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Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 28. April 2021 wird aufgehoben. Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Oktober 2019 wird - mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3. getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht ins Herkunftsland abgeschoben werden darf - aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
2Der am 15. Januar 1995 in I. /Syrien geborene Kläger ist von ungeklärter Staatsangehörigkeit, palästinensischer Volkzugehörigkeit und islamischen Glaubens. Er reiste am 1. September 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 9. September 2019 einen Asylantrag.
3Ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 hinsichtlich Griechenlands wies eine Asylantragstellung am 25. Juli 2017 in Moria aus.
4Im Rahmen der Anhörungen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger am 9. und 27. September 2019 im Wesentlichen an, er habe sich nach seiner Ausreise aus Syrien im Dezember 2016 für sieben Monate in der Türkei und sodann für etwa zwei Jahre in Griechenland aufgehalten. Von dort aus sei er mit dem Boot nach Italien und mit dem Bus über Österreich nach Deutschland gereist. In Griechenland sei ihm im Juli 2017 internationaler Schutz zuerkannt worden. Er habe in Athen gelebt. Seine Unterkunft habe er verlassen müssen, da in Griechenland beschlossen worden sei, dass alle Leute, die vor dem Jahr 2017 nach Griechenland gekommen seien, die Unterkünfte verlassen müssten. Deshalb habe er sich seit dem Jahr 2017 bei einem Freund aufgehalten. Es sei sehr schwer gewesen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Er habe betteln müssen. In den ersten elf Monaten habe er Sozialleistungen erhalten. Ab Juli 2018 seien diese für alle vor 2017 Eingereisten gestoppt worden. Dies habe auch für Personen gegolten, die privat gewohnt hätten. Man habe nur einen Gutschein über 150 Euro für die ersten drei Monate erhalten. Danach habe er sich selbst zurecht finden müssen. Vor fünf Monaten habe er letztmalig Leistungen für einen Monat von einer humanitären Organisation erhalten, weil er nichts zu essen gehabt habe. Einen Antrag bei den Behörden habe er nicht gestellt, weil er kein Geld bekommen hätte wegen des Beschlusses aus dem Jahr 2017. In Griechenland habe er keine Verwandten und es gebe dort keine medizinische Versorgung. Er habe große Zahnprobleme und Epilepsie. Zweimal habe er sich an eine Zahnarztpraxis gewandt, jedoch keine Behandlung erhalten. In Griechenland gebe es keine Arbeit und die Lebensumstände seien sehr prekär. Kriminalität sei dort sehr verbreitet. Man habe ihm zweimal sein Mobiltelefon und Geld gestohlen.
5Das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts lehnten die griechischen Behörden mit der Begründung ab, dem Kläger sei am 25. September 2017 der Flüchtlingsschutz zuerkannt worden.
6Mit Bescheid vom 15. Oktober 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 2.) und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Griechenland auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziffer 3.). In sein Herkunftsland dürfe der Kläger nicht abgeschoben werden (Ziffer 3 Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG a. F. wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung setzte das Bundesamt aus (Ziffer 5.).
7Der Kläger hat am 29. Oktober 2019 Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt: Er sei Palästinenser und unterstehe dem Schutz der UNRWA. Ihm sei daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Er sei darüber hinaus wegen der Wehrdienstentziehung besonders gefährdet. Er leide an Epilepsie, woraus sich Abschiebungsverbote hinsichtlich Griechenlands ergäben. Die äußerst prekären Lebensverhältnisse und gravierende systematische Mängel für Flüchtlinge verböten eine Rückführung dorthin.
8Nachdem die Zentrale Ausländerbehörde Unna das Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 3. März 2021 darauf hingewiesen hat, dass der Kläger seit dem 17. Februar 2021 als „abgetaucht“ gelte, ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Verfügung vom 8. März 2021 um Mitteilung der aktuellen ladungsfähigen Anschrift des Klägers binnen einer Woche gebeten worden. Das Verwaltungsgericht hat den Kläger durch Verfügung vom 18. März 2021, zugestellt an seinen Prozessbevollmächtigten am 23. März 2021, aufgefordert, das Verfahren zu betreiben und unverzüglich die Verfügung vom 8. März 2021 zu beantworten, insbesondere seine aktuelle ladungsfähige Anschrift mitzuteilen. Es hat ihn darauf hingewiesen, dass falls er dieser Aufforderung nicht entspreche, die Klage als zurückgenommen gelte und er die Kostenlast trage. Am 8. April 2021 hat die Zentrale Ausländerbehörde Unna dem Verwaltungsgericht mitgeteilt, dass der Kläger seit dem 19. März 2021 wieder in der Unterkunftseinrichtung sei. Das Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde hat das Verwaltungsgericht den Beteiligten zur Kenntnis übersandt. Durch Beschluss vom 28. April 2021 hat es festgestellt, dass die Klage gemäß § 81 Satz 1 AsylG als zurückgenommen gelte. Mit Schreiben vom 29. April 2021 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Aufhebung des Einstellungsbeschlusses beantragt.
9Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
10das Verfahren fortzusetzen und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 15. Oktober 2019 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 30. Dezember 2021 festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Klägers seien gegeben, nachdem die Zentrale Ausländerbehörde Unna dem Gericht mitgeteilt habe, dass der Kläger als abgetaucht gelte, und er die Anfrage des Verwaltungsgerichts vom 8. März 2021 zur Angabe seiner aktuellen ladungsfähigen Anschrift nicht beantwortet habe. Auf die sodann erfolgte Betreibensaufforderung sei der Kläger innerhalb der Monatsfrist untätig geblieben. Der Fiktion der Rücknahme stehe nicht entgegen, dass die Zentrale Ausländerbehörde am 8. April 2021 gegenüber dem Gericht erklärt habe, dass der Kläger wieder in der Unterkunftseinrichtung sei. Denn der Kläger hätte zur Beantwortung der Betreibensaufforderung seinen Mitwirkungspflichten nachkommen und sein Interesse an der Fortführung des Verfahrens belegen müssen. Diese Anforderungen seien durch die Mitteilung der Zentralen Ausländerbehörde nicht erfüllt.
14Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor: Das Verwaltungsgericht habe nicht auf den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses schließen dürfen. Das Verdachtsmoment für ein Desinteresse habe in der Mitteilung der Ausländerbehörde vom 3. März 2021 bestanden. Dieses sei jedoch durch die weitere Mitteilung der Ausländerbehörde, dass sich der Kläger wieder in der Zentralen Unterbringungseinrichtung aufhalte, ausgeräumt worden. Die Beteiligten hätten darauf vertrauen dürfen, dass sich die Betreibensaufforderung erledigt habe. In der Sache trägt der Kläger unter Bezugnahme auf das Urteil des erkennenden Senats vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, vor, bei einer Überstellung nach Griechenland drohe ihm die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK. Der Kläger spreche kein Griechisch und verfüge auch nicht über familiäre oder sonstige Kontakte in Griechenland. Er wäre vollständig auf die Integrationsmöglichkeit auf dem griechischen Arbeitsmarkt bzw. staatliche Unterstützung angewiesen. Beides stehe derzeit nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Unabhängig davon dürfe das Aufenthaltsrecht des Klägers in Griechenland inzwischen auch durch Zeitablauf erloschen sein.
15Der Kläger beantragt sinngemäß,
16den Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 28. April 2021 aufzuheben, dessen Urteil vom 30. Dezember 2021 zu ändern und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Oktober 2019 aufzuheben,
17hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Griechenlands vorliegen.
18Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
19Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört worden.
20Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
21II.
22Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a VwGO).
23Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gilt; die Klage hat auch in der Sache Erfolg.
241. Die Klage gilt nicht gemäß § 81 Satz 1 AsylG als zurückgenommen. Nach § 81 Satz 1 AsylG gilt die Klage in einem gerichtlichen Verfahren nach dem Asylgesetz als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als einen Monat nicht betreibt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor.
25a. Wegen der einschneidenden verfahrensrechtlichen Konsequenzen sind der Auslegung und Anwendung des § 81 AsylG im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, wobei der strenge Ausnahmecharakter zu beachten ist.
26Vgl. zu § 33 AsylG a. F. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 -, juris, Rn. 14.
27Die fiktive Klagerücknahme setzt daher voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Hinreichend konkrete Zweifel an einem Fortbestand des Rechtsschutzinteresses können sich aus dem fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, aber auch daraus ergeben, dass er prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt hat. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an einer weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen
28- vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 7. Juli 2005 - 10 BN 1.05 -, juris, Rn. 4, und vom 12. April 2001 - 8 B 2.01 -, juris, Rn. 5, jeweils m. w. N -
29und als Ausnahme verstanden werden von dem Grundsatz, dass ein Kläger das von ihm eingeleitete Verfahren auch durchführen will.
30Vgl. auch OVG Sachsen, Urteil vom 8. Juni 2015 - 1 A 73/15 -, juris.
31Die Norm darf dabei weder als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten gedeutet oder eingesetzt werden noch stellt sie ein Hilfsmittel zur Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen dar.
32Vgl. zur Rücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. September 2012 - 1 BvR 2254/11 -, juris, Rn. 28, und BVerwG, Beschl. v. 12. April 2001 - 8 B 2.01 -, juris, Rn. 5 a. E.
33Was vom Kläger insoweit verlangt wird, hängt wiederum von den Umständen des Einzelfalles ab. Von Bedeutung sind zum einen die Gründe, die zum Erlass der Betreibensaufforderung geführt haben, zum anderen deren Inhalt, d. h. die vom Kläger konkret erbetenen Verfahrenshandlungen.
34Vgl. auch Clausing, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 41. EL Juli 2021, § 92 VwGO, Rn. 58.
35b. Nach diesen Maßstäben bestanden im vorliegend zu entscheidenden Einzelfall keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Zwar bestanden durch die Mitteilung einer nicht am Verfahren beteiligten Behörde, nämlich der Ausländerbehörde des Kreises Unna, dass der Kläger am 17. Februar 2021 zuletzt in der Zentralen Unterbringungseinrichtung gewesen sei, grundsätzlich Verdachtsmomente, die geeignet waren, Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis des Klägers hervorzurufen. Diese Verdachtsmomente wurden jedoch offenkundig noch während des Laufs der Frist zum Betreiben des Verfahrens durch dieselbe Behörde wieder ausgeräumt. Dies ist den Beteiligten auch durch das Gericht zur Kenntnis gebracht worden, so dass insbesondere der Kläger davon hat ausgehen dürfen, dass sich die Betreibensaufforderung erledigt hatte.
362. Der Bescheid des Bundesamts vom 15. Oktober 2019 ist - soweit er streitbefangen ist - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
37Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.
38Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.
39a. Als Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids kommt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht in Betracht. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
40Diese Vorschrift kann für den Fall des Klägers nicht zur Anwendung kommen.
41Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt worden ist - dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 GRCh bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren.
42Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 ‑ C‑540 und 541/17 (Hamed und Omar) ‑, juris; ferner bereits EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) ‑, juris, Rn. 81 bis 97, und vom 19. März 2019 ‑ C‑297/17 u. a. (Ibrahim) ‑, juris, Rn. 83 bis 94.
43Für die Anwendbarkeit des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32/EU nimmt der EuGH einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh an, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
44Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können.
45Ausgehend hiervon kann der Asylantrag nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden, weil dem Kläger zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können.
46Der Senat hat mit rechtskräftigen Urteilen vom 21. Januar 2021 aufgrund der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse ausgeführt, dass Asylanträge von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten grundsätzlich nicht als unzulässig abgelehnt werden dürften, weil international Schutzberechtigte nach ihrer Rückkehr nach Griechenland regelmäßig schon keinen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft erhielten, sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern versorgen könnten, sie keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen hätten, mit deren Hilfe sie dort ihr Existenzminimum sichern könnten, und auch die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen (im Folgenden: NGOs) sie in Griechenland nicht in die Lage versetzten, dort ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
47Vgl. grundlegend OVG NRW, Urteile vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A und 11 A 2982/20.A -, juris; so auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Januar 2022 - A 4 S 2443/21 -, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2021 - OVG 3 B 54.19 -, juris; OVG Bremen, Urteil vom 16. November 2021 - 1 LB 371/21 -, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 19. April 2021 - 10 LB 244/20 -, juris.
48An dieser Einschätzung hält der Senat unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage fest. Die Verhältnisse in Griechenland haben sich seither nicht verbessert, so dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Griechenland dort unabhängig von seinem Willen eine Verelendung droht.
49aa. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Obdachlosigkeit.
50(1) International Schutzberechtigte erhalten nach ihrer Rückkehr nach Griechenland regelmäßig schon keinen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft.
51(a) Eine staatliche Unterstützung in Form einer Zuweisung von Wohnraum existiert weiterhin nicht. In Griechenland gibt es keine staatlichen Sozialwohnungen. International Schutzberechtigte müssen sich Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt beschaffen, wobei das private Anmieten von Wohnraum für bzw. durch anerkannte Schutzberechtigte durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte und Studenten sowie gelegentlich durch Vorurteile erschwert ist.
52Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 33 m. w. N.; Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 3.
53Darüber hinaus könnten die meisten Schutzberechtigten aufgrund des Mangels an erschwinglichen Immobilien und der hohen Nachfrage, insbesondere in Attika, keine Mietwohnungen finden.
54ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 16.
55(b) Der Wohnraum des Hilfsprogramms „ESTIA“ (Emergency Support To Integration & Accommodation) des UNHCR und der Europäischen Union (im Folgenden: EU) ist für die Unterbringung von Asylbewerbern, nicht aber für Schutzberechtigte vorgesehen. Nach dem ab dem 1. Januar 2020 in Kraft getretenen griechischen Asylgesetz müssen alle anerkannten Schutzberechtigten unmittelbar ab dem Zeitpunkt der Anerkennung der Schutzberechtigung die Unterkünfte für Asylbewerber (etwa die des Hilfsprogramms „ESTIA“) verlassen. Dabei gab es zunächst einmalig eine Übergangsfrist von zwei Monaten.
56Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 35 m. w. N.; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 245.
57(c) Zielgruppe des Anfang September 2019 durch die EU finanzierten „Helios-2-Programms“ (Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection) sind international Schutzberechtigte mit einer Anerkennung ab dem 1. Januar 2018, wobei Schutzberechtigte mit einer Anerkennung ab dem 1. Januar 2019 und nach einer Übergangsfrist von sechs Monaten im Hilfsprogramm „ESTIA“ bevorzugt werden. Die Maßnahme richtet sich an die Personengruppe, die Unterkünfte für Asylbewerber (Wohnungen im Rahmen des Hilfsprogramms „ESTIA“ oder Aufnahmelager) bisher noch nicht verlassen musste. Das Programm sieht pro Halbjahr für maximal 5.000 Personen eine Wohnungsbeihilfe vor; die Schutzberechtigten sollen grundsätzlich selbst eine Wohnung ihrer Wahl anmieten und als Mieter einen Mietvertrag abschließen.
58Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 35 m. w. N.; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 246.
59Einer Förderung stehen jedoch zum einen tatsächliche Hindernisse entgegen. Bedingung für die Auszahlung der Wohnungsbeihilfe ist u. a. ein bereits abgeschlossener Mietvertrag mit einer Laufzeit von mehr als sechs Monaten. Zum anderen werden die Zuschüsse nur rückwirkend ausgezahlt. Das bedeutet, dass Schutzberechtigte bereits eine Wohnung gefunden und in der Praxis auch die erste Monatsmiete sowie die Mietkaution aus eigenen Mitteln bezahlt haben müssen.
60Vgl. Stiftung Pro Asyl und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 8; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 15 f.
61(d) Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl an obdachlosen Menschen in Athen startete die Internationale Organisation für Migration (IOM) im September 2020 ein Pilotprojekt namens „FILOXENIA-INTEGRATION“, um Schutzberechtigte von den griechischen Inseln für einen Zeitraum von zwei Monaten notdürftig in Hotels unterzubringen. Bis Ende 2020 wurden insgesamt 1.838 international Schutzberechtigte in Hotels untergebracht. Das Projekt lief aber im Februar 2021 aus. Die betroffenen Menschen mussten die Hotels verlassen und wurden erneut obdachlos. Insgesamt umfasste das Filoxenia-Projekt mehr als 6.000 Personen, die seitdem ohne Unterkunft sind.
62ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 17; Stiftung Pro Asyl und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 6 f.; Redaktionsnetzwerk Deutschland, Ziel Deutschland: Flüchtlinge fliehen vor Obdachlosigkeit und Armut in Griechenland, 7. März 2021; Mobile Info Team, The Living Conditions of Applicants and Beneficiaries of International Protection, Februar 2021, S. 17 f.
63(e) International Schutzberechtigte haben Zugang zu Unterbringungseinrichtungen für Obdachlose, die jedoch nur begrenzt vorhanden sind. Eigene Unterbringungsplätze für anerkannte Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte existieren nicht. Es gibt auch keine eigene Unterstützung für ihre Lebenshaltungskosten. In Athen gibt es vier Asyle für Obdachlose (zugänglich für griechische Staatsbürger und legal aufhältige Drittstaatsangehörige). Es ist äußerst schwierig, dort zugelassen zu werden, da sie chronisch überfüllt sind und Wartelisten führen. Personen, die keine Unterkunft haben und nicht das Geld besitzen, eine zu mieten, leben oft in überfüllten Wohnungen, verlassenen Häusern ohne Zugang zu Strom und/oder Wasser oder werden obdachlos.
64OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 37 m. w. N.; s. auch Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 247; Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 3.
65Der Zugang zu den Obdachlosenunterkünften ist zudem durch eine Reihe von Kriterien eingeschränkt. Die meisten Unterkünfte nehmen aufgrund des Mangels an Dolmetschern nur griechisch- oder englischsprachige Personen auf. Die staatlichen Unterkünfte verlangen aktuell die Vorlage einer Steueridentifikationsnummer (AFM), eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung sowie medizinische Gutachten, einschließlich eines negativen COVID-19-Tests.
66Stiftung Pro Asyl und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S 11; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 19.
67(f) Die Zahl der durch NGOs punktuell angebotenen Unterkünfte ist insgesamt nicht ausreichend. Diese Stellen arbeiten mit Bedürftigen direkt und unmittelbar zusammen. Bedürftige können sich nach Ankunft in Griechenland unmittelbar an die vorgenannten Organisationen wenden.
68OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 39 m. w. N.
69Viele NGOs haben ihre Hilfen eingestellt. Die Organisationen Greek Council for Refugees, Solidarity Now, Arsis und PRAKSIS bieten derzeit keine Wohnungen oder Wohnunterstützung für Schutzberechtigte abgesehen von HELIOS an.
70Stiftung Pro Asyl und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S 10 m. w. N.; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 18.
71(g) In Griechenland sind zahlreiche international Schutzberechtigte obdachlos.
72Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 41 m. w. N.
73Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse ist der Senat auch weiterhin der Überzeugung, dass Obdachlosigkeit ein unter anerkannten Schutzberechtigten verbreitetes Phänomen darstellt.
74Vgl. allgemein Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 247; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 18 m. w. N.; United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, S. 24; Stiftung PRO ASYL und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 5; Mobile Info Team, The Living Conditions of Applicants and Beneficiaries of International Protection, Februar 2021; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Griechenland, Versorgungslage von alleinstehender Schutzberechtigter (sic) mit Kind, 10. August 2021, S. 9; Die Presse, Griechenland bei Integration stärker in Pflicht nehmen, 9. Juli 2021, unter Berufung auf die Caritas; Redaktionsnetzwerk Deutschland, Ziel Deutschland: Flüchtlinge fliehen vor Obdachlosigkeit und Armut in Griechenland, 7. März 2021; a. A. VG München, Urteil vom 6. Dezember 2021 - M 32 K 18.31577 -, juris, Rn. 21 ff.
75(aa) Bereits im Sommer 2020 haben hunderte anerkannte Flüchtlinge in Athen auf der Straße gelebt. Trotz zahlreicher Warnungen der griechischen Zivilgesellschaft und des UNHCR sind infolge der (oben bereits dargestellten) Änderung des Asylgesetzes 11.237 Menschen aufgefordert worden, ihre Unterkünfte am 1. Juni 2020 zu verlassen.
76OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 45 m. w. N.
77Die griechische Regierung setzte die Änderung seit Juni 2020 durch. Es gab vereinzelt, insbesondere bei Personen ohne besonderen Schutzbedarf, z. B. allein reisenden Männern, auch Räumungen durch die Polizei. Letztlich verließen die meisten Betroffenen ihre Wohnungen nach nachdrücklicher Aufforderung.
78Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 1, 3 unter Hinweis auf Gespräche mit dem IOM und Mitarbeitern von Unterkünften.
79Mehrere Quellen berichten im Juli 2021 von anerkannten Flüchtlingen, die, nachdem sie die Unterkünfte verlassen mussten, auf der Straße gelebt hätten.
80ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 18 m. w. N.; United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, S. 24; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 247.
81(bb) Trotz Aufhebung von räumlichen Aufenthaltsbeschränkungen bleiben anerkannt Schutzberechtigte teilweise freiwillig - illegaler Weise - in den Erstaufnahmeeinrichtungen auf den Ägäischen Inseln. So soll derzeit etwa ein Drittel der Bewohner des Empfangs- und Identifikationszentrums (RIC) Mavrovouni bei Kara Tepe anerkannte Schutzberechtigte sein. Im Oktober 2020 kehrten täglich 20 bis 30 anerkannte Flüchtlinge, die Lesbos im Jahr zuvor verlassen hatten, auf die Insel zurück, da sie anderenorts keine Möglichkeiten zu bleiben gesehen hätten. Im September 2020 sind schätzungsweise 400 Personen zurückgekehrt, und kamen entweder bei auf der Insel lebenden Landsleuten unter oder kehrten in die ausgebrannten Gebiete Morias zurück, wo sie Hütten errichteten oder verlassene Hütten nutzten.
82Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 2; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 19; Die Presse, Griechenland bei Integration stärker in Pflicht nehmen, 9. Juli 2021.
83(cc) Viele Schutzberechtigte leben außerhalb formeller Unterbringungszentren oder Programme, wie die vielen besetzten Häuser in griechischen Städten, insbesondere in der Umgebung von Athen, belegen. Seit dem Jahr 2019 werden diese besetzten Häuser zunehmend von der Polizei durchsucht und zwangsweise geräumt.
84Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 3; s. auch Mobile Info Team, The Living Conditions of Applicants and Beneficiaries of International Protection, Februar 2021, S. 12.
85(dd) Insbesondere bei Überstellung aus dem EU-Ausland bleibt Schutzberechtigten oft keine andere Möglichkeit als auf der Straße zu leben. Eine RSA-Studie über Personen mit internationalem Schutzstatus fand viele Fälle von Menschen, die keine andere Wahl hatten, als auf der Straße zu schlafen, nachdem sie aus anderen EU-Mitgliedstaaten nach Griechenland zurückgebracht worden waren. In Bezug auf Wasser, Nahrung und sanitäre Einrichtungen waren sie auf sich allein gestellt. Bei der Wiedereinreise nach Griechenland erhielten sie keine Informationen oder Unterstützung.
86Stiftung PRO ASYL und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 5; Mobile Info Team, The Living Conditions of Applicants and Beneficiaries of International Protection, Februar 2021, S. 23.
87(ee) Soweit die deutsche Botschaft in Athen unter Bezugnahme auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 6. Dezember 2018 an das VG Stade (Az. 10 A 1632/18) darauf hinweist, dass statistische Daten nicht vorhanden seien, Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen in Athen aber „kein augenscheinliches Massenphänomen“ darstelle, ergibt sich hieraus nichts Abweichendes. Diese Aussage bezieht sich nur auf die Situation in der Hauptstadt Athen. Weiter heißt es in dem Bericht, an manchen Örtlichkeiten insbesondere in Athen seien wiederkehrend Personen mit Migrationshintergrund, griechische Staatsangehörige aus verschiedenen sozialen Milieus, aber auch Angehörige der Sinti und Roma auf Straßen und Plätzen aufzufinden. Dies umfasse unter anderem auch Personen, die nach ihrer Anerkennung als Schutzberechtigte ihre bisherigen Unterkünfte hätten verlassen müssen. Mehrfach seien Personen durch Sicherheitskräfte von dort dann in staatliche Flüchtlingseinrichtungen (Elaionas, Skaramangas, Schisto, zuletzt auch Amygdaleza) gebracht worden. Es erscheine sehr schwierig, die Situation der Obdachlosigkeit in einer griechischen Großstadt oder gar im ganzen Land mittels persönlichen Beobachtungen belastbar einzuschätzen, zumal es vermutlich auch nicht sichtbare Obdachlosigkeit gebe.
88Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 2 f.
89Daraus ergeben sich keine konkreten Informationen, die den Befund der o. g. Erkenntnisse in Frage stellen könnten.
90(2) Mit Blick auf diese Erkenntnisse ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Griechenland eine Unterkunft bekommen kann. Dem Kläger wird es dort weder möglich sein, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden noch zu finanzieren. In Wohnungen oder Unterkünften des für Asylbewerber vorgesehenen Hilfsprogramms „ESTIA“ kann er als bereits anerkannter Schutzberechtigter nicht unterkommen. Da dem Kläger vor dem 1. Januar 2018 internationaler Schutz zuerkannt worden ist und er auch weder aus einer Unterkunft des „ESTIA“-Hilfsprogramms noch aus einem Aufnahmelager heraus eine Wohnung oder Unterkunft sucht, zählt er von vornherein nicht zu der Personengruppe, die eine Unterstützung durch das „Helios-2“-Programm erfahren könnte. Es erscheint auch ausgeschlossen, dass er in einer durch NGOs zur Verfügung gestellten Wohnung oder Unterkunft oder einer Unterkunft für Obdachlose unterkommen kann. Der Kläger kann auch nicht auf „informelle Möglichkeiten“ der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden, denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden wäre zum einen illegal und zum anderen wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände unzumutbar.
91bb. Der Kläger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland ferner nicht in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.
92(1) Grundsätzlich haben international Schutzberechtigte in Griechenland Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine legale Beschäftigung aufzunehmen, ist jedoch erschwert. Voraussetzung ist das Vorliegen einer Steuernummer, einer Sozialversicherungsnummer und die Eröffnung eines Bankkontos, was sehr viele Schutzberechtigte faktisch vom Arbeitsmarkt ausschließt.
93Schweizerische Flüchtlingshilfe, Griechenland als sicherer Drittstaat, 27. August 2021, S. 6 f.
94Auch im Übrigen sind die Chancen zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes gering.
95Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 65 ff. m. w. N.; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Griechenland, Versorgungslage von alleinstehender Schutzberechtigter (sic) mit Kind, 10. August 2021, S. 3, wonach es „beinahe aussichtslos“ sei, Arbeit zu finden.
96Die Corona-Pandemie hatte im Jahr 2020 erhebliche negative Auswirkungen auf die Wirtschaftslage in Griechenland, insbesondere durch einen Einbruch im Tourismussektor. Zwar hat sich die griechische Wirtschaft von den negativen Auswirkungen der Pandemie inzwischen erholt.
97Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 72 m. w. N.; Redaktionsnetzwerk Deutschland, Griechische Wirtschaft lässt die Corona-Rezession hinter sich, 8. Dezember 2021; OECD, Economic Outlook Greece, 2021, S. 130; Tagesschau, Griechische Wirtschaft, Kommt der Aufschwung für alle?, 16. September 2021; GTAI, Wirtschaftsausblick Griechenland, 22. Dezember 2021; GTAI, Wirtschaftsdaten kompakt, Griechenland, November 2021; Statista, Griechenland: Arbeitslosequote von 1980 bis 2020 und Prognosen bis 2026.
98Gleichwohl ist die Staatsverschuldung immer noch mit Abstand die höchste aller EU-Staaten. Das Land leidet immer noch unter den Folgen der zehnjährigen Schuldenkrise. In den Krisenjahren verlor Griechenland 28 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. 2017 kehrte Griechenland zwar zum Wachstum zurück, aber die Pandemie hat das Land wieder zurückgeworfen. Trotz des starken Wachstumsschubs dieses Jahres liegt das BIP immer noch ein Viertel niedriger als 2008 vor der Finanzkrise. Griechenland weist mit einer für das Jahr 2022 prognostizierten Arbeitslosenquote von 14,65 % noch immer eine der höchsten Arbeitslosenquoten in der EU auf. Die Konkurrenzlage auf dem griechischen Arbeitsmarkt gestaltet die Arbeitssuche für anerkannte Schutzberechtigte äußert schwierig. Ihre Möglichkeiten, (auch nur) Hilfsarbeitertätigkeiten aufzunehmen, sind marginal. Drittstaatsangehörige sind in den statistischen Daten zur Arbeitslosigkeit nach wie vor klar überrepräsentiert.
99Vgl. RND, Griechische Wirtschaft lässt die Corona-Rezession hinter sich, 8. Dezember 2021. Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 6; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Griechenland, Versorgungslage von alleinstehender Schutzberechtigter (sic) mit Kind, 10. August 2021, S. 3; ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26. August 2021, S. 25; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 248.
100(2) Angesichts der sich aus diesen Erkenntnissen und Informationen ergebenden derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in Griechenland ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr keine Arbeit finden würde, die es ihm gestattete, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Er verfügt weder über spezifische berufliche Qualifikationen, noch über Kenntnisse der griechischen Sprache oder private Netzwerke.
101cc. Der Kläger wird im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe er dort sein Existenzminimum sichern könnte.
102(1) Anerkannte Schutzberechtigte haben in Griechenland grundsätzlich Anspruch auf Sozialleistungen, wie z. B. die soziale Grundsicherung, die Arbeitslosenversicherung, das Wohngeld oder die Elternprämie.
103Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 77 ff. m. w. N.; Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 5; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 250; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Griechenland, Versorgungslage von alleinstehender Schutzberechtigter (sic) mit Kind, 10. August 2021, S. 3; Stiftung PRO ASYL und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 11.
104In der Praxis haben sie jedoch Schwierigkeiten beim Zugang zu den Rechten, die sie faktisch von der Inanspruchnahme ausschließen. In Griechenland ist der Zugang zu Sozialleistungen sowie zur öffentlichen Gesundheitsversorgung von der Vorlage zahlreicher behördlicher Dokumente und der Erfüllung weiterer Voraussetzungen abhängig. Die Ausstellung der Dokumente ist an hohe Voraussetzungen geknüpft und teils wechselseitig vom Vorhandensein weiterer Dokumente abhängig. Dies stellt international Schutzberechtigte in der Praxis vor enorme Hürden. In der Folge sind sie oftmals nicht in der Lage, die erforderlichen Dokumente zu erhalten. Die Leistungen hängen zudem von einem mehrjährigen legalen Aufenthalt ab, der wiederum durch entsprechende Dokumente, etwa eine Steuererklärung, nachzuweisen ist.
105Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 5; Asylum Information Database (AIDA), Country Report: Greece – 2020 Update, S. 250 f.; BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Griechenland, Versorgungslage von alleinstehender Schutzberechtigter (sic) mit Kind, 10. August 2021, S. 3; Stiftung PRO ASYL und RSA, Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 11.
106(2) Ausgehend von diesen Erkenntnissen besteht für den Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland keine Möglichkeit, staatliche Sozialleistungen zu erlangen, mit denen er sein Existenzminimum sichern könnte, weil er die oben genannten Voraussetzungen, insbesondere mangels eines langjährigen legalen Aufenthalts, ersichtlich nicht erfüllen kann.
107dd. Auch die Unterstützung von NGOs setzt den Kläger in Griechenland nicht in die Lage, dort seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
108Die Unterstützung der NGOs ist zwar von überragender Bedeutung für Flüchtlinge und Migranten. NGOs können aber nicht flächen- und bedarfsdeckend unterstützen, sondern nur ein „elementares Auffangnetz gegen Hunger und Entbehrungen“ bieten.
109OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 93 f. unter Hinweis auf VG Aachen, Urteil vom 6. Mai 2020 - 3 A 19/18 -, juris, Rn. 156 ff. m. w. N., s. auch Deutsche Botschaft Athen, Unterbringung und Sicherung des Existenzminimums anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, Juni 2021, S. 3 f.
110b. Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist verfrüht ergangen, weil das Bundesamt nach Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung verpflichtet ist, den Asylantrag des Klägers materiell zu prüfen und sodann über Abschiebungsverbote zu entscheiden. Die auf § 35 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag des Klägers mit Blick auf die zuvor getroffenen Feststellungen nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids. Die Anordnung der Aussetzung der Vollziehung in Ziffer 5. des Bescheids ist angesichts der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
111Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
112Die Revision war nicht zuzulassen, weil die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe nicht vorliegen.