung an die Klägerin am 13. April 2022 bewirkt (§ 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 1 AsylG).