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Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
2Der Kläger wurde nach eigenen Angaben am 9. November 1997 in der Russischen Föderation geboren und ist russischer Staatszugehörigkeit.
3Bereits im Juli 2000 hatte der Kläger bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag gestellt, der nach den Angaben des Bundesamts mit Bescheid vom 10. Oktober 2001 abgelehnt wurde. Der Kläger habe eine bis zum 22. Januar 2007 gültige Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 1 und 2 AufenthG bekommen. Am 6. Februar 2007 sei ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden, die am 4. Juni 2009 erloschen sei. Am 4. Dezember 2008 sei er in der Bundesrepublik Deutschland als unbekannt verzogen gemeldet worden.
4Im Juni 2016 und im August 2017 beantragte der Kläger bei der Deutschen Botschaft in Moskau mit der Angabe, er wolle studieren bzw. als Profisportler arbeiten, jeweils erfolglos die Erteilung eines Visums für die Bundesrepublik Deutschland. Im Mai 2019 erhielt er ein Visum der Republik Italien für die Schengen-Staaten.
5Nach seinen Angaben reiste er damit Mitte Mai 2019 von Moskau mit dem Flugzeug über Italien in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er habe im Mailänder Flughafen übernachtet und sei von dort, ohne Fingerabdrücke abzugeben oder einen Asylantrag zu stellen, nach Köln geflogen. Am Flughafen habe seine Schwester ihn abgeholt. Seine Mutter und zwei weitere Geschwister, die Kläger im Verfahren 11 A 1497/21.A, seien im August nachgekommen.
6Am 15. Oktober 2019 stellte der Kläger beim Bundesamt einen weiteren Asylantrag. Gegenüber dem Bundesamt gab er u. a. an, Italien kenne er nicht. In Deutschland habe er dagegen früher schon gelebt. Sein letzter Wohnort sei P. gewesen. Das sei entweder in Tschetschenien oder in Inguschetien. Er habe etwa ein Jahr lang eine Islamschule besucht. Eine „normale“ Schule habe er nicht absolviert, weil er die Sprache nicht gut gesprochen habe. Er könne nicht lesen und schreiben.
7Ein am 21. Oktober 2019 bei den italienischen Behörden eingegangenes Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts blieb unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 23. Dezember 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien (Ziffer 3) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes an und befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
9Am 30. Dezember 2019 hat der Kläger Klage erhoben.
10Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
11die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Dezember 2019 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
12hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
13hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
14Die Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 25. März 2021 - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 1. April 2021 - abgewiesen.
17Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor: In Italien drohe ihm ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh. Es bestehe die ernsthafte Gefahr, dass er über einen längeren Zeitraum obdachlos sein werde. Asylsuchende bekämen in Italien keine Wohnung zugewiesen, sondern würden unzureichend in Lagern untergebracht. Der Hessische VGH habe mit Beschluss vom 11. Januar 2021 - 3 A 539/20.A - entschieden, dass einer Familie, die in Italien internationalen Schutz erhalten und sich aus der ihr dort zugewiesenen Unterkunft entfernt habe, mit einer Rückführung in die Obdachlosigkeit entlassen werde. Auch wenn dieser Beschluss eine anerkannt schutzberechtigte Familie betreffe, die eine zugewiesene Unterkunft verlassen habe, bleibe es bei der Aussage, dass zurückgeführten Asylbewerbern Obdachlosigkeit drohe. Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien wiesen - insbesondere in Folge der im Jahr 2018 unter dem Innenminister Salvini verabschiedeten Gesetzesänderungen - systemische Schwachstellen auf. Im Übrigen lehne Italien die Übernahme nach dem Dublin-Verfahren regelmäßig ab. Durch eine solche Ablehnung werde das Asylverfahren unzumutbar verzögert. Zudem könne der Kläger wegen der COVID-19-Pandemie nicht nach Italien überstellt werden. Das Abschiebeverfahren werde bis auf weiteres wegen Unmöglichkeit auszusetzen sein. Die Frage, ob eine solche Aussetzung vom Anwendungsbereich des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO erfasst sei, habe das Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Schließlich sei die Frist für eine Überstellung des Klägers nach der Dublin-III-Verordnung bereits abgelaufen.
18Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
19die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25. März 2021 und unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 23. Dezember 2019 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
20hilfsweise ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
21weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen,
22vorsorglich hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag neu zu entscheiden.
23Die Beklagte beantragt,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört worden.
26Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte - insbesondere auf die Schriftsätze des Klägers vom 21. Juni 2021 und 20. Mai 2022 - sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen.
27II.
28A. Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a VwGO).
29B. Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
30I. Die Klage ist mit dem Hauptantrag als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO zulässig, soweit der Kläger mit seinem Hauptantrag die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 23. Dezember 2019 begehrt. Im Übrigen sind der Hauptantrag sowie der erste und dritte Hilfsantrag unzulässig, denn die isolierte Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart, wenn ein Asylbewerber die Aufhebung einer Entscheidung über die Unzuständigkeit Deutschlands für die Prüfung seines Asylantrags nach den unionsrechtlichen Regelungen der Dublin-Verordnung begehrt.
31Vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 -, NVwZ 2016, 154 = juris, Rn. 13 f., und vom 16. November 2015 ‑ 1 C 4.15 -, DVBl. 2016, 313 = juris, Rn. 9, sowie Beschluss vom 12. Januar 2016 ‑ 1 B 64.15 -, juris, Rn. 2; OVG NRW, Urteile vom 16. September 2015 - 13 A 800/15.A -, juris, Rn. 22 ff., und vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, DVBl. 2014, 790 = juris, Rn. 31.
32Der zweite gegen Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids und auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG gerichtete Hilfsantrag ist als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1, 2. Var. VwGO zulässig.
33II. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
34Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.
35Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.
361. Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt. Nach der Dublin III-VO ist Italien für das Asylverfahren des Klägers zuständig.
37a) Die Zuständigkeit Italiens folgt aus Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO. Danach ist für das Asylverfahren eines Antragstellers mit einem gültigen Visum der Mitgliedstaat zuständig, der das Visum erteilt hat. Der Kläger verfügte zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags am 15. Oktober 2019 (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO) über ein gültiges Visum der Republik Italien.
38Dass der Kläger bereits im Jahr 2000 einen Asylantrag in der Bundesrepublik gestellt hatte, ist unerheblich. Der nunmehr gestellte Asylantrag gilt nach Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 i. V. m. UAbs. 1 Dublin III-VO als neuer Asylantrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates auslöst, weil der Kläger das Gebiet der Mitgliedstaaten nach der Antragstellung im Jahr 2000 für mindestens drei Monate verlassen hat.
39b) Die Zuständigkeit ist nicht nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO wegen Verstreichens der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach dieser Vorschrift erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat.
40Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs erfolgte vorliegend - da Italien darauf nicht reagierte - mit dem Ablauf der Fiktionsfrist von zwei Monaten nach Zugang des Wiederaufnahmegesuchs (21. Oktober 2019), vgl. Art. 22 Abs. 1 und Abs. 7 Dublin III-VO, sodass Fristbeginn der 21. Dezember 2019 war. Die sechsmonatige Überstellungsfrist endete damit grundsätzlich am 21. Juni 2020. Vor Ablauf der Überstellungsfrist hat der Kläger Klage erhoben und gleichzeitig einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt. Auf diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. Mai 2020 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet. Nach Zustellung des klageabweisenden Urteils am 1. April 2021 dauerte die aufschiebende Wirkung gemäß § 80b Abs. 1 VwGO, § 78 Abs. 4 AsylG bis zum 1. August 2021 an. Die Überstellungsfrist war damit bis zum 1. Februar 2022 unterbrochen.
41Vor Neubeginn - nämlich mit Verfügung vom 10. Januar 2022 - hat das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO bis zum Abschluss des gegen diesen Bescheid anhängigen Rechtsstreits ausgesetzt. Damit ist die Überstellungsfrist erneut unterbrochen. Die Überstellungsfrist von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO) wird durch eine vor ihrem Ablauf verfügte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach § 80 Abs. 4 VwGO jedenfalls dann unionsrechtskonform unterbrochen, wenn diese im Einzelfalls aus sachlich vertretbaren Erwägungen erfolgt ist.
42Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 –, BVerwGE 164, 165 = juris, Rn. 18 ff.
43Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Für eine willkürliche oder missbräuchliche Entscheidung des Bundesamtes bestehen keine Anhaltspunkte. Nach dem Zulassungsbeschluss des Senats bestanden auch aus Sicht des Bundesamtes Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Mit der behördlichen Aussetzungsanordnung hat das Bundesamt der Sache nach lediglich (vorläufig) dem Rechtsschutzbegehren des Klägers, vor der endgültigen Klärung der internationalen Zuständigkeit nicht aus dem Bundesgebiet abgeschoben zu werden, entsprochen. Dieses Begehren hatte er zunächst selbst mit dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfolgt. Das mögliche Ziel, damit auch einen Zuständigkeitsübergang zu erwirken, wäre weder nach nationalem noch nach Unionsrecht schutzwürdig.
44c) Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann.
45Die Voraussetzungen sind nicht erfüllt, insbesondere ist kein Fall des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO gegeben. Nach dieser Vorschrift setzt der prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen.
46aa) Aufgrund des zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hat jeder Mitgliedstaat - abgesehen von außergewöhnlichen Umständen - davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin-III VO die Vermutung, dass die Behandlung Asylsuchender in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - sowie der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - steht.
47Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 81 f., und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 84 f.
48Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, jedoch ist die Widerlegung dieser Vermutung wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Dies wäre mit den Zielen und dem System der Dublin-III VO unvereinbar.
49Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 84 und 91 f.
50Art. 4 GRCh steht der Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in einen anderen Mitgliedstaat entgegen, sofern im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte festzustellen ist, dass sie in diesem Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
51Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo) -, Rn. 85 und 98.
52Dies gilt aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters des Art. 4 GRCh in allen Situationen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Asylsuchender bei oder infolge seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfährt. Dementsprechend ist es für die Anwendung des Art. 4 GRCh unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss zu einer solchen Behandlung kommt und ob systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen des Asylsystems in dem anderen Mitgliedstaat vorliegen,
53vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87, 88 und 90, und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 87,
54oder ob es unabhängig vom Vorliegen solcher Schwachstellen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt.
55Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019- C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87.
56Ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. den diesem entsprechenden Art. 3 EMRK liegt aber nur dann vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
57Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 ‑ 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32.
58Bereits ein relativ kurzer Zeitraum, während dessen sich eine Person in einer Situation extremer materieller Not befindet, reicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh zu begründen. Dabei ist auch zu beachten, dass den Rechten, die die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie) sowie die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie) Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, einräumen, die tatsächlichen Wirkungen genommen würden, wenn sie selbst während einer relativ kurzen Zeitspanne nicht mit einer Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse einhergingen.
59Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 78 f.
60bb) Ausgehend hiervon ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und das Bundesamt hat den hier gestellten Antrag zu Recht nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG als unzulässig abgelehnt.
61Dem Kläger droht zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rücküberstellung nach Italien nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger in Italien weder während des Asylverfahrens (dazu (1)) noch auf absehbare Zeit nach einer - nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
62vgl. dazu: EuGH, Urteil vom 19. März 2019 ‑ C‑163/17 (Jawo), dazu: BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2019 - 2 BvR 721/19 -, juris, Rn. 20 ff.,
63mit zu berücksichtigenden Zuerkennung des internationalen Schutzstatus (dazu (2)) unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, in der er seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht wird befriedigen können.
64(1) Mit Urteil vom 20. Juli 2021 hat der Senat entschieden, dass ein Kläger, der vor seiner Antragstellung in Deutschland einen Asylantrag in Italien gestellt hat, im Falle einer im Rahmen des Dublin-Verfahrens erfolgenden Rücküberstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und der damit verbundenen Versorgung haben wird, wenn die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 der Gesetzesverordnung („decreto legislativo“) Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 vorliegen. Danach kann der zuständige Präfekt die Aberkennung von Betreuungsmaßnahmen anordnen, wenn der Asylantragsteller/die Asylantragstellerin im zugeteilten Empfangszentrum nicht erscheint oder dieses ohne vorherige Mitteilung verlässt (Art. 23 Nr. 1a) oder wenn der Asylantragsteller/die Asylantragstellerin nicht zur Anhörung erscheint, obwohl er/sie darüber informiert worden ist (Art. 23 Nr. 1 b).
65Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 60 ff. m. w. N.
66An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
67Die Situation eines Klägers, der - wie hier - in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat und die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 der Gesetzesverordnung („decreto legislativo“) Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 nicht erfüllt, stellt sich dagegen anders dar. Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh besteht für ihn nicht. Die vorliegenden, im Internet allgemein zugänglichen Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, ein solcher Kläger werde während der Dauer des Asylverfahrens die elementaren Grundbedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in einer zumindest noch zumutbaren Weise befriedigen können.
68Es ist davon auszugehen, dass ein Kläger, der in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat und die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 der Gesetzesverordnung („decreto legislativo“) Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 nicht erfüllt, im Zuge der Rücküberstellung bei der Grenzpolizei einen förmlichen Asylantrag stellen kann,
69vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 29,
70der in einem ordnungsgemäßen Verfahren geprüft wird.
71Vgl. zum Asylverfahren im Einzelnen: SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 25 ff.; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 46 ff.
72Nach der Antragstellung wird er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entweder in einer Erstaufnahmeeinrichtung (CAS = centri di accoglienza straordinaria) oder - im Rahmen der zur Verfügung stehenden Plätze - in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (SAI = Sistema di accoglienza e di integratione) untergebracht werden.
73vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 54 ff., gestützt auf: Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 3, und SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 39 ff., sowie SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen, Ergänzung zum Bericht vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 10; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 100, www.asylumineurope.org; s. dazu auch Art. 4 des Gesetzesdekrets vom 18. Oktober 2020, abgedruckt in Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana vom 21. Oktober 2020, www.gazzettaufficiale.it; und hierzu auch EGMR, Urteil vom 23. März 2021 No. 46595/19, Rn. 33, https://hudoc.echr.coe.int.
74Italien verfügt grundsätzlich über ausreichende Unterbringungskapazitäten. Im Januar 2019 existierten bei rückläufiger Zahl der Asylanträge von 59.950 im Jahr 2018, 43.770 im Jahr 2019 und 26.535 im Jahr 2020,
75vgl. Europäisches Parlament, Zahl der Asylsuchenden und Flüchtlinge in der EU, https://www.europarl.europa.eu/infographic/welcoming-europe/index_de.html#filter=2020-it,
76insgesamt 173.603 Plätze in staatlichen Erst- und Zweitaufnahmeeinrichtungen.
77SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 24.
78Dass diese Kapazitäten derzeit aufgrund der in erheblicher Zahl in Italien eintreffenden Flüchtlinge aus der Ukraine,
79vgl. SFH, Auskunft an das Verwaltungsgericht Karlsruhe vom 29. April 2022, S. 4: bis März 2022 ca. 72.000,
80nicht ausreichten, wird nicht berichtet. Berichten zufolge kommen die ukrainischen Flüchtlinge überwiegend bei Verwandten und Freunden oder anderweitig privat unter. Darüber hinaus stellte der Katastrophenschutz Erstaufnahmeplätze für ukrainische Flüchtlinge zur Verfügung.
81Vgl. z.B. ZDF heute, Ukraine Flüchtlinge, Hilfsbereitschaft auf Italienisch, vom 20. März 2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/fluechtlinge-italien-ukraine-krieg-russland-100.html; RAI Tagessschau, 35.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Italien, vom 14. März 2020, https://www.rainews.it/tgr/tagesschau/articoli/2022/03/tag-fluechtlinge-ukraine-italien-draghi-786ba9a9-2fdd-420a-9900-a57e643b9ebe.html.
82Die Unterbringung ist regelmäßig für die Dauer des Asylverfahrens und eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens gewährleistet,
83Vgl. AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 106, www.asylumineurope.org,
84und stellt jedenfalls eine Minimalversorgung sicher,
85vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 39 ff., sowie SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Aktuelle Entwicklungen, Ergänzung zum Bericht vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 6 f.; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 138, www.asylumineurope.org; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 107 ff., www.asylumineurope.org.
86die eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. Auch der Zugang zum italienischen Gesundheitssystem ist jedenfalls für Asylsuchende, deren Asylantrag formell registriert ist („verbalizzazione“) und die mit der Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung über einen Wohnsitz verfügen, gewährleistet.
87Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 77 f.
88(2) Mit weiterem Urteil vom 20. Juli 2021 hat der Senat entschieden, dass ein Kläger, der vor seiner Weiterreise nach Deutschland in Italien bereits internationalen Schutz erhalten hat, im Falle einer Rücküberstellung auf sich selbst gestellt ist, und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Unterkunft - einer Zweitaufnahmeeinrichtung - und der damit verbundenen Versorgung haben wird, wenn er entweder die nach Art. 38 und 39 der im Anhang beigefügten Richtlinien („Allegato A: Linee guida per il funzionamento del sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“, im Folgenden: SIPROIMI-Richtlinien, abgedruckt in Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana vom 4. Dezember 2019, www.gazzettaufficiale.it) maximal vorgesehene Unterbringungsdauer bereits erreicht hatte oder nach Art. 40 dieser Richtlinie die Voraussetzungen für eine Entziehung des Rechts auf Unterkunft in einem SIPROIMI-Projekt erfüllt, insbesondere weil er in der zugewiesenen Unterkunft nicht vorstellig geworden oder sie ohne behördliche Erlaubnis für länger als 72 Stunden verlassen hat.
89Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 35, 40 ff.
90Ferner werde er in Italien innerhalb kurzer Zeit nach seiner Rückkehr, worauf es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach bereits eine kurzfristige Obdachlosigkeit die Schwelle des Art. 4 GRCh überschreitet,
91vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 78 f.,
92ankommt, auch keine andere menschenwürdige Unterkunft finden,
93vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 96 ff.;
94insbesondere werde er sich in Anbetracht der Situation auf dem italienischen Arbeitsmarkt jedenfalls nicht innerhalb kurzer Zeit aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern versorgen können,
95vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 102 ff.,
96keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen und keine seine elementaren Bedürfnisse befriedigende Unterstützung von Hilfsorganisationen erhalten.
97Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 137 ff.
98Auch an dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
99Die Situation eines Klägers, der - wie hier zu unterstellen - erst nach seiner Rücküberstellung in Italien als international schutzberechtigt anerkannt wird, stellt sich dagegen anders dar. Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh besteht für ihn nicht. Die vorliegenden, im Internet allgemein zugänglichen Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, ein solcher Kläger werde die elementaren Grundbedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in einer zumindest noch zumutbaren Weise befriedigen können.
100Es ist davon auszugehen, dass er nach Zuerkennung des internationalen Schutzstatus mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedenfalls für sechs Monate einen Platz in einer staatlichen Zweitaufnahmeeinrichtung erhält und damit nicht allein auf sich gestellt.
101In Italien anerkannte Schutzberechtigte haben seit dem Inkrafttreten des Gesetzes („legge“) Nr. 173/2020 vom 18. Dezember 2020, das das Gesetzesdekret („decreto legge“) Nr. 130/2020 vom 21. Oktober 2020 modifiziert und bestätigt hat (im Folgenden: Gesetz Nr. 173/2020), Zugang zum als „SAI“ bezeichneten Zweitaufnahmesystem. Das gesetzliche Regelwerk (Gesetz Nr. 173/2020, Art. 4) sieht vor, dass der Zugang zu den Zweitunterkünften „im Rahmen der verfügbaren Plätze“ erfolgt. Insofern steht Schutzberechtigten kein unbedingter Anspruch auf Zugang zum SAI-System zu, sondern es handelt sich um eine Möglichkeit der Unterbringung, die von weiteren Bedingungen abhängig ist. Neue Richtlinien zur Regelung des seit dem Gesetz Nr. 173/2020 geltenden SAI-Systems sind bisher nicht herausgegeben worden. Insofern sind weder hinsichtlich des Zugangs von Schutzberechtigten zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI, vormals SIPROIMI, davor SPRAR = Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati) noch hinsichtlich der Dauer der Unterbringung noch in Bezug auf den Verlust des Rechts auf Zugang zu diesen Einrichtungen Änderungen eingetreten. Anträge für eine Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (nunmehr des SAI-Systems, vormals SIPROIMI) müssen an den „Servizio Centrale“, einen vom Innenministerium eingesetzten Zentralservice, der von der nationalen Vereinigung der italienischen Gemeinden (ANCI) verwaltet wird, gerichtet werden. Die Anträge mit dem entsprechenden Formular werden hauptsächlich von der Präfektur oder der Questura, manchmal auch von Anwältinnen oder Anwälten, beim „Servizio Centrale“ eingereicht. Dieser beurteilt den Antrag und sucht - falls die Person, für die der Antrag gestellt wurde, ein Anrecht auf Unterkunft in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (des SAI-Systems/vormals SIPROIMI) hat - einen freien Platz in einem der Projekte. Wenn ein Platz frei ist, wird die Person sofort dort einquartiert. Der „Servizio Centrale“ ist der einzige Akteur, der einen Überblick über die Projekte und die freien Plätzen in den Projekten hat. Die freien Plätze ändern sich beinahe täglich und werden nicht öffentlich kommuniziert. Für „reguläre“ Fälle, über deren Asylgesuch positiv entschieden worden ist (neue Schutzstatusinhaber), stehen normalerweise Plätze zur Verfügung, ein Platz kann jedoch nicht garantiert werden. Es gibt keine Warteliste. Wenn ein Antrag auf Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (des SAI-Systems/vormals SIPROIMI) bewilligt worden ist und es keinen freien Platz gibt, wird diese Person nicht auf eine Warteliste gesetzt. Die Anwältin oder der Anwalt, die Questura oder Präfektur müssen einen Monat später einen neuen Antrag stellen, und dies so lange wiederholen, bis ein Platz für die jeweilige Person frei wird. In dieser Wartezeit steht der Person keine Unterkunft zur Verfügung.
102Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 39 ff. unter Verweis auf: Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 2 f.; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 39 ff., 54 f.; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Ergänzung zum Bericht vom Januar 2020, 10. Juni 2021, S. 10, https://www.fluechtlingshilfe.ch; AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 182 f., www.asylumineurope.org; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 8, m. w. N.; vgl. auch SFH, Auskunft an das Verwaltungsgericht Karlsruhe vom 29. April 2022, S. 3.
103Der für die SIPROIMI-Zweiaufnahmeeinrichtungen geltende Erlass („decreto“) des Innenministers vom 18. November 2019 sieht in Art. 38 Nr. 1 der SIPROIMI-Richtlinien vor, dass die Unterbringung in einem SIPROIMI-Projekt - vorbehaltlich der in dem nachfolgenden Artikel vorgesehenen Fälle - auf eine Dauer von sechs Monaten beschränkt ist. Ausweislich des Art. 39 Nr. 1 SIPROIMI-Richtlinien kann die Unterbringung um weitere sechs Monate verlängert werden, etwa wenn die weitere Unterbringung für die Integration unerlässlich ist oder außerordentliche Umstände wie Gesundheitsprobleme oder Vulnerabilitäten vorliegen. In Art. 39 Nr. 2 SIPROIMI-Richtlinien ist noch eine weitere Verlängerung um sechs Monate vorgesehen, falls anhaltende, angemessen dokumentierte Gesundheitsprobleme bestehen oder um ein Schuljahr zu beenden.
104Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 47 ff. unter Verweis auf SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht, Januar 2020, S. 55; und AIDA, Country Report: Italy-2020 Update, Juni 2021, S. 182 f., www.asylumineurope.org.
105Nach diesen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass nach Italien zurückgeführte Schutzsuchende auch nach einer Zuerkennung des internationalen Schutzstatus im Regelfall für (mindestens) sechs Monate Unterkunft in einer Zweitaufnahmeeinrichtung finden. Dass ein solcher Unterbringungsplatz nicht garantiert werden und in Einzelfällen eine Wartezeit entstehen kann, lässt nicht auf systemisch begründete Mängel des italienischen Aufnahmesystems schließen.
106Die Unterbringung für jedenfalls sechs Monate gibt gesunden, arbeitsfähigen Erwachsenen die Möglichkeit, Integrationsleistungen in Anspruch zu nehmen und sich auf dem italienischen Arbeits- und Wohnungsmarkt zurechtzufinden. Diese Übergangszeit unterscheidet die Situation eines „Dublin-Rückkehrers“, der in Italien vor seiner Weiterreise nach Deutschland noch keinen Asylantrag gestellt hatte und in Italien zunächst in einer Erst- sowie nach unterstellter Schutzgewährung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung untergebracht wird, von der Situation zurückgeführter Asylantragsteller oder international Schutzberechtigter, die ihr Recht auf Unterbringung im Erst- oder Zweitaufnahmesystem zwischenzeitlich verloren haben und deshalb bereits unmittelbar nach ihrer Rückführung auf sich allein gestellt sind.
107International Schutzberechtigte erhalten während der Unterbringung in den Zweitaufnahmeeinrichtungen (jetzt des SAI-Systems/vormals SIPROIMI) über einen Zeitraum von sechs Monaten integrationsfördernde Maßnahmen wie Sprachkurse und Weiterbildungen. Art. 5 des Gesetzes Nr. 173/2020 sieht zusätzliche Integrationsmaßnahmen vor, die am Ende des Aufnahmezeitraums im SAI-Netzwerk umgesetzt werden. Zu diesen Maßnahmen gehören Sprachkurse und eine Orientierung zur Arbeitsvermittlung. Die Angebote werden den zuständigen Verwaltungen im Rahmen ihrer jeweiligen personellen und finanziellen Ressourcen anvertraut.
108Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 104 ff. unter Verweis auf: Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 16 f., www.Raphaelswerk.de; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 10; Auskunft der SFH an OVG NRW vom 17. Mai 2021, S. 2.
109Personen mit internationalem Schutz können sich bei lokalen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer Registrierung u. a. über Stellenangebote informiert. Aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen in Italien ist es für international Schutzberechtigte schwer, Arbeit zu finden. Geringe Sprachkenntnisse und fehlende Qualifikationen oder Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen erschweren die Arbeitssuche zusätzlich. Schwarzarbeit ist sehr verbreitet. Viele Flüchtlinge arbeiten in der Landwirtschaft, z. B. in der saisonalen Erntearbeit, meist unter prekären Arbeitsbedingungen, und werden Opfer von Ausbeutung. Zudem hatte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage in den Jahren 2020 und 2021 weiter verschärft.
110Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 108 ff. unter Verweis auf: Raphaelswerk e. V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand: 06/2020, S. 16 f., www.Raphaelswerk.de; ACCORD, Auskunft an Hess. VGH vom 18. September 2020, S. 10.
111Derzeit ist die Situation weiter angespannt, wobei eine leichte Verbesserung erkennbar ist.
112Die Arbeitslosenquote in Italien betrug im Mai 2021 10,5%, für das Jahr 2021 insgesamt rund 9,5%. Die Jugendarbeitslosenquote lag im Mai 2021 bei 33,7%; für das Jahr 2021 insgesamt bei 29,7%.
113Vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 116 ff.; Statista, Internationale Länderdaten, Europa, https://de.statista.com; Wirtschaftskammer Österreich, Statistik, http://wko.at/statistik/extranet/bench/jarb.pdf.
114Im Mai 2022 betrug die Arbeitslosenquote 8,1%, für das Jahr 2022 insgesamt wird eine Quote von 9,36% prognostiziert. Die Jugendarbeitslosenquote lag im Mai 2022 - gegenüber dem Vorjahr deutlich verringert - bei 20,5%.
115Vgl. Statista, Internationale Länderdaten, Europa, https://de.statista.com.
116Insgesamt beginnt die italienische Volkswirtschaft, sich von den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu erholen. Das Vorkrisenniveau ist aber noch nicht wieder erreicht. Das nationale Statistikinstitut Istat zählt seit März 2020 535.000 neue Arbeitnehmer, von denen sich 97% in befristeten Arbeitsverhältnissen befinden.
117Vgl. Handelsblatt, vom 27. Mai 2022, https://www.handelsblatt.com/politik/international/arbeitsmarkt-in-spanien-und-italien-gibt-es-so-viele-jobs-wie-nie-doch-das-ist-nicht-nur-eine-gute-nachricht/28370868.html.
118Viele Arbeitsplätze stehen, selbst wenn sie legal vergeben werden, nur saisonal zur Verfügung. Die italienische Landwirtschaft, der Tourismus und die Gastronomie suchen Saisonkräfte. Im Juni 2022 wurden in diesen Branchen insgesamt rund 390.000 saisonale Arbeitskräfte gesucht.
119Vgl. ORF, Italien fehlen 100.000 Saisonarbeiter auf Feldern, vom 3. Juni 2022, https://orf.at/stories/3269437/.
120Nach Erkenntnisse der Europäischen Kommission besteht in Italien saisonunabhängig derzeit ein Bedarf an rund 43.000 ungelernten Arbeitskräften. Darüber hinaus gebe es freie Stellen vor allem für Ingenieure und Informatiker, im Handels- und Dienstleistungsbereich sowie für Facharbeiter und Anlagenführer. Die größte Nachfrage nach Arbeitskräften bestehe im Nordwesten und Nordosten des Landes.
121Vgl. EURES, Arbeitsmarktinformationen: Italien, https://ec.europa.eu/eures/public/living-and-working/labour-market-information/labour-market-information-italy_de, abgerufen am 9. Juli 2022.
122Damit stellt sich die Situation international Schutzberechtigter auf dem italienischen Arbeitsmarkt weiterhin als ausgesprochen schwierig dar.
123Vgl. auch: SFH, Auskunft an das Verwaltungsgericht Karlsruhe vom 29. April 2022, S. 10.
124Sie erweist sich aber, auch unter der Prämisse, dass international Schutzberechtigte nicht auf die Möglichkeit der Schwarzarbeit zu verweisen sind,
125vgl. OVG NRW, Urteile vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 137, und 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 136,
126nicht als derart aussichtslos, dass es Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wird, innerhalb der Übergangszeit von (mindestens) sechs Monaten, die ihnen mit der Unterbringung in einer Zweitaufnahmeeinrichtung zur Verfügung steht, unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen könnte, eine Beschäftigung zu finden, mit der sie ihre elementaren Bedürfnisse sichern können. Innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten besteht die realistische Möglichkeit, die im Rahmen des Zweitaufnahmesystems verfügbare Unterstützung bei der Integration in Anspruch zu nehmen, sich auf dem italienischen Arbeitsmarkt zu orientieren und bei landesweiter Suche eine Beschäftigung zu finden, die den Lebensbedarf jedenfalls einer alleinstehenden erwachsenen Person auf elementarem Niveau sichert.
127Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger diese Möglichkeit nach unterstellter Schutzgewährung nicht wird nutzen können, bestehen nicht. Er ist jung und arbeitsfähig. In Deutschland geht er - wie sich aus seinem Schriftsatz vom 20. Mai 2022 ergibt und trotz seiner Angabe gegenüber dem Bundesamt, nicht lesen und schreiben zu können - einer Vollzeitbeschäftigung nach. Auch dem italienischen Arbeitsmarkt kann er sich stellen und dort gegebenenfalls auch körperliche Arbeiten ausführen, die keiner Ausbildung bedürfen. Beeinträchtigungen seiner Leistungsfähigkeit hat er nicht geltend gemacht. Er ist alleinstehend und muss nur seinen eigenen Lebensunterhalt erwirtschaften.
1282. Auch Ziffer 2. des angegriffenen Bescheids ist rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nach den obigen Ausführungen nicht erfüllt. Aus diesem Grund ist auch die hilfsweise erhobene, auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gerichtete Verpflichtungsklage unbegründet.
1293. Die in Ziffer 3. des Bescheids enthaltene Abschiebungsanordnung ist nicht zu beanstanden. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung zeitnah tatsächlich nicht möglich oder rechtlich nicht zulässig sein könnte. Die Auffassung des Klägers, Überstellungen nach Italien könnten wegen der COVID-19 Pandemie nicht durchgeführt werden, ist nicht (mehr) richtig. Seit dem 15. Juni 2020 sind die zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie zwischenzeitlich ausgesetzten Überstellungen im Dublin-Verfahren schrittweise wieder aufgenommen worden.
130Vgl. BAMF, Wiederaufnahme der Überstellungen im Dublin-Verfahren, vom 15. Juni 2020; BT-Drs. 19/20299 vom 23. Juni 2020, S. 4.
1314. Schließlich ist auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 AufenthG (Ziffer 4. des Bescheids) rechtmäßig. Die Beklagte kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot grundsätzlich auf bis zu fünf Jahre befristen (§ 11 Abs. 3 AufenthG). Die Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung lässt Ermessensfehler nicht erkennen. Der Kläger hat hierzu auch nichts vorgetragen.
132C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
133Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.
134Die Revision war nicht zuzulassen, weil die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe nicht vorliegen.