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Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Februar 2019 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
2I.
3Die nach eigenen Angaben am 00. Dezember 0000 in B., Nigeria, geborene Klägerin zu 1. und ihre Tochter, die am 00. März 0000 in J., Italien, geborene Klägerin zu 2. sind nigerianische Staatsangehörige. Am 16. Januar 2019 reisten sie in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 23. Januar 2019 einen Asylantrag stellten.
4Eine Eurodac-Abfrage wies für die Klägerin zu 1. die Abnahme von Fingerabdrücken am 15. Dezember 2016 in J. aus.
5Gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab die Klägerin im Wesentlichen an: In Italien sei sie etwa zwei Jahre lang gewesen und dort in J. in einem Flüchtlingscamp gelebt. Nach Italien wolle sie im Interesse ihrer Tochter nicht zurück. Zuletzt habe man sie aus dem Camp geworfen.
6Das an die Republik Italien gerichtete Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes blieb unbeantwortet.
7Mit Bescheid vom 18. Februar 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerinnen als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen, ordnete die Abschiebung der Klägerinnen nach Italien an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate.
8Am 26. Februar 2019 haben die Klägerinnen Klage erhoben und einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.
9Die Klägerinnen haben beantragt;
10den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Februar 2019 aufzuheben.
11Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Mit Beschluss vom 23. April 2019 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im verfahrensgegenständlichen Bescheid enthaltene Abschiebungsanordnung angeordnet.
14Mit Urteil vom 19. Oktober 2021 hat es die Klage abgewiesen.
15Zur Begründung ihrer mit Beschluss vom 20. Dezember 2021 zugelassenen Berufung führen die Klägerinnen aus, das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien seien systemisch mangelhaft. Bei einer Rückkehr drohe ihnen die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Sie würden nicht ihren Bedürfnissen entsprechend untergebracht werden.
16Mit an alle Dublin-Units gerichtetem Rundschreiben vom 5. Dezember 2022 führte die italienische Dublin-Unit aus:
17„This is to inform you that due to suddenly appeared technical reasons related to unavailability of reception facilities Member States are requested to temporarily suspend transfers to Italy from tomorrow, with the exception of cases of family reunification of unaccompanied minors.
18Further and more detailed information regarding the duration of the suspension will follow.“
19Mit weiterem Rundschreiben vom 7. Dezember 2022 führte die italienische Dublin-Unit aus:
20„I write following the previous communication on 5th December, concerning the suspension of transfers, with the exception of cases of family reunification of minors, due to the unavailability of reception facilities.
21At this regard, considering the high number of arrivals both at sea and land borders, this is to inform you about the need for a re-scheduling of the reception activities for third countries nationals, also taking into account the lack of available reception places.“
22Die Klägerinnen beantragen schriftsätzlich,
23das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Februar 2019 aufzuheben.
24Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
25die Berufung zurückzuweisen.
26Mit Verfügung vom 12. Juli 2022 hat sie die Vollziehung der im Bescheid vom 18. Februar 2019 enthaltenen Abschiebungsanordnung bis zum unanfechtbaren Abschluss des gegen diesen Bescheid anhängigen Rechtsstreits ausgesetzt.
27Zur Berufungserwiderung führt sie im Einzelnen aus, dass Art. 3 EMRK einer Rückführung der Klägerinnen nach Italien nicht entgegenstehe. Insbesondere sei auch ohne individuelle Garantieerklärung gewährleistet, dass Familien mit minderjährigen Kindern unmittelbar im Anschluss an die Überstellung eine familiengerechte Unterbringung erhielten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 4. Mai 2022 Bezug genommen.
28Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört worden. Die Beklagte hat ohne weitere Angaben mitgeteilt, dass mit einer solchen Entscheidung kein Einverständnis bestehe.
29II.
30A. Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerinnennach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a Satz 1 VwGO).
31B. Die Berufung der Klägerinnen hat Erfolg. Die Klage ist begründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
32I. Ziffer 1. des Bescheides, mit dem der Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, lässt sich nicht (mehr) auf § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG stützen. Danach ist ein Asylantrag dann unzulässig, wenn nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden Dublin III-VO) ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, weil die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerinnen nicht (mehr) gegeben ist.
331. Der Senat kann offen lassen, ob dies aus einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG folgt, nach dem zur Vermeidung einer Situation eines „refugee in orbit“ ein Mitgliedstaat einen Schutzsuchenden dann nicht auf eine Prüfung durch einen (eigentlich) zuständigen Mitgliedstaat verweisen darf, wenn dessen (Wieder-)Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht.
34Vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 19. Januar 2023 - 9 K 2602/19.A -, juris, Rn. 21 ff.; a. A. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 19. Januar 2023 - 13 A 10716/22.OVG ‑, juris, Rn. 19.
352. Denn jedenfalls ist die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO für das Asylverfahren der Klägerinnen zuständig geworden. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann.
36Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil die sich im Fall der Klägerinnen aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO ergebende Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerinnen gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO entfällt. Danach setzt der prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen.
37a. Aufgrund des zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hat jeder Mitgliedstaat - abgesehen von außergewöhnlichen Umständen - davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung Asylsuchender in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - sowie der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - steht.
38Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 81 f., und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 84 f.
39Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, jedoch ist die Widerlegung dieser Vermutung wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Dies wäre mit den Zielen und dem System der Dublin III-VO unvereinbar.
40Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 84 und 91 f.
41Art. 4 GRCh steht der Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in einen anderen Mitgliedstaat entgegen, sofern im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte festzustellen ist, dass sie in diesem Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
42Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, Rn. 85 und 98.
43Dies gilt aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters des Art. 4 GRCh in allen Situationen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Asylsuchender bei oder infolge seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfährt. Dementsprechend ist es für die Anwendung des Art. 4 GRCh unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss zu einer solchen Behandlung kommt und ob systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen des Asylsystems in dem anderen Mitgliedstaat vorliegen,
44vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87, 88 und 90, und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 87,
45oder ob es unabhängig vom Vorliegen solcher Schwachstellen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt.
46Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019- C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87.
47Ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. den diesem entsprechenden Art. 3 EMRK liegt aber nur dann vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
48Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92, und vom 1. August 2022 - C-422/21 -, juris, Rn. 39 f.; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32, sowie vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 32, und - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 36.
49Bereits ein relativ kurzer Zeitraum, während dessen sich eine Person in einer Situation extremer materieller Not befindet, reicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh zu begründen. Dabei ist auch zu beachten, dass den Rechten, die die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie) sowie die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie) Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, einräumen, die tatsächlichen Wirkungen genommen würden, wenn sie selbst während einer relativ kurzen Zeitspanne nicht mit einer Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse einhergingen.
50Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 78 f.
51b. Ausgehend hiervon ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags der Klägerinnen nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.
52Das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen in Italien weisen systemische Schwachstellen i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, weil die italienischen Behörden Dublin-Rückkehrern den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt verweigern.
53Vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 36, 55 ff.; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 14. März 2023 - 22 K 6528/19.A -, juris Rn. 45 ff., und Beschluss vom 8. Mai 2023 - 23 L 780/23.A -, juris, Rn. 36.
54Italien ist zur (Wieder-)Aufnahme der Klägerinnen wie auch anderer Dublin-Rückkehrer nicht bereit. Der Senat geht mit dem Verwaltungsgericht Arnsberg,
55Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 47,
56davon aus, dass es sich bei der im Dezember 2022 mitgeteilten Maßnahme der italienischen Behörden nicht um ein vorübergehendes Aussetzen von Überstellungen, sondern um die diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern auf „unbestimmte Zeit“ handelt.
57Die Schreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 stellen zunächst nicht bloße Bitten um eine Aussetzung der Überstellungen dar, wodurch die Beklagte jedoch nicht gehindert wäre, trotzdem Überstellungen durchzuführen.
58So aber VG Trier, Beschluss vom 5. April 2023 - 2 L 1065/23.TR -, juris; VG Aachen, Beschlüsse vom 10. Februar 2023 - 9 L 93/23.A -, und vom 22. März 2023 ‑ 9 L 223/23.A -, jeweils juris; vgl. aber nunmehr VG Aachen, Beschluss vom 17. Mai 2023 - 9 L 379/23.A -, juris, Rn. 12 ff.
59Auch wenn in den Erklärungen von einem „request“ gesprochen wird, so machen die Erklärungen im Übrigen deutlich, dass Überstellungen nach Italien mangels Aufnahmemöglichkeiten („unavailability of reception facilities“) nicht möglich seien. Auch die Beklagte hat in anderen Verfahren ausgeführt, dass sie die Schreiben dahingehend verstehe, dass „Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-VO ab sofort zunächst nicht mehr angenommen“ werden.
60Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2023 - 11 A 335/23.A -, juris, Rn. 29.
61Dem entspricht es, dass sich die Bundesinnenministerin gemeinsam mit den zuständigen Ministern von sechs weiteren Staaten zu einem „Joint Communiqué“ vom 8. März 2023,
62abrufbar auf der Seite der Niederländischen Regierung: https://www.rijksoverheid.nl/documenten/ publicaties/2023/03/08/joint-statement,
63veranlasst gesehen hat, in dem es u. a. heißt:
64„They therefore reiterated the necessity of applying the existing rules in good faith to provide for the necessary conditions to allow Dublin transfers according to the existing standards … “,
65vgl. auch die Presseberichterstattung zum Treffen der EU-Innenminister am 9. März 2023: etwa Tiroler Tageszeitung, EU-Innenminister machen Druck auf Italien wegen Migration, 9. März 2023, abrufbar unter https://www.tt.com/artikel/30848350/eu-innenminister-machen-druck-auf-italien-wegen-migration, nach der der italienischen Regierung vorgeworfen werde, die Dublin-Regeln einseitig aufgekündigt zu haben; Tagesspiegel, Faeser unter Druck: Innenministerin verlangt Rückkehr zu Dublin-Regeln, 10. März 2023, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/politik/faeser-unter-druck-innenministerin-verlangt-ruckkehr-zu-dublin-regeln-9473264.html, wonach die Bundesinnenministerin, ohne Italien explizit zu erwähnen, für eine Rückkehr zu den Regeln des Dublin-Systems geworben habe; vgl. auch L’Echo, L'Italie priée d'appliquer les règles de Dublin sur l'asile, 9. März 2023, abrufbar unter https://www.lecho.be/economie-politique/europe/general/l-italie-priee-d-appliquer-les-regles-de-dublin-sur-l-asile/10452810.html, wo u. a. Äußerungen des französischen Innenministers zitiert werden, nach denen die Dublin III-VO mit bestimmten Staaten, insbesondere Italien, nicht funktioniere; vgl. auch NZZ, Flüchtlingsaufnahme gestoppt: Was steckt hinter Italiens Entscheidung?, 8. April 2023, abrufbar unter https://www.nzz.ch/schweiz/italien-nimmt-bis-mindestens-anfang-mai-keine-fluechtlinge-zurueck-ld.1733446.
66Es handelt sich auch nicht um eine lediglich vorübergehende, zeitlich begrenzte Aussetzung der Annahme von Überstellungen. Die Rundschreiben benennen weder ein Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen noch einen auch nur ungefähren oder voraussichtlichen Zeitrahmen. Seit nunmehr einem halben Jahr ist - trotz Ankündigung im Rundschreiben vom 5. Dezember 2022 - keine weitere Information zur Dauer der Aussetzung der Überstellungen erfolgt. Auch die Beklagte hat dem Senat weder in diesem noch in einem anderen Verfahren neue Informationen mitgeteilt.
67Vgl. auch die Urteile des niederländischen Raad van State - Afdeling bestuursrechtspraak - vom 26. April 2023, ECLI:NL:RVS:2023:1654 und ECLI:NL:RVS:2023:1655, abrufbar unter https://www.raadvanstate.nl/talen/artikel/english-version/state-secretary-blocked-from-returning/, in denen zur Kommunikation der italienischen mit den niederländischen Behörden ausgeführt wird, dass die EU-Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 4. Januar 2023 aufgefordert worden seien, die Überstellungen für Januar 2023 abzusagen. Am 27. Januar 2023 sei eine solche Aufforderung für Überstellungen in der ersten Februarwoche erfolgt, am 7. Februar 2023 eine erneute einwöchige Aussetzung. Seitdem habe es keine Information mehr gegeben.
68Auch die Justizministerin und das Staatssekretariat für Migration (SEM) der Schweiz sehen bei der Rücknahme von Flüchtlingen durch Italien keine Anzeichen dafür, dass sich etwas bewegt.
69Vgl. Tagesanzeiger, Baume-Schneider über Flüchtlingsrücknahme: „Italiens Blockade wird Monate anhalten“, 4. Mai 2023, abrufbar unter https://www.tagesanzeiger.ch/baume-schneider-zur-fluechtlingsruecknahme-italiens-blockade-wird-monate-anhalten-745771683413; SEM, Italien: Dublin-Überstellungen und Rückübernahmeabkommen, 15. Mai, 2023, abrufbar unter https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html.
70Jedenfalls unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitraums von mehr als sechs Monaten, der bereits länger ist als die regelmäßige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO, kann dem Vorgehen der italienischen Behörden ohne weitere Information nichts dafür entnommen werden, ob und ggfs. wann Überstellungen wieder ermöglicht werden sollen.
71Vgl. VG Gießen, Beschluss vom 28. März 2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris, Rn. 10 f.
72Angesichts dieses Zeitablaufs kann der Formulierung der Schreiben, soweit sie von einer vorübergehenden Aussetzung sprechen, kein Gewicht (mehr) beigemessen werden.
73Vgl. etwa VG Köln, Beschluss vom 13. April 2023 - 26 L 403/23.A -, juris, Rn. 11; VG Gießen, Beschluss vom 28. März 2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 11; a. A. etwa VG Osnabrück, Beschluss vom 12. April 2023 - 5 B 70/23 -, juris; VG Hamburg, Urteil vom 27. März 2023 - 9 A 1520/20 -, juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 14. März 2023 - 2 L 53/23.A -, juris.
74Soweit die Beklagte in anderen Verfahren ausführt, dass die Aufnahmeeinrichtungen in Italien nicht ausgelastet seien, so spricht das letztlich dafür, dass die Begründung für die Aussetzung der Überstellungen vorgeschoben ist. Sollte die Aussetzung der Überstellungen damit nicht auf „technischen Gründen“ bzw. der Auslastung des Aufnahmesystems beruhen, sondern auf dem (politischen) Willen der italienischen Behörden, so wäre in keiner Weise absehbar, ob, wann und unter welchen Bedingungen, Überstellungen nach Italien bzw. ein Zugang zum italienischen Asylverfahren für Dublin-Rückkehrer wieder möglich sein werden.
75Vgl. dazu auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris, Rn. 8; Nds. OVG, Beschluss vom 26. April 2023 - 10 LA 48/23 -, juris, Rn. 21.
76Die Tatsache, dass die Italienische Republik nach dem Vortrag der Beklagten in anderen Verfahren weiterhin Zustimmungen für Auf- und Wiederaufnahmeersuchen erteilt, führt ebenfalls nicht zu einer anderen Einschätzung. Denn diese Erklärungen haben offensichtlich keinen Einfluss auf die tatsächliche Übernahmebereitschaft Italiens.
77Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris, Rn. 8; VG Gießen, Beschluss vom 28. März 2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris, Rn. 13; a. A. etwa VG Würzburg, Urteil vom 28. Februar 2023 - W 1 K 22.50157 -, juris.
78Aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens folgt nichts anderes. Denn dieser Grundsatz ist in der derzeitigen Situation bereits durch die generelle Ablehnung der Annahme von rückzuüberstellenden Asylsuchenden in Widerspruch zur Dublin III-VO entkräftet.
79Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 26. April 2023 - 10 LA 48/23 -, juris, Rn. 21; Raad van State - Afdeling bestuursrechtspraak -, Urteile vom 26. April 2023 ‑ ECLI:NL:RVS:2023:1654 -, Ziffer 4.3, und ‑ ECLI:NL:RVS:2023:1655 -, Ziffer 3.3.
80Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, ihrerseits Schritte ergriffen zu haben, die geeignet wären, die italienischen Behörden zu einer zeitnahen Aufnahme der Klägerinnen zu bewegen.
81c. Soweit in der Rechtsprechung zum Teil davon ausgegangen wird, dass die Nichtübernahme durch die italienischen Behörden zum Ablauf der Überstellungsfrist und damit zum Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte führen wird, dies aber den Schutzsuchenden ausschließlich zum Vorteil gereiche,
82so etwa VG Potsdam, Beschluss vom 11. April 2023 - 2 L 179/23.A - juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 17. März 2023 - 6 B 123/23 MD-, juris,
83m. a. W. keine Rechtsverletzung i. S. v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorliegen soll, wird übersehen, dass die Klägerinnen im Falle der Klageabweisung aufgrund der dann bestandskräftigen Ablehnung ihres Asylantrags zur Ausreise verpflichtet wären (vgl. § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG).
84Vgl. zur Situation der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung bei Ablehnung eines Eilantrags VG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Mai 2023 - 22 L 1042/23.A -, juris, Rn. 32.
85Gleichzeitig können sie vor Ablauf der dann neu anlaufenden Überstellungsfrist ihren Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens (vgl. etwa Art. 6, 10 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie) nicht dadurch realisieren, dass sie ihrer Ausreisepflicht nachkommen und nach Italien (zurück-)reisen. Es kann angesichts des von den italienischen Behörden geltend gemachten Mangels an Aufnahmekapazitäten nicht davon ausgegangen werden, dass eine freiwillige Rückreise und im Anschluss daran eine Aufnahme in Unterbringungseinrichtungen durch die italienischen Behörden ermöglicht würde.
86Aus dem gleichen Grund kann die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh nicht deshalb verneint werden, weil eine Überstellung nicht stattfinden wird, solange der Aufnahmestopp anhält.
87So aber wohl VG Gießen, Beschluss vom 4. Februar 2023 - 2 L 213/23.GI.A, milo, S. 14 BA,
88II. Aus der Rechtswidrigkeit der Ziffer 1 folgt die Rechtswidrigkeit der übrigen Ziffern des angegriffenen Bescheides.
89Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2023 - 11 A 1086/21.A -, juris, Rn. 72.
90C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.
91Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
92Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.